Samstag, 2. Mai 2015

Die Unterscheidung von unserer Welt und meiner Welt gehört doch in die Transzendentalphilosophie.



Habe ich den Wald vor Bäumen nicht gesehen? Ist es trivialer, als ich dachte? Wollte er mit der Einführung der Begierde nur dem Umstand Rechnung tragen, dass das 'endliche' Vernunftwesen eben nicht nur vernünftig ist, sondern auch leidenschaftlich? Dass es Neigungen, Vorlieben und Begehrlichkeiten kennt, von denen die Vernunft nichts weiß? Kurz, dass die Vernünftigkeit der Menschen nicht nur endlich, sondern sogar begrenzt ist, dass sie zu Unserer Welt gehört und in der Meinen schlicht und einfach nichts zu sagen weiß?

In ästhetischen Angelegenheiten wie in allen Geschmacksdingen ist für Vernunfturteile kein Platz. So auch nicht in moralischen, denn Moralität ist nichts als "sittlicher Geschmack", wie Herbart* treffend formulierte. (Und übrigens auch nicht in erotischen). Ein Feld der Vernunft ist allerdings das Recht, und auch die Gerech- tigkeit ist nicht bloß Privatsache...

Die scheinbar harmlose Rede von den 'endlichen' Vernunftwesen ist aber tückisch. Es ist richtig, dass es keinen logisch hinreichenden Grund gibt, ein unendliches Vernunftwesen für unmöglich zu halten. Es reicht aber, wenn das einmal gesagt wird. Die ständige Wiederholung lässt indes die Nichtunmöglichkeit wie eine Wahr- scheinlichkeit oder gar eine Denknotwendigkeit erscheinen. Und da mag man heimlich im Hinterkopf mit der Idee einer unendlichen Vernunft spielen. Nicht "frag dich, was würde Jesus tun", sondern frag dich, wie würde eine unendliche Vernunft an deiner Stelle urteilen? Und plötzlich hat die Vernunft (im Hinterkopf) keine Grenze mehr: Was ich - ohne den Richtspruch der Vernunft einzuholen - darf, erscheint nun als das, was sie lediglich (noch?) nicht verboten hat.

- Das sind nun Mutmaßungen, die am Buchstaben des Textes nicht nachzuweisen sind. Aber aus der Luft gegriffen sind sie nicht. Tatsächlich geht Fichte von der Allzuständigkeit der Vernunft aus, oder richtiger: geht auf sie aus. Dass aus dem Totalitarismus des Vernunftzwecks durch eine Art logischer Rückkoppelung ein Totalitarismus des Vernunftgrundes wird, liegt nahe. Es wäre eine dogmatische Wendung des Transzendental- philosophen, doch die sollte Fichte schon kurze Zeit nach Abschluss der Wissenschaftslehre nova methodo aus- drücklich vollziehen.

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Von einer unendlichen Vernunft kann ein endlich Vernünftiger nichts wissen - und folglich nicht vernünftig darüber nachdenken. Die 'endliche' Vernunft ist jedenfalls eine begrenzte, nämlich in ihrer Zuständigkeit. Ihr Reich ist Unsere Welt, und Unsere Welt ist das Reich der Vernunft. Das Reich der Geschmäcker ist ihr nicht zugänglich.

Das heißt nun nicht, dass Unsere Welt ein Reich des größten Nutzens für die größte Zahl wäre. Wenn wir zwar einander nicht auf das Schöne und das Gute verpflichtet sind, so doch auf das Wahre. Dieses ist zwar selber eine Geschmackssache. Aber die darf ich jedem zumuten, der mit mir in einer Welt leben will: Sie hält mir beide Welten zusammen.

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Die Unterscheidung von unserer und meiner Welt gehört zur Transzendentalphilosophie, als ihre Grenze.

*) in Allgemeine praktische Philosophie (1808) in: SW Bd. 8, Hamburg 1890, S. 29






Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.

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