Sonntag, 9. Februar 2014

Die Wissenschaftslehre ist eine Anthropologie.



Die Wissenschaftslehre ist keine reelle, 'konstitutive' Theorie von Ursprung, Entwicklung und (ergo) Wesen des Bewusstseins. Sie ist ein transzendentales, 'regulatives' Schema, das das tatsächlich unter den Menschen vorkommende Bewusstsein (eigtl. Wissen) lediglich verständlich macht. -

Verstehen ist aber nicht theoretische Beschauung. Verstehen geschieht hinsichtlich einer Absicht. Die Wissenschaftslehre ist daher nicht eine Geschichte des Geistes, sondern seine pragmatische Geschichte;* eine, aus der man etwas lernen kann. Was lernen? Doch wohl, 'wie man ihn richtig betätigen soll'. 

Richtig in Hinblick worauf? Wiederum in Hinblick auf eine Absicht; worauf abgesehen wird, heißt ein Zweck. Das Wissen - Geist, Vernunft, Bewusstsein... - dient nicht diesem oder jenem Zweck, sondern dem obersten, letzten, dem Zweck der Zwecke.

Gibt es denn so etwas?

"Die Zweckmäßigkeit der Natur ist ... ein Begriff a priori, der lediglich in der reflektierenden Urteilskraft seinen Ursprung hat, deren Prinzip er ist. Denn den Naturprodukten kann man so etwas, als Beziehung der Natur an ihnen auf / Zwecke, nicht beilegen; sondern diesen Begriff nur brauchen, um über die Verbindung der Erscheinungen in ihr nach empirischen Gesetzen, zu reflektieren."**

Einen Naturzweck hat der pp. Geist also nicht. Hat er aber einen immanenten, in seinem Wesen, bevor es in Erscheinung trat, angelegten Zweck, an dem er gar nicht vorbeikann?



Fichte mindestens nimmt einen solchen an: Vom "Vernunftzweck" ist allenthalben die Rede. Wirklich erscheinen Vernunft und Vernünftigkeit überall als das - naturgemäß in sich weiter nicht bestimmbare - Absolutum der Wissenschaftslehre.

Absolutum, aber nicht Obiectivum: daran hält Fichte bis ans Ende fest.°  Richtigerweise, denn was wäre der harte Kern der Vernünftigkeit? Das Sittengesetz, was denn sonst. "Daß das Sittengesetz gar nicht so etwas ist, welches ohne alles Zutun in uns sei, sondern daß es erst durch uns selbst gemacht wird", heißt es aber in der Sittenlehre.*** Kein Reale, sondern ein Problem. Man kann es zu einem Postulat wenden. Dann heißt es Idee und ist immer nur, wenn ich ihr gemäß handle. Sie kann überhaupt nur als ein Suchen angeschaut werden.****

Wird der ganze Kreis der Wissenschaftslehre durchlaufen, findet sich: Die pragmatische Geschichte ist nicht weniger als das vollständige Programm einer Anthropologie. 

*) Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, SW Bd. I, S. 222   
**) Versuch eines erklärenden Auszugs [aus der 'Kritik der Urteilskraft'] GA II/1, S. 333f.;
***)System der Sittenlehre nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, SW Bd. IV, S. 192
****) m. a. W.: auf keinen Fall als ein Überfließen!


°) Nein, das hat er nicht getan, ich habe es später mit der gebotenen Gründlichkeit dargestellt. Im Gegenteil hat sein Schwanken in dieser Sache den Boden bereitet für seine dogmatische Wendung nach dem Atheismusstreit. Nachtrag Mai 2014



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