Donnerstag, 31. Juli 2014

Der Grundsatz der Wissenschaftslehre.


 
Jede mögliche / Wissenschaft hat einen Grundsatz, der in ihr nicht erwiesen werden kann, sondern vor ihr vorher gewiss seyn muss. Wo soll nun dieser Grundsatz erwiesen werden? Ohne Zweifel in derjenigen Wissenschaft, welche alle möglichen Wissenschaften zu begründen hat. – Die Wissenschaftslehre hätte in dieser Rücksicht zweierlei zu thun. Zuvörderst die Möglichkeit der Grundsätze überhaupt zu begründen; zu zeigen, wie, inwiefern, unter welchen Bedingungen, und vielleicht in welchen Graden etwas gewiss seyn könne, und überhaupt, was das heisse – gewiss seyn; dann hätte sie insbesondere die Grundsätze aller möglichen Wissenschaften zu erweisen, die in ihnen selbst nicht erwiesen werden können. ...

Die Wissenschaftslehre ist selbst eine Wissenschaft. Auch sie muss daher zuvörderst einen Grundsatz haben, der in ihr nicht erwiesen werden kann, sondern zum Behuf ihrer Möglichkeit als Wissenschaft vorausgesetzt wird. Aber dieser Grundsatz kann auch in keiner anderen höheren Wissenschaft erwiesen werden; denn dann wäre diese höhere Wissenschaft selbst die Wissenschaftslehre, und diejenige, deren Grundsatz erst erwiesen werden müsste, wäre es nicht. Dieser Grundsatz – der Wissenschaftslehre, und vermittelst ihrer aller Wissenschaften und alles Wissens – ist daher schlechterdings keines Beweises fähig, d.h. er ist auf keinen höheren / Satz zurück zu führen, aus dessen Verhältnisse zu ihm seine Gewissheit erhelle. 

Dennoch soll er die Grundlage aller Gewissheit abgeben; er muss daher doch gewiss und zwar in sich selbst, und um sein selbst willen, und durch sich selbst gewiss seyn. Alle anderen Sätze werden gewiss seyn, weil sich zeigen lässt, dass sie ihm in irgend einer Rücksicht gleich sind; dieser Satz muss gewiss seyn, bloss darum, weil er sich selbst gleich ist. Alle andere Sätze werden nur eine mittelbare und von ihm abgeleitete Gewissheit haben; er muss unmittelbar gewiss seyn. Auf ihn gründet sich alles Wissen, und ohne ihn wäre überhaupt kein Wissen möglich; er aber gründet sich auf kein anderes Wissen, sondern er ist der Satz des Wissens schlechthin.

Dieser Satz ist schlechthin gewiss, d.h. er ist gewiss, weil er gewiss ist*. Er ist der Grund aller Gewissheit, d.h. alles was gewiss ist, ist gewiss, weil er gewiss ist; und es ist nichts gewiss, wenn er nicht gewiss ist. Er ist der Grund alles Wissens, d.h. man weiss, was er aussagt, weil man überhaupt weiss; man weiss es unmittelbar, so wie man irgend etwas weiss. Er begleitet alles Wissen, ist in allem Wissen enthalten, und alles Wissen setzt ihn voraus.

*) Man kann ohne Widerspruch nach keinem Grunde seiner Gewissheit fragen. handschr. Marginalie

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Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre,
SW I, S. 46 ff.




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