Sonntag, 12. Mai 2019

Fingerspitzengefühl.


b. Der Mensch wird nackt geboren, die Tiere bekleidet. In ihrer Bildung hat die Natur ihr Werk beendigt und das Siegel der Vollendung darauf gedrückt; sie hat die feinere Organisation durch eine rohere Decke vor dem Einflusse der gröberen Materie geschützt. Im Menschen wurde das erste und wichtigste Organ, das des Beta- stens, das durch die ganze Haut sich verbreitet, geradezu der Einwirkung derselben bloßgestellt: nicht aus Nachlässigkeit der Natur, sondern aus Achtung derselben für uns. Jenes Organ war bestimmt, die Materie un- mittelbar zu berühren, um sie auf das Genaueste unseren Zwecken angemessen zu machen: 

Aber die Natur stellte es uns frei, in welchen Teil unseres Leibes wir unser Bildungsvermögen vorzüglich ver- legen, und welchen wir als bloße Masse betrachten wollen. Wir haben es in die Fingerspitzen gelegt, aus einem Grunde, der sich bald zeigen wird. Es ist daselbst, weil wir es gewollt haben. Wir hätten jedem Teile unseres Leibes dasselbe feine Gefühl geben können, wenn wir es gewollt hätten; das beweisen diejenigen Menschen, die mit den Zehen nähen und schreiben, die mit dem Bauche sprechen u. s. f.
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Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre,
SW Bd. III, S. 82 



Nota. - Leute, die "mit dem Bauche sprechen"... Wer hat ihn geheißen, eine biologische Anthropologie aus dem Begriff der Vernunft abzuleiten? Er hätte es andersrum anpacken können, doch dazu hätte er den Evolutions- gedanken benötigt, den er noch nicht kannte. Das wäre eine historische Herleitung der Vernunft geworden, und wenn sie ihm selbst gelungen wäre, hätte sie mit der Transzendentalphilosphie nichts zu tun gehabt: Er hätte keinen Punkt gehabt, an dem er anfangen konnte, aus dem er die... Vorstellung hätte entwickeln können.

Allein dass er die Natur als Protagonistin auftreten lässt, über deren intimsten Pläne er uns Auskunft gibt, macht diesen ganzen Abschnitt nicht nur transzendentalphilosophisch, sondern in jeder Hinsicht wissenschaftlich wertlos.

Dabei ist der Grundgedanke ja nicht falsch. Wäre der Mensch ganz zu Anfang an seine Umwelt so angepasst gewesen, wie jede Tiergattung es ist, hätte er keine Vernunft entwickeln müssen. Er hätte keine Verwendung für sie gehabt. Es ging um die Kompensation eines Mangels, und auch die Ahnung, dass die spezifisch menschliche Plastizität seines Körperbaus aus diesem Mangel herrührt, ist richtig. Sie hat nur in der Philosophie überhaupt nichts zu suchen. Was immer er vorhat - auf diesem Weg wird er nicht weit kommen.
JE 











Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.

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