Sonntag, 29. Juni 2014

Die Wissenschaftslehre gründet auf Erfahrung.


Charlotte Spiess  / pixelio.de

Nun sollte in unserer Voraussetzung das Ich ein Nicht-Ich setzen schlechthin und ohne allen Grund, d. i. es sollte sich selbst schlechthin und ohne allen Grund einschränken, zum Theil nicht setzen. Es müsste demnach den Grund sich nicht zu setzen, in sich selbst haben; es müsste in ihm seyn das Princip sich zu setzen, und das Princip sich auch nicht zu setzen. 

Mithin wäre das Ich in seinem Wesen sich selbst entgegengesetzt und widerstreitend; es wäre in ihm ein zwiefaches entgegengesetztes Princip, welche Annahme sich selbst widerspricht, denn dann wäre in ihm gar kein Princip. Das Ich wäre gar nichts, denn es höbe sich selbst auf. (Wir stehen hier auf einem Puncte, von welchem aus wir den wahren Sinn unseres zweiten Grundsatzes: dem Ich wird entgegengesetzt ein Nicht-Ich, und vermittelst desselben die wahre Bedeutung unserer ganzen Wissenschaftslehre deutlicher darstellen können, als wir es bis jetzt irgendwo konnten. 

Im zweiten Grundsatze ist nur einiges absolut; einiges aber setzt ein Factum voraus, das sich a priori gar nicht aufzeigen lässt, sondern lediglich in eines jeden eigener Erfahrung. Ausser dem Setzen des Ich durch sich selbst soll es noch ein Setzen geben. Dies ist a priori eine blosse Hypothese; dass es ein solches Setzen gebe, lässt sich durch nichts darthun, als durch ein Factum des Bewusstseyns, und jeder muss es sich selbst durch dieses Factum darthun; keiner kann es dem anderen durch Vernunftgründe beweisen. ...

/ ... Absolut aber und schlechthin im Wesen des Ich gegründet ist es, dass, wenn es ein solches Setzen giebt, dieses Setzen ein Entgegensetzen, und das Gesetzte ein Nicht-Ich seyn müsse. – Wie das Ich irgend etwas von sich selbst unterscheiden könne, dafür lässt kein höherer Grund der Möglichkeit irgend woher sich ableiten, sondern dieser Unterschied liegt aller Ableitung und aller Begründung selbst zum Grunde. Dass jedes Setzen, welches nicht ein Setzen des Ich ist, ein Gegensetzen seyn müsse, ist schlechthin gewiss: dass es ein solches Setzen gebe, kann jeder nur durch seine eigene Erfahrung sich darthun. Daher gilt die Argumentation der Wissenschaftslehre schlechthin a priori, sie stellt lediglich solche Sätze auf, die a priori gewiss sind; Realität aber erhält sie erst in der Erfahrung. Wer des postulirten Factums sich nicht bewusst seyn könnte – man kann sicher wissen, dass dies bei keinem endlichen vernünftigen Wesen der Fall seyn werde, – für den hätte die ganze Wissenschaft keinen Gehalt, sie wäre ihm leer; dennoch aber müsste er ihr die formale Richtigkeit zugestehen. 

Und so ist denn die Wissenschaftslehre a priori möglich, ob sie gleich auf Objecte gehen soll. Das Object ist nicht a priori, sondern es wird ihr erst in der Erfahrung gegeben; die objective Gültigkeit liefert jedem sein eigenes Bewusstseyn des Objects, welches Bewusstseyn sich a priori nur postuliren, nicht aber deduciren lässt. ...)

________________________________________________________________
Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre,
SW Bd. I,S.
252f.



Nota.
Ein solches Argument heißt eine vollständige Induktion.
JE


 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen