Sonntag, 3. Juni 2018

Ich bin ursprünglich bestimmt als bestimmend...


Alles Denken ist Übergehen vom Bestimmbaren zum Bestimmten. Nun kann es sich mit dem Objekte des Denkens auf zweierlei Art verhalten:

A) Ich bekomme das Objekt als ein Bestimmbares; dann bestimme ich es durch mein Denken; z. B. wenn ich ein Objekt im Raume in eine andere Stelle versetze; oder

B) das Objekt wird gefunden als ein durchgängig Bestimmtes, so kann ich es nicht denken als durch mein Denken bestimmt; nun kann ich mich aber nur denken als bestimmend; mein Denken müsste daher erscheinen als dem Bestimmen zusehend, als leidend.

Z. B. ich finde mich ursprünglich bestimmt, ich soll, oder ich finde meinen reinen Willen. Dieser wird meinem Denken als solcher schon gegeben, aber er kann nur gedacht werden als ein Übergehen vom Bestimmbaren zum Bestimmten.

Das Ich ist, wie es hier in dem Hauptbegriffe der ursprünglichen Bestimmtheit angesehen wird, etwas Intelli- gibles, ein Geistiges, es lässt sich bloß negativ bestimmen durch Abstraktion von der äußeren Anschauung. Die Form der äußeren Anschauung Raum und Zeit passt daruf gar nicht. Das Ich als ein Geistiges ist ein Bestimm- tes, das Bestimmbare dazu muss auch ein Geistiges sein, eine Masse des rein Geistigen (sit vernia verbo; es wird sich unten zeigen als Reich vernünftiger Wesen, das ist ein bestimmter Teil dieser Masse; es wird sich zeigen, dass das Geistige sich teilen lasse.) Das Ich ist Vernunft und bestimmte Vernunft.

Das Bestimmbare dazu ist alle Vernunft (Wesen meiner Gattung), das Bestimmte bin ich (und da ich mir eine Sphäre des Vernünftigen entgegensetze:) als Idividuum.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 148f.



Nota I. - Ich bin ursprünglich bestimmt als bestimmend. (Ich soll: So finde ich mich vor.) Ich muss mich zugleich als tätig denken: bestimmend, und auch als leidend denken: bestimmt. Soll heißen: Ich sehe mir beim Be- stimmtwerden zu. - Aber das Bestimmende bin ich auch: Ich bestimme das vorgefundene Sollen als meinen Willen, und bestimme mich dadurch als ein Individuum (im Unterschied zu anderen...) Meint er es so? 

30. 12. 16

Nota II. - 'Das Ich ist Vernunft und bestimmte Vernunft.' Nur sofern das empirische Individuum vernünftig ist, wird es in der Wissenschaftslehre betrachtet - denn sie beschreibt ja die Genesis der Vernunft - und was nicht in dieser Reihe liegt, geht sie nichts an.

'Das Bestimmbare dazu ist Vernunft (Wesen der Gattung), das Bestimmte bin ich (und da ich mir eine Sphäre des Vernünftigen entgegen setze:) als Individuum.' Was Vernunft 'ist' (=sein soll), ist das, was ich bestimmen soll; nicht das, was mich bestimmt. Indem ich bestimme, 'was Vernunft ist' - was das Wesen meiner Gattung ist -, be- stimme ich mich. Das umfasst all meinen Lebenstätigkeit. Ich kann gar nicht anders als ihr zusehen; ich sehe mei- nem Selbstbestimmen zu. 

Ohne die Vorstellung von der Vernunft als einer zu realisierenden Aufgabe ist die Kernidee der Wissenschafts- lehre gar nicht denkbar. Sobald die Vorstellung einer vorbestimmten Vernunft eingeführt wird, wird daraus eine völlig andere Lehre.
JE


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