Sonntag, 29. Juli 2018

Wahres Wissen ist zirkulär.

lichtkunst.73, pixelio.de
 
Der Faden der Betrachtung wird an dem hier durchgängig als Regulativ herrschenden Grundsatze: nichts kommt dem Ich zu, als das, was es in sich setzt, fortgeführt. Wir legen das oben abgeleitete Factum zum Grunde, und sehen, wie das Ich dasselbe in sich setzen möge. Dieses Setzen ist gleichfalls ein Factum, und muss durch das Ich gleichfalls in sich gesetzt werden; und so beständig fort, bis wir bei dem höchsten theoretischen Factum an- kommen; bei demjenigen, durch welches das Ich (mit Bewusstseyn) sich setzt, als bestimmt durch das Nicht-Ich. So endet die theoretische Wissenschaftslehre mit ihrem Grundsatze, geht in sich selbst zurück, und wird demnach durch sich selbst vollkommen beschlossen.
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Grundriss des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre, in Rücksicht auf das theoretische Vermögen, SW I, S. 333.


 

§ 1. Erster, schlechthin unbedingter Grundsatz.

Wir haben den absolut-ersten, schlechthin unbedingten Grundsatz alles menschlichen Wissens aufzusuchen.

Beweisen oder bestimmen lässt er sich nicht, wenn er absolut-erster Grundsatz seyn soll. Er soll diejenige Thathand- lung ausdrücken, welche unter den empirischen Bestimmungen unseres Bewusstseyns nicht vorkommt, noch vor- kommen kann, sondern vielmehr allem Bewusstseyn zum Grunde liegt, und allein es möglich macht. Bei Darstel- lung dieser Thathandlung ist weniger zu befürchten, dass man sich in etwa dabei dasjenige nicht denken werde, was man sich zu denken hat – dafür ist durch die Natur unseres Geistes schon gesorgt – als dass man sich dabei denken werde, was man nicht zu denken hat. Dies macht eine Reflexion über dasjenige, was man etwa zunächst dafür halten könnte, und eine Abstraction von allem, was nicht wirklich dazu gehört, nothwendig. 

Selbst vermittelst dieser abstrahirenden Reflexion nicht – kann Thatsache des Bewusstseyns werden, was an sich keine / ist; aber es wird durch sie erkannt, dass man jene Thathandlung, als Grundlage alles Bewusstseyns, noth- wendig denken müsse. ... 

Die Gesetze, nach denen man jene Thathandlung sich als Grundlage des menschlichen Wissens schlechterdings denken muss, oder – welches das gleiche ist – die Regeln, nach welchen jene Reflexion angestellt wird, sind noch nicht als gültig erwiesen, sondern sie werden stillschweigend, als bekannt und ausgemacht, vorausgesetzt. Erst tiefer unten werden sie von dem Grundsatze, dessen Aufstellung bloss unter Bedingung ihrer Richtigkeit richtig ist, abgeleitet. Dies ist ein Cirkel; aber es ist ein unvermeidlicher Cirkel.
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Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, SW Bd. I, S. 91f.

 

Nota. - Wenn es aber zirkulär ist, dann ist es kein Wissen. Wenn am oberen Ende genausoviel steht wie am unte- ren, dann ist nichts hinzukommen - und das Wissen folglich leer.


Dies, wenn die Wissenschaftslehre eine logische Herleitung aus gegebenen Begriffen wäre - so wie die metaphy- sischen Systeme vor Kant. Die Wissenschaftslehre ist dagegen ein retroaktives Postulat. Sie ist keine Konstrukti- on der Wirklichkeit aus Prämissen, sondern eine eine experimentelle Unterschung des Gangs unserer Vorstel- lungstätigkeit. Es wird der Untersuchung eine problematische Behauptung zu Grunde gelegt - und nur, wenn nach Abschluss der Untersuchung nicht mehr und nicht weniger und schon gar nichts anderes steht als am An- fang; nur, wenn nichts hinzugekommen und der Zirkel lückenlos geschlossen ist, hat sich die problematische Eingangsbehauptung bewährt.

Was immer es tut: Das Ich 'setzt sich', indem es sich ein/em Nichtich entgegensetzt - und zwar immer fort. Alle Tätigkeit des Ich ist Fortschreiten in der Bestimmung von Unbestimmtem. Von nicht anderem kann es wissen. Das ist - zusammenfassend - leicht gesagt. Doch um es einzusehen, war die hirnbrechende Ochsentour der Wis- senschaftslehre unumgänglich. Der sachliche Gehalt der realen Wissenschaften wird davon um keinen Deut er- weitert. Aber sie können nun ihres Wissens gewiss sein - wenn anders Wissen überhaupt möglich sein soll.

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Die Frage Was ist Wissen? - oder: Was ist wahr? - formuliert Fichte um in: Wie kommen wir zu der Annahme, dass einigen unserer Vorstellungen Dinge außerhalb unserer Vorstellungen entsprechen? Das ist der prosaische Kern, der in der pompösen Frage nach der Warheit drinsteckt. 
JE




 

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