Der unmittelbare Gegenstand der Wissenschaftslehre ist das gemeine Bewusstsein. Sie hat ihn nicht gewählt, er ist ihr als solcher gegeben.
Er ist gegeben als ein System von Begriffen. Als ein solches ist es Vernunft. Es ist eine Welt von Vorstellungen, die durch ihre Fassung in Begriffe mitteilbar ist, und allen Teilnehmern des Verunftverkehrs ist anzumuten, sie mit allen andern zu teilen. Die Teilnahme am Vernunftverkehr macht die Vernünftigkeit der Individuen aus; was anders als das Teilen von Vorstellungen könnte sinnvoller Weise Vernunft genannt werden? Dass sie es können, wissen wir, weil sie es tun.
Das ist die Gegebenheit.
Um zu verstehen, was sie ist, muss verstanden werden, woher sie kam – wie sie sich woraus entwickelt hat. Es gilt, die Entwicklung der Vorstellungen nach-zu-vollziehen, die von der Gemeinschaft der vernünftigen Wesen zu einem Begriffssystem gefasst wurden.
Nicht werden – etwa durch eidetische Reduktion – am Grunde der Begriffe die 'Wesen' geschaut, die in ihnen gefasst wurden. Vorstellungen sind nicht an-sich da. Sie können nur das Produkt einer Tätigkeit sein – des Vorstellens: Einer stellt vor. Die Rekonstruktion ist eine genetische Konstruktion von einem ersten Akt aus – dem ersten Vorstellen.
Ich stelle vor.
Darin ist ein Etwas enthalten, das vorgestellt wird, und ein Jemand, der vorstellt. Woher das Etwas, woher der Jemand? Sie können dem ersten Akt nicht vorausgesetzt werden, denn dann wäre er kein erster Akt. Etwas und Jemand müssen aus und in diesem Akt selbst entstehen.
'Das Ich setzt sich, indem es sich ein/em Nichtich entgegensetzt.'
Wo findet der Akt statt?
Diesen Ort wollen wir Einbildungskraft nennen; ein ursprünglich produktives Vermögen, das angenommen werden muss, wenn erklärt werden soll, was zu erklären ist – das Bewusstsein.
Woher stammt die?
Trieb.
Woher dieser?
Wollen.
Bis hierher führt der analytische Vor-Gang der Wissenschaftslehre. Weiter muss sie nicht führen. Es ist das wirkliche Bewusstsein wirklicher Menschen, das erklärt werden soll. Wo das alles sich abspielt, gehört zu den Gegebenheiten. Es ist ein animal. Wie aus den organischen Trieben eines Angehörigen der Familie Homo ein freies Wollen werden konnte, muss nicht mehr die Wissenschaftslehre erklären. Es wäre Sache der – so oder so zu bestimmenden – Anthropologie. Der Wissenschaftslehre reicht es zu zeigen, dass es geschehen sein muss, und wo.
An der Stelle beginnt nun der synthetische Gang der Wissenschaftslehre.
Wollen und Vorstellen bilden eine Art Doppelhelix. Eins kann nicht ohne das andre. Der Kern der neueren Dialektik ist dies. Das Wollen ist in diesem Wechselspiel das gewissermaßen Reale, das Vorstellen ist sein ideales Gegenstück. Was das eine wirklich tut, 'stellt' das andere 'sich vor': Schaut es an. Im Anschauen erblickt es nicht nur das Getane, Produkt, sondern im Anschauen des Tuns erblickt es zugleich den Tuenden, Tätigen; "Ich".
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Diese beiden Gänge reproduziert die Wissenschaftslehre auf Schritt und Tritt in ihrem reell-ideellen Fortgang: Das hat das Ich getan. - Was hat es getan, indem es...? - Das konnte es nur, wenn und sofern...
30. 5. 15
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