Sonntag, 29. April 2018

Kritik ist Reflexion=Analyse des Vorgefundenen.

birgitH, pixelio.de

Soll sich aber etwas aus ihr entwickeln lassen, so müssen in den durch sie vereinigten Begriffen noch andere enthalten liegen, die bis jetzt nicht aufgestellt sind; und unsere Aufgabe ist die, sie zu finden. Dabei verfahrt man nun auf folgende Art. – Nach § 3. entstehen alle synthetische Begriffe durch Vereinigung entgegengesetzter. Man müsste demnach zuvörderst solche entgegengesetzte Merkmale der aufgestellten Begriffe (hier des Ich und des Nicht-Ich, insofern sie als sich gegenseitig bestimmend gesetzt sind) aufsuchen; und dies geschieht durch Refle- xion, die eine willkürliche Handlung unseres Geistes ist. –

Aufsuchen, sagte ich; es wird demnach vorausgesetzt, dass sie schon vorhanden sind, und nicht etwa  / durch unsere Reflexion erst gemacht und erkünstelt werden (welches überhaupt die Reflexion gar nicht vermag), d.h. es wird eine ursprünglich nothwendige antithetische Handlung des Ich vorausgesetzt. 

Die Reflexion hat diese antithetische Handlung aufzustellen: und sie ist insofern zuvörderst analytisch. Nemlich entgegengesetzte Merkmale, die in einem bestimmten Begriffe = A enthalten sind, als entgegengesetzt durch Reflexion zum deutlichen Bewusstseyn erheben, heisst: den Begriff A analysiren.
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Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, SW Bd. I, S. 123 f.



Nota. - Der erste Gang der Vernunftkritik, den zur Hälfte bereits Kant zurückgelegt hatte, ist Kritik, und das heißt Reflexion - und verfährt daher analytisch. Ihr Weg ist aufsuchen und auffinden: Es gilt, die Erscheinungen des vernünftigen Denken hinab zu verfolgen bis auf ihren Ursprung. Vernunft ist gegeben als eine Große Synthesis, und da Synthesis geschieht durch die Vereinigung Entgegengesetzter, muss Analyse verfahren als Zerlegung der je Gegebenen in zwei Entgegengesetzte. 

Die letzte (bzw. erste) Sythesis, die die Analyse vorfindet, ist der Gegensatz Ich-Nichtich. Er ist eine ursprüng- liche Zerteilung. Dieser voraus muss gedacht werden eine Ursynthesis als das Was der Ur-Teilung. Die Ur-Synthesis ist eine Selbstsetzuung, die wiederum nur denkbar ist als Selbstentgegensetzung. Auf diesem ihren Grund angekommen, beginnt als zweiter Gang der Wissenschaftslehre die Rekonstruktion des Ganges der Vernunft bis zum Stand unseres gegenwärtigen Wissens.
JE

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