Montag, 10. Juni 2019

Was folgt auf die vollendete Vernunftkritik?


Fichte sagt am Schluss der Wissenschaftsehre nova methodo zusammenfassend:

Um uns selbst zu finden, müssen wir die Aufgabe denken, uns auf eine gewisse Weise zu beschränken. Diese Aufgabe ist für jedes Individuum eine andere, und dadurch eben wird bestimmt, wer dieses Individuum eigent- lich sei. 

Diese Aufgabe erscheint nicht auf einmal, sondern im Fortgange der Erfahrung analytisch - jedesmal, inwiefern ein Sittengebot an uns ergeht. Aber in dieser Aufforderung liegt zugleiuch, da wir praktische Wesen sind, zu einem praktischen Handeln Aufforderung. Dies ist für jedes Individuum auf besondere Art gültig. Jeder trägt sein Gewissen in sich und ist ein ganz besonderes.

Aber die Weise, wie das Vernunftgesetz allen gebiete, lässt sich nicht in abstracto aufstellen. So eine Untersu- chung wird von einem hohen Gesichtspunkte aus angestellt, auf welchem die Individualität verschwindet und bloß auf das Allgemeine gesehn wird. Ich muss handeln, mein Gewissen ist mein Gewissen; insofern ist die Sittenlehre individuell.

So nicht in der allgemeinen Sittenlehre; Wissenschaftslehre des Praktischen, die insbesondere Ethik wird. D. h. das Praktische ist Handeln überhaupt, das Handeln kommt aber durch die Grundlage immerfort vor, indem auf [un- leserliches Wort] der ganze Mechanismus gründet. Daher kann die besondere Wissenschaftslehre des Praktischen nur sein eine Ethik. Diese lehrt, wie die Welt durch vernünftige Wesen gemacht werden soll, ihr / Resultat ist Ideal, inwiefern dies Resultat sein kann, da es nicht begriffen werden kann.

Bemerkung: Beides, die theoretische und praktische Philosophie ist Wissenschaftslehre, beide liegen auf dem transzendentalen Gesichtspunkt; erstere, weil ja hier auf das Erkennen gerechnet wird, also auf etwas in uns, und nicht geredet wird von einem Sein; letztere, weil überhaupt gar nicht das Ich, das Individuum betrachtet wird, sondern die Vernunft überhaupt in ihrer Individualität. Die erstere Lehre ist konkret, die letzte ist die höchste Abstraktion: der des Sinnlichen zu dem reinen Begriffe als einem Motiv. 

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J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 241f.



Nota. - Kein anderer Autor hat wie Fichte so regelmäßig während der Darstellung seines Systems auf die Darstel- lung reflektiert. Auf das Verfahren nicht nur, sondern auch auf das, was dargestellt wird, denn um dessen Bestim- mung geht es ja; so dass nie vom Verfahren des Bestimmens allein, sondern immer auch von dem je Bestimmten die Rede ist.

Dies kam mit § 19 zu einem Schluss: Was heißt Wissen und was ist das, was wir wissen können?


Idealerweise müssten von da aus alle reellen Wissenschaften neu aufgebaut werden: "Weltlehre", nämlich Physik und Biologie (wobei Chemie noch keine eigenes Fach ist). Das nennt Fichte 'Theoretische Philosophie', er rech- net sie offenbar zur Besonderen Wissenschaftslehre hinzu. Warum? Weil sie 'aufstellt, was notwendig Erfahrung ist und sein kann'.

Die wirklichen Wissenschaften können aber nicht von vorn anfangen. Neues empirisches Material fällt täglich an, es muss dem Wissensschatz an dem Punkt einverleibt werden, an dem er sich eben befindet - mit den Methoden, die neuestens verfügbat sind, und das geschieht unter aller Augen im Streit. Die Wissenschaftslehre wird sie bes- tenfalls auf Schritt und Tritt kritisch begleiten: dass sie ihre Begriffe nicht aus der Luft greifen und nicht für Er- fahrung ausgeben, was doch als Prämisse unterstellt wurde. Und wird sie stets anhalten, auszuscheiden, was an dogmatischem Bodensatz mitgeschleppt wurde.

Dann freilich hieße es die kritische Philosophie überdehnen, wollte man sie in die Realwissenschaften hinein- treiben und selber positiv werden lassen. Sie kann nicht selber Realwissenschaft werden und muss deren Propä- deutik und kritische Instanz bleiben.

Das sieht Fichte offenbar ganz anders; wie offenbar auch Kant, bei dessen Opus postumum es sich doch wohl um den Versuch handelte, die zeitgenössische (Newton'sche) Physik in den Ergebnissen der Transzendentalphiloso- phie zu gründen. Recht und Sittenlehre hatte F. selbst ja bereits aus der Wissenschaftslehre abgeleitet, bevor er diese nova methodo vorzutragen begonnen hat. Beim Naturrecht haben wir bereits gesehen, wie der Versuch, die Vernunftkritik in positives Wissen hinüberzumodeln, in die Irre führt. Sobald die Kritik den Rechtsbegriff etabliert hat, mag der kritische Philosoph sich im Lichte dieses seines Begiffs am politischen Tageskampf um das gelten-sollende Recht seiner Zeit beteiligen. 

An obiger Stelle erklärt er stattdessen die Absicht, eine ideale Welt zu entwerfen, die indessen gar nicht begreif- lich wäre. Sie ist nicht begreiflich, daher lässt sie sich auch nicht in einzelne Schritte zerlegen, die auf einander aufbauen und den großen Vorteil böten, praktisch unternommen werden zu können. Das Ideal lässt sich dagegen nur in sonntäglichen Weihestunden beschwören.

Und doch hat Fichte seinen Plan einer idealen Welt alsbald zu einem praktikablen ersten Schritt konkretisiert. Sein Geschlossener Handelsstaat sollte ein Durchgangsstadium zu einem vernunftmäßig eingerichteten Gemeinwesen sein. Aber wer ihn einrichten und mit welchen Übergangsmaßnahmen er eingeleitet werden könne, hat er nicht hinzugeschrieben. Er hat kein politisches Programm formuliert, sondern ein gelehrte Abhandlung geschrieben, die auch unter den Gelehrten kaum Beachtung fand.

Noch weniger als die Wissenschaft lässt Geschichte sich nochmal von vorne anfangen. 

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Nachdem ich so weit gekommen bin, kann ich endlich den Punkt berühren, um den des mir hier eigentlich geht: Wenn es denn möglich wäre, Staat und Gesellschaft nach einem idealen Vernunftplan einzurichten, so wäre die Rechtslehre und keine 'allgemeine' Sittenlehre seine Grundlage. Denn in der Tat gründet die Rechtslehre und erst recht das Recht auf der Vernunft. Sittlichkeit liegt der Vernunft voraus als Teilbereich des Ästhetischen, und daher lässt sie sich weder verbegrifflichen noch diskursivieren.

Vernünftig ist, was der Bestimmung nach in die Wechselwirkung der Reihe vernünftiger Wesen eingeht, und da- her ist es intelligibel. Die je einzelnen Richtsprüche meines Gewissens gehören nicht dazu; intelligibel sind sie weder mir noch sonstwem. Intelligibel sind Bestimmungen; meine Gewissensentscheidungen werden mir zuteil, ich weiß nicht wie noch von wem noch wozu. Das weist sie aus als Teilhaber des Ästhetischen.

So wenig wie eine Allgemeine Ästhetik kann es eine allgemeine Sittenlehre geben. Hier wird die Anschauung selbst gewertet, prädiziert, das individuelle Ich ist hinter sich zurückgetreten und sieht von sich ab, nämlich sofern es Zwecke setzen könnte, die mit Zwecken Anderer zu vermitteln wären. Das sittliche Urteil ist, wie das ästhetische, singulär und steht allein für sich und wird um seiner selbst willen gefällt. Es ist ohne Gründe und ohne alle Vernunft. Ein Glück nur, dass ich es vor niemandem verantworten muss; ich wüsste ja nicht, wie. Denn ich war nicht tätig und bei mir, sondern fühlte mich empfangend und außer mir. Ich hätte mich schon sträuben müssen, aber das konnte ich vor mir nicht verantworten.

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Wie kann es sein, dass Fichte bei alle seiner methodischen Pedanterie sich so verirrt hat? Über Motive - Tem- perament, Geltungswille, Wirkenwollen - ließe sich nur mutmaßen. Aber die Gründe, die es möglich gemacht haben, müssen sich in seinem Denken auffinden lassen. Und lassen sich auffinden - es ist sein beständiges Schwanken zwischen einer kritischen und einer dogmatischen Auffassung von Vernunft.


Die kritische Vernunftauffassung zieht der Transzendentalphilosophie eine klare Grenze. Sie geht nicht weiter, als ihre Gründe tragen. Ausgegangen war sie von der historischen Gegebenheit eines Vernunftsystems und wollte klären dessen Woher und dessen Wozu. War das geschehen, hatte sie rückblickend die gegebenen Wissenschaften von dogmatischen Resten zu säubern und ihre aktuellen Fortschritte von dogmatischen Fehlgriffen freizuhalten. Ihre positive Aufgabe war und ist Kritik.


Der dogmatische Vernunftglaube, der an mancher Stelle durch Fichtes Texte geistert, macht solche Bescheidung nicht nötig. Weil er Glaube ist, muss und kann er nicht begründet werden und kann er die Frage nach seiner Reichweite gar nicht stellen. Für ihn ist Vernunft das mystische Urschöne, das in des Schöpfers ureigenem Rat- schluss beschlossen liegt und dessen Glanz soweit reicht wie er.

JE

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