Botticelli, aus Maria mit den Engeln
Das Handeln des freien Wesens außer
mir, auf welches so geschlossen ist, verhält sich zu dem mir
angemuteten Handeln, wie der angefangene Weg zu der Fortsetzung
desselben. Es ist mit gegeben eine Reihe der Glieder, durch welche der
Zweck bedingt ist; eine Reihe, die ich vollenden soll. Zuförderst ist
sonach alles Handeln freier Wesen ein Hindurchgehen durch unendlich
viele Mittelglieder, die bloß durch die Einbildungskraft ge-fasst
werden, wie bei der Bewegung durch unendlich viele Punkte. Es
fordert mich jemand auf heißt: Ich soll an die gegebene Reihe des
Handelns etwas anschließen; er fängt an und geht bis auf einen gewissen
Punkt, von da soll ich anfangen.
Nun liegt hier ein unendliches
Mannigfaltiges der Handlungsmöglichkeiten, welche bloß durch
Einbildungs-kraft zusammengefasst werden. Denn das Handeln mehrerer
Vernunftwesen ist eine einzige durch Freiheit bedingte Kette. Die ganze
Vernunft hat nur ein einziges Handeln. Ein Individuum fängt an, ein
anderes greift ein und so fort, und so wird der ganze Vernunftzweck
durch unendlich Viele bearbeitet und ist das Resultat von der Einwir- kung
Aller. Es ist dies keine Kette physischer Notwendigkeit, weil von
Vernunftwesen die Rede ist. Die Kette geht immer in Sprüngen, das
Folgende ist immer durchs Vorher-/gehende bedingt, aber nicht bestimmt und wirklich gemacht. (vid. Sittenlehre) Die Freiheit besteht darin, dass aus allen möglichen nur ein Teil an die Kette angeschlossen werde.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 232f.
Nota I. – "Die
ganze Vernunft hat nur ein einziges Handeln." Ist das eine Vorhersage
ex ante? Oder ist es eine Interpretation ex post? Wo befinden wir uns:
Ganz am Anfang der "Kette", und er verspricht uns erst: So wird es sein?
Oder schon mittendrin in der Kette: Wir haben schon ein ganzes Stück
Weges geschafft und können schon annehmen: Hier geht es weiter zum
Vernunftzweck...? – Das eine ist die dogmatische Verkündigung einer
(schon jetzt) prästabilierten Harmonie, für die er eine Berechtigung
nicht nur nicht nachgewiesen, sondern nicht einmal problematisch
reklamiert hat. Das andre ist eine Art Pascal'sches pari: Ich will so handeln, als ob es Vernunft gä- be, dann werde ich wenigstens vernunftmäßig gehandelt haben.
Oder mit den Worten des Manns ohne Eigenschaften: "Ich schwöre Ihnen", erwiderte Ulrich ernst, "dass weder ich noch irgendjemand weiß, was der, die, das Wahre ist; aber ich kann
Ihnen versichern, dass es im Begriff steht, verwirklicht zu werden!" "Sie sind
ein Zyniker!" erklärte Direktor Fischl und eilte davon.
16. 10. 15
Nota II. - Zwei Auffassungen der Vernunft sind möglich, beide hat Fichte jeweils vertreten, offenbar ohne sich ihrer Unvereinbarkeit bewusst zu werden: Erstens, Vernunft als Gehalt ist immer da gewesen, woher auch immer sie kam, und Sache des zur Vernunft berufenen Menschen ist es, ihre Gehalte nicht nur in der Vorstellung, son- dern in seinen Handlungen in der Sinnenwelt auf zufinden und zu realisieren. Zweitens, Vernunft ist die Tätigkeit der Vernunftwesen selbst, und nur durch sie werden sie, machen sie sich zu solchen. Hier ist der Gehalt nicht seit Ewigkeit gegeben, sondern problematisch als Projekt auf gegeben:* das unendliche Übergehen vom unbe- stimmt- Bestimmbaren zur Bestimmung.
In der ersten Auffassung steht der Gehalt als Bestimmtheit schon immer fest. In der zweiten Auffassung ist der Gehalt durch Fortbestimmen immer erst noch zu er finden. Auf Standpunkt der zweiten ist Vernunft nur mög- lich als gemeinsames Handeln einer Reihe vernünftiger Wesen. Auf dem Standpunkt der ersten müsste auch einer für sich allein vernünftig sein können.
Vom Standpunkt der Transzendentalphilosophie ist nur die eine Auffassung möglich. Die andere wäre dogmati- sche Metaphysik auf mystischem Untergrund.
*) gr. problêma heißt Aufgabe.
JE
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