Dienstag, 29. April 2014

Das Gewissen gebietet immer hier und jetzt.


Henrik G. Vogel, pixelio.de

Jene Stimme in meinem Innern, der ich glaube, und um deren willen ich alles Andere glaube, was ich glaube, gebietet mir nicht überhaupt nur zu thun. Dieses ist unmöglich; alle diese allgemeinen Sätze werden nur durch meine willkürliche Aufmerksamkeit und Nachdenken über mehrere Thatsachen gebildet, drücken aber nie selbst eine Thatsache aus. Sie, diese Stimme meines Gewissens, gebietet mir in jeder besonderen Lage meines Daseyns, was ich bestimmt in dieser Lage zu thun, was ich in ihr zu meiden habe: sie begleitet mich, wenn ich nur aufmerksam auf sie höre, durch alle Begebenheiten meines Lebens, und sie versagt mir nie ihre Belohnung, wo ich zu handeln habe. Sie begründet unmittelbar Ueberzeugung, und reisst unwiderstehlich meinen Beifall hin: es ist mir unmöglich, gegen sie zu streiten.

Auf sie zu hören, ihr redlich und unbefangen ohne Furcht und Klügelei zu gehorchen, dies ist meine einzige Bestimmung,  / dies der ganze Zweck meines Daseyns. – Mein Leben hört auf ein leeres Spiel ohne Wahrheit und Bedeutung zu seyn. Es soll schlechthin etwas geschehen, weil es nun einmal geschehen soll: dasjenige, was das Gewissen nun eben von mir, von mir, der ich in diese Lage komme, fordert; dass es geschehe, dazu, lediglich dazu bin ich da; um es zu erkennen, habe ich Verstand; um es zu vollbringen, Kraft.
 

Durch diese Gebote des Gewissens allein kommt Wahrheit und Realität in meine Vorstellungen. Ich kann jenen die Aufmerksamkeit und den Gehorsam nicht verweigern, ohne meine Bestimmung aufzugeben.

Ich kann daher der Realität, die sie herbeiführen, den Glauben nicht versagen, ohne gleichfalls meine Bestimmung zu verläugnen. Es ist schlechthin wahr, ohne weitere Prüfung und Begründung, es ist das erste Wahre, und der Grund aller anderen Wahrheit und Gewissheit, dass ich jener Stimme gehorchen soll: es wird mir sonach in dieser Denkweise alles wahr und gewiss, was durch die Möglichkeit eines solchen Gehorsams als wahr und gewiss vorausgesetzt wird.

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Die Bestimmung des Menschen, SW II, S. 258f.

Nota.

Das ist die Stelle, wo es kritisch wird. Da ist erstens das Gewissen, das immer nur dieses oder das gebietet, und immer jetzt. Allgemeine Sätze werden daraus allenfalls von der Reflexion abstrahiert, aber sie haben keine Realität. Mit andern Worten, Begriffe finden in der Moralität keinen Platz. - Aber dann wird konstruiert, dass einem schwindelig wird: Nähme ich an, dass alle Taten, die mir mein Gewissen aufgegeben hat, zum Erfolg führen, könnte ich daraus einen tatsächlichen Zustand hochrechnen - die "Realität, die sie herbeiführen" -, aus dem ich wiederum rückwirkend "meine Bestimmung" begreifen kann. Und dieser 'Realität' kann ich "den Glauben nicht versagen". 

Nachdem er eben vornherum aus der Moralität die Begriffe ausgetrieben hat, führt er nun hintenrum einen ganzen Begriffspalast ein, der so konstruiert ist, wie der Eiffelturm erst neunzig Jahre später. Warum das, damit hat es doch keine Not, er war doch schon bei einem Ergebnis angelangt, das praktischer gar nicht sein kann - ?

Es ist ein äußerer Zweck, den er verfolgt, er will den Vorwurf des Atheismus im nachhinein entkräften, indem er einen theoretischen Gott erklügelt...
JE

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