Samstag, 20. Mai 2017

Allgemeine Sittenlehre?


G. di Bienvenuto

So nicht in der allgemeinen Sittenlehre; Wissenschaftslehre des Praktischen, die insbesondere Ethik wird. D. h. das Praktische ist Handeln überhaupt, das Handeln kommt aber durch die Grundlage immerfort vor, indem auf [unleserliches Wort] der ganze Mechanismus gründet. Daher kann die besondere Wissenschaftslehre des Prakti- schen nur sein eine Ethik. Diese lehrt, wie die Welt durch vernünftige Wesen gemacht werden soll, ihr //242// Resultat ist Ideal, inwiefern dies Resultat sein kann, da es nicht begriffen werden kann.

Bemerkung: Beides, die theoretische und praktische Philosophie ist Wissenschaftslehre, beide liegen auf dem transzendentalen Gesichtspunkt; erstere, weil ja hier auf das Erkennen gerechnet wird, also auf etwas in uns, und nicht geredet wird von einem Sein; letztere, weil überhaupt gar nicht das Ich, das Individuum betrachtet wird, sondern die Vernunft überhaupt in ihrer Individualität. Die erstere Lehre ist konkret, die letzte ist die höchste Abstraktion: der des Sinnlichen zu dem reinen Begriffe als einem Motiv.

3) Es wird in der Ethik nicht das eine oder andere Individuum betrachtet, sondern die Vernunft überhaupt. Nun ist die Vernunft dargestellt in mehreren Individuen, die sich in der Welt durchkreuzen. Soll der Zweck der Vernunft erreicht werden, so muss ihre [=deren] physische Kraft gebrochen und die Freiheit jedes eingeschränkt werden, damit nicht einer des andern Zwecke störe und hintertreibe.

Daraus entsteht die Rechtslehre oder Naturrecht. Die Natur dieser Wissenschaft ist sehr lange verkannt wor- den; sie hält die Mitte zwischen theoretischer und praktischer Philosophie, die ist theoretische und praktische Philosophie zugleich. Juridische Welt muss vor der moralischen vorhergehen.
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Wissenschaftslehre nova methodo, S. 242


 

Nota. - Die Vernunft 'ist dargestellt in mehreren Individuen, die sich in der Welt durchkreuzen'... Sie ist nicht bloß "dargestellt in...", sondern ist buchstäblich nichts anderes als das vernünftige Handeln dieser mehreren Individuen, 'die sich in der Welt durchkreuzen'. Vorher jedenfalls 'ist' sie nicht.

Der große Zweck der Vernunft sei Übereinstimmung, sagt F. an anderer Stelle (aber zur selben Zeit); und hier genauer: dass "nicht einer des andern Zwecke störe und hintertreibe". Von welchen Zwecken hier die Rede ist, unterscheidet er nicht. Wenn Zweie um dieselbe Schöne buhlen, gebietet ihnen die Vernunft da etwa 'Überein- stimmung'? Oder überhaupt irgendwas? Nein, das ist etwas - und das dürfte F. kaum anders gesehen haben -, wozu die Vernunft gar keine Meinung hat, ja wovon sie nicht einmal Notiz nimmt.

Ein jedes wirkliche Individuum hat tausend Zwecke, die 'eine Reihe vernünftiger Wesen' gar nichts angehen, sondern nur ihn und die, denen er persönlich verbunden ist; und sicher sehr viel mehr, als solche Zwecke, die das öffentliche Interesse berühren. Da hat er es nur mit seinem Geschmacksurteil zu tun (und moralische Urteile sind Geschmackurteile, die auf Willensakte bezogen sind); das muss er mit sich ausmachen und mit denen von seinen Nächsten, denen er Zugang zu seinem Privatleben gewährt. Und nur jene andern Zwecke, deren Realisierung öffentliche Folgen haben würde, sind dem Richtspruch der Vernunft unterworfen und berühren das Reich des Rechtlichen und daher auch das Politische.

Fichte lehrte zu einer Zeit, als die Scheidung der bürgerlichen Welt in einen öffentlichen und einen privaten Raum noch kaum begonnen hatte - weil die vielen Privaten vom Rechtlichen und Politischen noch ausge- schlossen waren; seine Lehre hatte ja nicht zuletzt den Zweck, ihnen solchen Zutritt erst zu verschaffen. Wie die Freiheiten der leidenschaftlich sinnlichen Individuen gegen die Ansprüche der 'Reihe vernünftiger Wesen' zu wahren sind, lag noch nicht in seinem Gesichtsfeld. Das ist, wie gesagt, historisch verständlich, aber ein theoretischer Fehler war es doch.
JE





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