Sonntag, 6. Januar 2019

Formularphilosophie und Denknotwendigkeit.

Tinguely - Aeppli

Jene Männer von philosophischem Geiste machten ihre Entdeckungen bekannt. - Es ist nichts leichter als mit Freiheit und da, wo keine Denknotwendigkeit obwaltet, jede mögliche Bestimmung in seinem Geiste hervorzu- bringen, willkürlich ihn auf jede Weise, die ein anderer uns vielleicht angibt, handeln zulassen. Aber es ist nichts schwerer, als denselben im wirklichen, d. h, nach obigem: notwendigen Handeln oder, wenn er in der Lage ist, dass er auf diese bestimmte Weise handeln muss - als handelnd zu bemerken. Das erstere Verfahren gibt Begrif- fe ohne Objekt, ein leeres Denken; nur auf die zweite Weise wird der Philosoph Zuschauer eines reellen Den- kens seines Geistes.*

*) Der Formular-Philosoph denkt sich dieses und jenes, beobachtet sich selbst in diesem Denken, und nun stellt er die ganze Reihe dessen, was er sich denken konnte, als Warhrheit hin, aus dem Grunde, weil er es denken konnte. Das Objekt seiner Beobachtung ist er selbst, wie er entweder ohne alle Richtung, auf gutes Glück, oder nach einem von außen gegebenen Ziele hin frei verfährt. 


Der wahre Philosoph hat die Vernunft in ihrem ursprünglichen und notwendigen Verfahren, wodurch sein Ich und / alles, was für dasselbe ist, da ist, zu beobachten. Da er aber dieses ursprünglich handelnde Ich in seinem empi- rischen Bewusstsein nicht mehr vorfindet, so stellt er es durch den einzigen Akt der Willkür, der ihm erlaubt ist (und welcher der freie Entschluss, philosophieren zu wollen, selbst ist), in seinen Anfangspunkt und lässt es von demselben aus nach seinen eigenen, dem Philosophen wohlbekannten Gesetzen unter seinen Augen forthandeln.

Das Objekt seiner Beobachtung ist sonach die nach ihren inneren Gesetzen, ohne alles äußere Ziel, notwendig verfahrende Vernunft überhaupt. Der erstere beobachtet ein Individuum, sein eigenes, in seinem gesetzlosen Denken, der letztere die Vernunft überhaupt in ihrem nowendigen Handeln. 
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Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, 
SW Bd. III, S. 5f.



Nota. - Wenn ein jedes der in der Abstraktion als Das Ich zusammengefassten empirischen Iche alle seine Be- stimmungen am Nichtich und mithin am Ich selber vornimmt - wie sollte es möglich sein, dass am Schluss auch nur zweie aus der Reihe vernünftiger Wesen sich über irgendetwas verständigen können? George Berkeley, der einen dogmatischen Idealismus vertrat, löst das Problem auf verblüffend einfache Weise: Das ist Gottes Werk. Denn ihre Wahrnehmungen, die die Menschen für wirkliche Dinge halten, sind ihnen von ihrem Schöpfer ein- gegeben - und der hat einen gewissen Einklang zwischen ihnen prä-etabliert. (Er ist also nicht ein dogmatischer, sondern im Grunde gar kein Idealist.)

Auch der transzendentale, kritische Idealismus kann eine schließliche Konkordanz nicht aus nachträglicher Übereinkunft erklären. Sein metaphilosophischer Zweck ist ja, das gesellschaftliche Zusammenleben zu be- gründen: auf Freiheit, und das heißt eben - in der Vernunft. Dann muss sie dem wirklichen Zusammenwirken der Menschen in der Geschichte aber vorausgesetzt sein, sonst bliebe es immer zufällig. Und dann muss das Verfah- ren der Vernunft in sich selber notwendig sein. Diese Notwendigkeit hat der Philosoph zu demonstrieren.

Metaphilosophisch betrachtet, ist die Wissenschaftslehre nicht nur eine Anthropologie, sondern insbesondere eine politische Anthropologie.
JE

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