Über die Würde des Menschen, beim Schlusse seiner philosophischen Vorlesungen gesprochen von J. G. Fichte
Nicht als Untersuchung, sondern als Ausguß der hingerissensten Empfindung nach der Untersuchung, widmet seinen Gönnern und Freunden zum Andenken der seligen Stunden, die er mit ihnen im gemeinschaftlichen Streben nach Wahrheit verlebte, diese Blätter der Verfasser.
Von Mitte Februar bis Ende April 1794 hielt Fichte in Zürich vor einem halben Dutzend Hörern im Hause Johann Kaspar Lavaters Vorlesungen über die kritische Philosophie. Nachdem er im Winter 1793/94 entscheidende Klarheit über den Grund- gedanken seiner Philosophie gewonnen hatte, trug Fichte hier zum ersten Mal die Grundsätze seiner Wissenschaftslehre vor. Diese Vorlesungen entsprechen wesentlich seinen 1794 verfaßten Schriften "Über den Begriff der Wissenschaftslehre" und "Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre".Die Abschlußvorlesung "Über die Würde des Menschen" hielt Fichte am 25. oder 26. April 1794. Sie wurde in den folgenden Tagen gedruckt. Anschließend reiste Fichte nach Jena, um seine dortige Professur anzutreten.
Wir haben den menschlichen Geist vollständig ausgemessen; – wir haben ein Fundament gelegt, auf welches sich ein wissenschaftliches System, als getroffne Darstellung des ursprünglichen Systems im Menschen erbauen lasse. Wir tun zum Beschlusse einen kurzen Überblick auf das Ganze.
Die Philosophie lehrt uns alles im Ich aufsuchen. Erst durch das Ich kommt Ordnung und Harmonie in die tote formlose Masse. Allein vom Menschen aus verbreitet sich Regelmäßigkeit rund um ihn herum bis an die Grenze seiner Beobachtung – und wie er diese weiter vorrückt, wird Ordnung und Harmonie weiter vorge- rückt. Seine Beobachtung weist dem bis ins Unendliche Verschiedenen – jedem seinen Platz an, daß keines das andere verdränge; sie bringt Einheit in die unendliche Verschiedenheit. Durch sie halten sich die Weltkörper zusammen, und werden nur Ein organisierter Körper; durch sie drehen die Sonnen sich in ihren angewiesenen Bahnen. Durch das Ich steht die ungeheure Stufenfolge da von der Flechte bis zum Seraph; in ihm ist das System der ganzen Geisteswelt, und der Mensch erwartet mit Recht, daß das Gesetz, das er sich und ihr gibt, für sie gelten müsse; erwartet mit Recht die einstige allgemeine Anerkennung desselben. Im Ich liegt das sichere Unterpfand, das von ihm aus ins Unendliche Ordnung und Harmonie sich verbreiten werde, wo jetzt noch keine ist; daß mit der fortrückenden Kultur des Menschen zugleich die Kultur des Weltalls fortrücken werde. Alles, was jetzt noch unförmlich und ordnungslos ist, wird durch den Menschen in die schönste Ordnung sich auflösen, und was jetzt schon harmonisch ist, wird – nach bis jetzt unentwickelten Gesetzen – immer harmoni- scher werden. Der Mensch wird Ordnung in das Gewühl und einen Plan in die allgemeine Zerstörung hinein- bringen; durch ihn wird die Verwesung bilden und der Tod zu einem neuen herrlichen Leben rufen.
Das ist der Mensch, wenn wir ihn bloß als beobachtende Intelligenz ansehen; was ist er erst, wenn wir ihn als praktisch tätiges Vermögen denken!
Er legt nicht nur die notwendige Ordnung in die Dinge; er gibt ihnen auch diejenige, die er sich willkürlich wählte; da, wo er hintritt, erwacht die Natur; bei seinem Anblick bereitet sie sich zu, von ihm die neue schönere Schöpfung zu erhalten. Schon sein Körper ist das Vergeistigtste, was aus der ihn umgebenden Materie gebildet werden konnte; in seinem Dunstkreise wird die Luft sanfter, das Klima milder, und die Natur erheitert sich durch die Erwartung, von ihm in einen Wohnplatz und in eine Pflegerin lebender Wesen umgewandelt zu werden. Der Mensch gebietet der rohen Materie, sich nach seinem Ideal zu organisieren und ihm den Stoff zu liefern, dessen er bedarf. Ihm schießt das, was vorher kalt und tot war, in das nährende Korn, in die erquicken- de Frucht, in die belebende Traube herauf, und sie wird ihm in etwas anderes heraufschießen, sobald er ihr anderes gebieten wird. – Um ihn herum veredeln sich die Tiere, legen unter seinem gescheuten Auge ihre Wildheit ab und empfangen eine gesundere Nahrung aus der Hand ihres Gebieters, die sie ihm durch willigen Gehorsam vergüten.
Was mehr ist, um den Menschen herum veredeln sich die Seelen; je mehr einer Mensch ist, desto tiefer und ausgebreiteter wirkt er auf Menschen; und was den wahren Stempel der Menschlichkeit trägt, wird von der Menschheit nie verkannt; jedem reinen Ausflusse der Humanität schließt sich auf jeder menschliche Geist und jedes menschliche Herz. Um den höhern Menschen herum schließen die Menschen einen Kreis, in welchem derjenige sich dem Mittelpunkte am meisten nähert, der die größere Humanität hat. Ihre Geister streben und ringen, sich zu vereinigen und nur Einen Geist in mehreren Körpern zu bilden. Alle sind Ein Verstand und Ein Wille und stehen da als Mitarbeiter an dem großen einzig möglichen Plane der Menschheit. Der höhere Mensch reißt gewaltig sein Zeitalter auf eine höhere Stufe der Menschheit herauf; sie sieht zurück und erstaunt über die Kluft, die sie übersprang; der höhere Mensch reißt mit Riesenarmen, was er ergreifen kann, aus dem Jahrbuche des Menschengeschlechts heraus.
Brecht die Hütte von Leimen, in der er wohnt! Er ist seinem Dasein nach schlechthin unabhängig von allem, was außer ihm ist; er ist schlechthin durch sich selbst; und er hat schon in der Hütte von Leimen das Gefühl dieser Existenz, in den Momenten seiner Erhebung, wenn Zeit und Raum und alles, was nicht Er selbst ist, ihm schwinden; wenn sein Geist sich nicht gewaltsam von seinem Körper losreißt – und dann wieder freiwillig zur Verfolgung der Zwecke, die er durch ihn noch erst ausführen möchte, in denselben zurückkehrt.
Trennt die zwei letzten nachbarlichen Stäubchen, die ihn jetzt umgeben; er wird noch sein; und er wird sein, weil er es wollen wird. Er ist ewig, durch sich selbst und aus eigener Kraft.
Hindert, vereitelt seine Pläne! – Aufhalten könnt ihr sie: Aber was sind tausend und abermals tausend Jahre in dem Jahrbuche der Menschheit? – Was der leichte Morgentraum ist beim Erwachen. Er dauert fort, und er wirkt fort, und was euch verschwinden scheint, ist bloß eine Erweiterung seiner Sphäre: was euch Tod scheint, ist seine Reife für ein höheres Leben. Die Farben seiner Pläne und die äußeren Gestalten derselben können ihm verschwinden; sein Plan bleibt derselbe; und in jedem Momente seiner Existenz reißt er etwas Neues außer sich in seinen Kreis mit fort, und er wird fortfahren, an sich zu reißen, bis er alles in denselben verschlinge: bis alle Materie das Gepräge seiner Einwirkung trage und alle Geister mit seinem Geiste Einen Geist ausmachen.
Das ist der Mensch; das ist jeder, der sich sagen kann: Ich bin Mensch. Sollte er nicht eine heilige Ehrfurcht vor sich selbst tragen und schaudern und erbeben vor seiner eigenen Majestät! – Das ist jeder, der mir sagen kann: Ich bin. – Wo du auch wohnest, du, der du nur Menschenantlitz trägst; – ob du auch noch so nahe grenzend mit dem Tiere unter dem Stecken des Treibers Zuckerrohr pflanzest oder ob du an des Feuerlandes Küsten dich an der nicht durch dich entzündeten Flamme wärmst, bis sie verlischt, und bitter weinst, daß sie sich nicht selbst erhalten will – oder ob du mir der verworfenste, elendeste Bösewicht scheinest – du bist darum doch, was ich bin: denn du kannst mir sagen: Ich bin. Du bist darum doch mein Gesell und mein Bruder: Oh, ich stand einst gewiß da: – und du wirst einst gewiß – und dauere es Millionen und Millionen mal Millionen Jahre – was ist die Zeit? –, du wirst einst gewiß auf der Stufe stehen, auf der ich jetzt stehe: Und du wirst einst gewiß auf einer Stufe stehen, auf der ich auf dich und du auf mich wirken kannst. Auch du wirst einst in meinen Kreis mit hingerissen werden und mich in den deinigen mit hinreißen; auch dich werde ich einst als meinen Mitarbeiter an meinem großen Plane anerkennen. – Das ist mir, der ich Ich bin, jeder, der Ich ist. Sollte ich nicht beben vor der Majestät im Menschenbilde; und vor der Gottheit, die vielleicht im heimlichen Dunkel – aber die doch gewiß in dem Tempel, der dessen Gepräge trägt, wohnt.
Erd und Himmel und Zeit und Raum und alle Schranken der Sinnlichkeit schwinden mir bei diesem Gedanken; und das Individuum sollte mir nicht schwinden? – Ich führe Sie nicht zu demselben zurück.
Alle Individuen sind in der Einen großen Einheit des reinen Geistes eingeschlossen;* dies sei das letzte Wort, wodurch ich mich Ihrem Andenken empfehle; und das Andenken, zu dem ich mich Ihnen empfehle.
*) Selbst ohne mein System zu kennen, ist es unmöglich, diesen Gedanken für spinozistisch zu halten, wenn man nur wenigstens den Gang dieser Betrachtung im ganzen übersehen will. Die Einheit des reinen Geistes ist mit unerreichbares Ideal; letzter Zweck, der aber nie wirklich wird.
in Projekt Gutenberg
Nota. - Ein größerer Kontrast zum vorigen Eintrag ist kaum vorzustellen. 'Das Erste' ist hier der Mensch, zwar schon nicht mehr als bestimmtes Individuum, sondern als 'geistiges' Gattungswesen, aber auch ohne Eines oder Einen, der hinter ihm steht und schiebt und lenkt; und sei es die Vernunft selbst: Er ist schlechthin unabhängig von allem, was außer ihm ist; er ist schlechthin durch sich selbst. Vernunft wird gar nicht beim Namen genannt, aber beschrie- ben als das Werk der Menschen, die - und inwiefern sie - nach Einheit im Geist streben. Dieses Streben ist es, was er in den kommenden Ausarbeitungen der Wissenschaftslehre in specie Vernunft nennen wird.
Ihren Anfang nimmt sie in den wirklichen Menschen, nicht hinter ihrem Rücken, und ihr Ziel liegt vor ihr, als unerreichbares Ideal; letzter Zweck, der aber nie wirklich wird.
So viel zum Systematischen. Im Besondern fällt auf: Sein Ideal ist schöne Ordnung und Harmonie. Das sind, von transzendentalen Reflexionen unberührt, ästhetische Qualitäten, und wenn es einen Text gibt, in dem Fichte sich unbezweifelbar als Romantiker zeigt, so ist es dieser. Dass die Romantik sich jedoch zum Aufmarschfeld des Zwiespalts, des Schiefen und Schwindligen, kurz: des ästhetisch Modernen entwicklen sollte, ist gerade in diesem letzten Zweck schon angelegt.
JE
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen