Die Wissenschaftslehre beschreibt nicht, wie ein Mensch tatsächlich zu Bewusstsein kommt, sondern postuliert, welche Weise des bewusst-Seins als vernünftig gelten soll. Die Vorstellungswelt des Wahn- sinnigen ist, welche Beiwörter man ihm sonst wohl anheften mag, auch ein Bewusstsein. Die Wissen- schaftslehre entwirft nun ein Schema, und wenn einer so handelt, dass es im Sinne dieses Schemas ge- deutet werden kann, soll es vernünftig heißen.
Diese Postulat ist jedoch nicht aus freier Laune erwachsen. Es ist gewissermaßen 'aufgefunden'. Denn die Untersuchung nahm ihren Ausgang an einem, das wirklich ist: 'Es gibt' in der bürgerlichen Gesellschaft ein Normalbewusstsein, das sich selbst als vernünftig auffasst. Dieses wird analytisch (phänomenologisch) auf seine Voraussetzungen geprüft. Die aufgefundene Erste Voraussetzung, ohne die alles Weitere grundlos wäre, ist das Ich, das 'sich setzt, indem es sich ein(em) Nichtich ent- gegensetzt'.
Ob dieser Gründungsakt wissentlich geschah oder nicht, spielt keine Rolle, denn 'mit Bewusstsein' konnte er doch wohl nicht geschehen, da er dem Bewusstsein ja zu Grunde liegen soll – sofern es ver- nünftig wurde.
In der Philosophie kommen Fakten nicht vor, sagt Fichte. Das Schema stellt, was geschehen soll, nicht als historischen Vorgang, sondern als System dar: Doch im System ist die Zeit untergegangen. Das Sys- tem kann man nur zeitlos, ideal, 'logisch' darstellen. Das System ist 'auf einmal und mit einem Schlag' da.
"Aber das, was nicht im Gebiete der Erfahrung liegt, hat keine Wirklichkeit im eigentlichen Sinn, es darf nicht in Raum und Zeit betrachtet werden, es muss betrachtet werden als etwas notwendig Denk- bares, als etwas Ideales."*
Seine Rekonstruktion kann nicht historisch geschehen, sondern nur genetisch. Auch nicht logisch im Sinne von diskursiv: Da müsste auch ein Schritt auf den anderen folgen, und die Schritte sind im dis- kursiven Verfahren als Begriffe vorgegeben – deren Entstehen soll aber erst erklärt werden. Auf Begrif- fe muss also noch verzichtet werden, man muss dem Vorstellen selbst zuschauen. Aber eben nicht im (historischen) Individuum, sondern im zeitlosen Modell.
Wann und wo sollte es in der Geschichte denn passiert sein, dass ein 'Ich sich selbst setzt, indem es sich ein(em) Nichtich entgegensetzt'? In der Geschichte nie, aber heute jederzeit immer und immer wieder. Es ist ein Erklärungsgrund und kein reell (nach Raum und Zeit) identifizierbares Ereignis. Wenn es aber nicht als wirklich stattgefunden vorausgesetzt würde, ließe sich das Wissen (Vorstellung, Bewusstsein, Denken, Begriff...) nicht erklären. Alles, was historisch (empirisch) geschehen ist, muss im zeitlosen System irgendwo wieder vorkommen, wenigstens als Funktion – freilich nicht am selben Ort* und nicht unterm selben Namen. Und umgekehrt: Phantasiegebilde, denen in Raum und Zeit gar nichts entspricht, gehören nicht in die Transzen-dentalphilosophie.
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Indem sie also einen Kanon der Vernünftigkeit aufstellt, definiert sie zugleich die Welt als das Feld ihrer Geltung: Sie ist keine begrenzte Gegend, sondern ein Horizont, der so weit reicht, wie die mögliche Wirksamkeit vernünf-tiger Wesen. Das ist nicht 'überall, wo Menschen sind'. Denn da, wo Vernünf- tigkeit nicht hin reicht, ist nicht mehr Welt, jedenfalls nicht unsere Welt, in der wir als Vernünftige zusam- men wirken; sondern immer nur je 'meine' Welt, wo Menschen wohl auch sind, aber wo die Vernunft nichts mehr zu sagen hat.
*) WL nova methodo, S. 23
**) Orte gibt es im System so wenig wie die Zeit. Sie erscheinen erst in der diskursiven Darstellung, die die Vorstellungen nach einander ordnet, weil sie sie durch einander nicht veranschaulichen kann.
27. 12. 15
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