Freitag, 30. November 2018

Das Ich wird für-sich-selbst durch Veränderung seines Zustands.

Murashov, Frierender

Im vorigen Paragraphen ist die Anschauung als notwendig und die Gründe dieser Notwendigkeit aufgezeigt. Aber im Anschauen verliert sich das Ich im Objekte, wie ist also noch ein //88// Begriff von einem freien Han- delns möglich, oder wie ist das Ich für sich selbst möglich? Wir müssen also jetzt noch das Ich aufsuchen oder zeigen, wie die Anschauung auf das Ich muss bezogen werden, wie das Ich für sich da sein müsse.

1) Es gibt nach dem Obigen ein Mannigfaltiges des Gefühls, aber ein Gefühl ist eine bestimmte Beschränktheit, und es ist unmöglich, dass das Ich sich in derselben Rücksich als beschränkt fühle und sich auch nicht auf diese Weise beschränkt fühle; was allerdings sein würde, wenn in derselben Rücksicht ein Mannigfaltiges des Gefühls sein sollte. Das Ich wäre auf diese Art beschränkt und nicht beschränkt, das Ich wäre sich selbst entgegenge- setzt; es bliebe keine Realität (Stoffheit). Sonach lässt sich ein solches Mannigfaltiges nur denken durch Verän- derung des Zustands des Fühlenden. (Das Mannigfaltige darf kein simultanes, sondern muss ein sukzessives sein; dies wird erst deutlich, wenn die Zeit deduziert ist.)

Wie soll denn nun eine Veränderung der Zustands des Fühlenden möglich sein? Unsere bisherige Ansicht ist: Das Ich ist ursprünglich in gewisse Schranken eingeschlossen; daraus geht für das Ich hervor eine Welt. Das Ich kann mit absoluter Freiheit diese Schranken erweitern, dadurch verändert es seinen Zustand und damit auch seine Welt. Aber die Möglichkeit dieser Selbstbestimmung durch Freiheit ist noch nicht deduziert. Folglich kann hier die Rede davon noch nicht sein.

Verändert sich etwa der Zustand unserer Beschränktheit und die ihm korrespondierende Welt von selbst? Dies ist nicht zu erwarten, denn es gehört zum Charakter der Welt, dass sie nur ist, nicht wird, sie fängt keine Hand- lung an. Die Sache müsste so sein, dass schon in unserer Natur, in unserer Bestimmtheit ein Prinzip der Verän- derung läge, so wie dies bei den Plflanzen und Tieren der Fall ist. - Tiefer unten wird sich so etwas finden. - Es verhalte sich wie es wolle, so darf ich hier diesem Postulate der Veränderung nur hypothetische Gültigkeit zu- schreiben. Sollte sich aber zeigen, dass nur allein durch eine solche Annahme, und ohne sie nicht, das Bewusst- sein erklärt werden könnte, dann hätte ich das Recht, sie kategorisch zu postulieren.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 87f.


 
Nota I. - 'Zum Charakter der Welt gehört, dass sie nur ist, nicht wird': Das wäre absurd, wenn von der Welt die Rede wäre, 'wie sie wirklich ist'. Hier ist aber die Rede davon, wie sie erstmals in der Vorstellung vorkommt, und zwar nicht die Welt in concreto, sondern eine 'Welt überhaupt'. Die setzt sich das Bewusstsein allerdings als schlechthin daseiend voraus.

Nota II. - [Gewiss wird sich das Ich seiner schließlich bewusst werden, indem es sich in seiner Vorstellung sich selbst 'entgegensetzt'. Aber wie kommt es dazu? Durch die Veränderlichkeit seines Zustands im Gefühl, die ist Bedingung.]

Nota III. - Grund allen Bewusstseins ist das Gefühl, das sich ergibt aus dem Widerstand der - so erst aufgefun- denen - Gegenstände gegen die originäre Tätigkeit des Ich. Der formale Logiker wird sagen: Also waren die Gegenstände vorher da. Der genetische Logiker entgegnet: Von einem An-sich weiß ich nichts, ich rede vom Werden der Vorstellung. Das Gefühl selbst kann noch nicht vorgestellt werden, denn solange es sich gleich bleibt, wird es nicht bemerkt. Es ist der Übergang des einen Gefühls in ein anderes, der bemerkt und angeschaut und schließlich zum Bild wird. (Von da an ist eine Unterscheidung der Mannigfaltigen durch Reflexion und Abstraktion allerdings möglich.)

Und zwar ist nicht die Rede von den einzelnen Sinnesreizen, die nach- und miteinander auf den Organismus einprasseln. Die wären als dieses oder jenes auch nicht zu unterscheiden, sondern nur ein einziger ungestalter Strom. Es sind die Gesamtzustände, zu denen der Organismus die Mannigfaltigkeit der Sinnesreize bildet, die als Ganze unterschieden und gefühlt werden.

Ein heikler Punkt: Gefühl ist ein Zustand des Leidens, des Unfreiseins. Es ist ein Zustand, wo das Ich tätig sein will, aber nicht kann. Wie das bei Gegenständen in Raum und Zeit zu verstehen ist, liegt auf der Hand. Doch in den jeweiligen Gesamtzustand des Organismus gehen auch die Widerstände ein, auf die seine intellektive Tätig- keit stößt - der ominöse Denkzwang. Phänomenal ist es offenkundig, dass in meine momentane Gemütsver- fassung physische Gefühle und sinnhafte Vorstellungen gleichermaßen eingehen. Doch wie eine Synthesis mög- lich ist, erklärt Fichte nicht. Es ist auch nicht wirklich Sache der Transzendentalphilosophie, einen solchen Nachweis zu erbringen. Doch die Bedingungen der Möglichkeit sollte sie schon angeben können.

Das Problem im engeren Verständnis ist: Vom Gefühl des Denkzwangs kann ich abstrahieren - vielleicht nicht aus Freiheit, aber im Wahn; vom physischen Gefühl kann ich nicht absehen, höchstens mich - durch viel Willen - ablenken. Jedoch: Der Wahnsinnige sieht vom Denkzwang nicht ab, sondern der Wahn ist eben, dass er ihn gar nicht empfindet. Aber so beißt sich die Katze in den Schwanz.
JE

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