Freitag, 25. August 2017

Vom Wege abgekommen.


sigrid rossmann  / pixelio.de

Nicht nur meine ich wirklich, dass Fichte konsequenterweise die notwendige Idee des Wahren und Absoluten als eine ästhetische Fiktion hätte erkennen sollen. Ich meine sogar, dass er sich bereits auf diesen Weg begeben hatte und dass es der Atheismusstreit war, der ihn stattdessen auf den Abweg der spekulativen Metaphysik ver- führt hat.

Jacobi hatte Recht, ihn an seine Herkunft aus dem Spinozismus zu erinnern: Der Gedanke an die Vernunft als deus sive natura mag in seinem Hinterkopf ebenso gegeistert haben wie in Kants 'Ding-an-sich' die Leibniz'schen Monaden. Jener hatte lange geschwankt, ob er das Ding an sich mehr als ein Reale oder doch mehr als bloßes Noumenon auffassen sollte, und erst im Opus postumum scheint er sich ganz vom Realismus zu lösen. Bei Fichte dagegen standen praktischer Aktivismus und logischer Aktualismus ganz im Vordergrund, aller Gedanke an ein Sein-an-Sich war ihm ein Gräuel. Aber das war vor dem 18. Brumaire.* Das war vor dem Ende der Revolution und vor dem Ende der Jenaer Romantik. 

Und vor dem Atheismusstreit.

Im Streit um den Aufsatz Über Geist und Buschstab in der Philosophie, in dem er das Ästhetische als eine Art Vor- raum der Vernunft darstellte und den Schiller nicht in seine Zeitschrift Horen aufgenommen hatte, schrieb Fichte, wie weit er den Begriff des Ästhetischen fasse, könne jener sich nicht einmal vorstellen.** "Nur der Sinn für das Ästhetische ist es, der in unserem Innern uns den ersten festen Standpunkt gibt", hatte es dort gehei- ßen.*** Noch in der Sittenlehre° schreibt er: "Ästhetischer Sinn ist nicht Tugend: denn das Sittengesetz fordert Selbständigkeit nach Begriffen, der erstere aber kommt ohne alle Begriffe von selbst. Aber er ist Vorbereitung zur Tugend, er bereitet ihr den Boden, und wenn die Moralität eintritt, so findet sie die halbe Arbeit, die Befrei- ung aus den Banden der Sinnlichkeit, schon vollendet. Ästhetische Bildung hat sonach eine höchst wirksame Beziehung auf die Beförderung des Vernunftzwecks."

Das ist bloß eine empirische, "historische" Beschreibung, keine Transzendentalphilosophie. Aber wir wissen heute,°° dass Fichte immer wieder - bis zum Atheismusstreit! - den Plan fasste, seine Gedanken zu einer systema- tischen Ästhetik auszubauen, und wohl nur durch dringendere Geschäfte davon abgehalten wurde.

Bis zum Atheismusstreit, wohlbemerkt. In den Rückerinnerungen taucht dann der bizarre Einfall eines "intellektu- ellen Gefühls" auf, den er unter Jacobis Einfluss gleich wieder fallen lässt. Doch hätte er den Gedanken ausgear- beitet - ich zweifle nicht daran, dass er jenes 'intellektuelle Gefühl' als ein ästhetisches Urteil hätte identifizieren müssen.

*) am 9. 11. 1799 
**) Fichte an Schiller, 27. 7. 1795; in: Fichte, Briefe, Bln. (O) 1986, S. 154, 
desgl. in Von den Pflichten der Gelehrten, Hamburg 1971, S. XXXVII
***) Über Geist und Buchstab in der Philosophie, SW VII, S. 291
°) System der Sittenlehre [1798] SW IV, S. 354f.
°°) Giorgia Cecchinato, Fichte und das Problem einer Ästhetik, Würzburg 2009


15. 5. 2014

Dienstag, 22. August 2017

Geist und Sinnlichkeit.



Was es auch sein möge, das den letzten Grund einer Vorstellung enthält, so ist wenigstens so viel klar, dass es nicht selbst eine Vorstellung sei und dass eine Umwandlung damit vorgehen müsste, ehe es fähig ist, in unserm Bewusstsein als Stoff einer Vorstellung angetroffen zu werden. / Das Vermögen dieser Umwandlung ist die Ein- bildungskraft. – Sie ist Bildnerin. Ich rede nicht von ihr, insofern sie ehemals gehabte Vorstellungen wieder her- vorruft, verbindet, ordnet, sondern indem sie überhaupt etwas erst zu einer Vorstellung macht. – Sie ist insofern Schöpferin des eigenen Bewusstseins. Ihrer, in dieser Funk//tion , ist man sich nicht bewusst, gerade weil vor dieser Funktion vorher gar kein Bewusstsein ist. Die schaffende Einbildungskraft. Sie ist Geist. 

Resultat. Dieses Bild müssen wir selbst bilden.
 

Nun muss im Ich das legen, was sie bildet. 

(Wo ist der eigentliche philosophische Beweis dafür, dass die Einbildungskraft etwas im Ich zum Gegenstande haben müsse? - - Sie ist tätig - aber nicht auf das Ich, sondern auf ein Nicht-Ich. - Das Ich ist schon, wenigstens virtualiter, hevorgebracht, denn sowie sie ihr Produkt vorhält, hält sie es dem Ich vor. Das Ich wird aber nur durch Unterscheidung von einem Nicht-Ich hervorgebracht. Mithin muss ein solches zu Unterscheidendes vorhanden sein: und zwar im Ich vorhanden sein. -

Wie und warum im Ich? - Es kann nur durch ein Vermögen des Ich vom Ich unterschieden werden; mithin muss es Gegenstand dieses unterscheidenden Vermögens sein - also schon in diesem Vermögen liegen. - Eine Qualität, eine prädikative, des Ich. 

Die (schaffende) Einbildungskraft selbst ist Vermögen des Ich. (Könnte sie nicht das einzige Grundvermögen des Ich sein? - Nein, darum nicht, weil das Produkt derselben vom Ich unterschieden wird: also auch nach ihrer Funktion noch ein Ich da ist.) Also es muss einen höhern Grund ihres Schaffens im Ich geben. - (Heißt im Grund das gleiche als: Es muss nocht etwas übrig bleiben, was Substrat des Ich ist, auf welches das Produkt der Einbil- dungskraft bezogen wird, und das ist offenbar das Fühlende, und im Gefühl liegt mithin der Urstoff des [sic], was die Einbildungskraft bildet. ___________________________________________________________________________________
Von den Pflichten der Gelehrten, Hamburg 1971 [Meiner], S. 126f.; desgl. in Gesamtausgabe II/3, S. 297f.  

 
Nota. - Geist ist toto genere Einbildungskraft. Aber das Ich ist nicht Geist (vom empirischen Individuum ganz zu schweigen). Wenn die Einbildungskraft nicht etwas vorfindet, das sie dem Ich ein/bilden kann, ist sie arbeitslos. Nicht das, was sie vorfindet, bildet die Einbildungskraft, sondern das, was sie vorgefunden hat: was es ist, das es bedeutet

Vorgefunden hat sie das krude Sinnesdatum: Gefühl. Das ist der Stoff, an dem die Einbildungskraft arbeitet. Er ist, auch ohne Einbildungskraft; er ist lediglich nicht dieses oder jenes.

*

So apodiktisch wie an dieser Stelle hat es Fichte meines Wissens nie wieder ausgesprochen. Natürlich: Denn es ist ein Ergebnis des Systems, das er doch erst noch auszuarbeiten hatte. Und wenn er es auch je fertig ausgearbeitet hätte: Eine "feste Terminologie" ist der Wissenschaftslehre fremd, weil sie nicht erlernt, sondern nur selbstgedacht werden kann. Für didaktische Zusammenfassungen dieser Art gibt es gar keine Berechtigung.

Daher kommt die hier wiedergebene Stelle auch nirgends in seinen Veröffentlichungen, aber auch - nicht in seinen mündlichen Vorträgen vor! Sie stammt vielmehr aus seinen eigenen Aufzeichnungen, die er zur Vorberei- tung seiner öffentlichen Vorträge Über Geist und Buchstaben in der Philosophie angefertigt hat, die an die Pflichten der Gelehrten anschlossen. In diesen Vorträgen drückt er sich weniger deutlich aus.


Dass er sie in dieser Form nie wiederholt hat, hat seinen guten philosophische Grund. Wer aber - wie ich - historisch deutlich machen will, was Fichte wirklich gemeint hat, darf sie in der Darstellung ganz nach vorn setzen.
JE