Samstag, 31. Mai 2014

Glauben durch Abstraktion.


Pirtek

Das gewöhnlichste und in den menschlichen Denkgesetzen seinen guten Grund habende Aufsteigen durch Abstraktion zu der einzigen Formel, in deren Besitz man nur durch Vollendung der Abstraktion kommt, ist dieses.

Die Willensbestimmung ist stets das Gegenwärtige, und sie ist unsre Sache. Es wird für die Möglichkeit ihrer selbst etwas vorausgesetzt, es wird in ihr etwas postuliert: Es wird mit ihr zugleich notwendig gedacht etwas schon geschehnes Vergangnes, und etwas erfolgen werdendes Zukünftiges.

Es wird in ihr vorausgesetzt: Nicht, daß ich überhaupt Pflicht habe und nach ihr meinen Willen bestimmen soll, denn dies ist das Resultat der Vernunft an sich, der reinen Vernunft, sondern daß auch nun gerade dieses Bestimmte meine Pflicht ist, ist Resultat meiner Lage in der gesamten Vernunftwelt. Wäre ich überhaupt nicht da oder wäre ich – welches der Strenge nach freilich nichts gesagt ist – ein anderer, oder wäre eine andere Gemein[d]e vernünftiger Wesen, so träte eine solche Pflicht gar nicht ein; ebenso wie eine gewisse Bestimmung der Natur nicht ein-/träte, wenn nicht dieses Individuum auch so da wäre. Ich soll schlechthin nach Maßgabe meines Gewissens in dieser Lage handeln. Ich kann es nicht, ohne anzunehmen, daß gerade diese Lage auf den Vernunftzweck berechnet [und] Resultat ist jenes Prinzips. Die dem freien Handeln <jedes Individuums> vorauszusetzende Vernunftwelt ist geordnet, hervorgebracht durch jenes Prinzip: populär, sie ist erschaffen, erhalten, regiert durch dasselbe.

Es wird in derselben etwas Zukünftiges postuliert. – Kausalität unsrer Willensbestimmung für Beförderung des Vernunftzwecks; Erhaltung und gleichmäßig fortgesetzte Entwicklung aller vernünftigen Individuen, stete Fortschreitung aller zum Endzwecke der Vernunft. – Erhaltung, ewige Fortdauer, Regierung der Schicksale endlicher Wesen zu ihrer Beseeligung, d. h. zu ihrer Befreiung durch reine Moralität. 

/ Man sieht, daß hier nur Akte, nur Begebenheiten, nur etwas Fortfließendes, kein Sein und Bestehen gedacht wird, ein Schaffen, Erhalten, Regieren, keineswegs ein Schöpfer, Erhalter, Regierer. Kurz, es ist so: es läßt sich darauf mit der vollsten Sicherheit rechnen; auf diesem Punkte steht die Überzeugung, und aus ihm herauszugehen ist, um der Sicherheit und Gewißheit willen, nicht der mindeste Grund.

Das Glaubensbekenntnis heißt nun: Ich und alle vernünftigen Wesen und unsre Verhältnisse zu einander, in wiefern wir uns unterscheiden, und so weit nur erhebt sich der gemeine Verstand, sind durch ein freies, intelligentes Prinzip erschaffen, werden durch dasselbe erhalten, [und] wenn wir tun, was uns zukommt, um zu unsrem Endzwecke zu gelangen, geschieht durch jenes Prinzip alles übrige, was von uns nicht abhängt. Ohne allen Zweifel. Ohne unser weiteres Zutun. 

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Rückerinnerungen, Antworten, Fragen. [S.167ff.]


 

Freitag, 30. Mai 2014

Philosophie ist keine Weisheitsschule, sondern Reinigungsmittel..


Manfred Janzen-Habtz, pixelio.de

Was soll denn nun eine Philosophie, und wozu bedarf es der spitzfindigen Zurüstung derselben, wenn sie gesteht, dass sie für das Leben nichts andres sagen, zu demselben [sich] nicht einmal als Instrument bilden kann; daß sie nur Wissenschaftslehre, keineswegs Weisheitsschule ist?
 
Ich erinnere auch hier an die oft gegebene Antwort. Ihr Hauptnutzen ist negativ und kritisch. Es mangelt in dem, was nun gewöhnlich für Lebensweisheit gehalten wird, nicht daran, daß sie zu wenig, sondern daran, daß sie zu viel enthält. Man hat eben die erräsonierten Sätze der oben beschriebenen erschaffenden Metaphysik hereingetragen – und diese sollen [wieder heraus]gesondert werden. Sie hat die Bestimmung, die gemeine Erkenntnis von aller fremden Zutat zu reinigen.

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Rückerinnerungen, Antworten, Fragen. [S. 122]

Donnerstag, 29. Mai 2014

Die intelligible Welt ist nur logisch, nicht reell.

Max Ernst

Ein Sein bedeutet immer unmittelbar ein Objekt des Denkens, ein Gedachtes. Nun kommt ihm entweder auch eine Existenz, ein Bestehen und Dauern außer dem Denken zu, in der sinnlichen Wahrnehmung: dann ist ein reelles Sein bezeichnet und man kann von dem Gegenstande aussagen: Er ist. 

Oder es kommt ihm außer dem Denken kein anderes Sein zu: Dann ist die Bedeutung des Seins eine bloß logische. Man kann nicht sagen: das Objekt ist, sondern nur: es ist dies oder jenes. Das Wort ‚ist’ ist dann nur logische Kopula. [...] Das Sein wird dann lediglich dadurch erzeugt, daß das Mannigfaltige der Prädikate in einer Einheit des logischen Subjekts durch das Denken fixiert wird. .../...

So verhält es sich mit dem Gebrauche des Wortes Welt. In der reellen Bedeutung ist es ein geschloßnes Ganzes von daseienden Objekten, die in Wechselbestimmung ihres Seins stehen; wo jedes ist, wie es ist, weil alle andern sind, was sie sind, und umgekehrt: und wo man bei vollkommner Kenntnis des Weltgesetzes aus der Natur eines jeden die aller übrigen unweigerlich würde erraten können, und auf sie schließen. 

Von vernünftigen Wesen gebraucht, bedeutet es gleichfalls einen Einfluß aller auf jeden und [eines jeden] auf alle; dessen Art und Weise aber nicht begreiflich ist und eben deswegen auch nicht erraten werden kann; [...] das aber schlechthin gesetzt wird und nur durch diesen Begriff bezeichnet werden kann: also – eben durch den Versuch des Begreifens entsteht, also nur logisch, nicht reell ist. 

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Rückerinnerungen, Antworten, Fragen. [S. 163; 165]
 



Nota. 

In den Rückerinnerungen ist er zu einer dogmatischen Wendung noch nicht bereit. Zwar nimmt er auch hier wieder die Idee auf, der 'Endzweck der Vernunft' müsse als zu einem zukünftigen Zeitpunkt realisiert gedacht werden. Aber noch zieht er daraus keinen theoretischen Schluss, er sucht vielmehr beim "intellktuellen Gefühl" Halt. Erst nach Jacobis Brief macht er in der Bestimmung des Menschen die 'intelligible Welt' zur reellen Grundlage - einem 'Dauernden' -  des Glaubens.
JE



Mittwoch, 28. Mai 2014

Ich muss etwas Dauerndes annehmen.



Ich kann – dies liegt in meinem Denken – von dem einen Prädikate zu dem andern nicht fortgehn, sie nicht zueinander zählen und sammeln, ohne etwas Daurendes, welchem diese Prädikate insgesamt zukommen, voraus zu setzen; es eben gerade durch dieses Denken zu erzeugen: ob ich [es] gleich, eben weil ich es dem Zusammenhange und den Gesetzen des Denkens nach mit Notwendigkeit erzeuge, nicht für mein Produkt ansehe. 

Das in der Mannigfaltigkeit und Entgegengesetztheit der Prädikate fortdauernde Denken ist selbst das Fortdauernde und Bestehende. Es sind eigentlich in diesem Akte zwei entgegengesetzte Bestimmungen meines Denkens, die durch den ganzen Akt fortdauern, neben einander liegen, auf einander sich beziehen, nur durch und vermittelst eins des andern möglich sind und nur beide vereint dieses Denken und einen Denkakt überhaupt ausmachen; ...

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Rückerinnerungen, Antworten, Fragen. [S. 170]



Nota. 

'Ich muss', wenn ich von einem Urteil zum nächsten übergehe, einen dauernden Urteilenden annehmen; ein Ich. Und wenn Ich ein Urteil ans andere knüpft und dabei derselbe bleiben soll, muss er annehmen, dass die Gründe für sein Urteilen die einzelnen Urteilsakte überdauern. Das ist eine Annahme, die ich voraussetze, sobald ich ans Urteilen gehe; ob ich mir dessen nun bewusst bin oder nicht.
JE

Dienstag, 27. Mai 2014

Die Pflicht gebietet immer konkret.


 
Dem wirklichen Menschen im Leben (und wie sich versteht, auch dem, der selbst Philosophie treibt, inwiefern er wirklich handelt) kommt das Pflichtgebot nie überhaupt, sondern immer nur eine bestimmte Willensbestimmung in concreto als Pflicht vor. Inwiefern er nun wirklich seinen Willen so bestimmt, wie sein Gewissen es in diesem Falle fordert, so handelt er moralisch.

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Rückerinnerungen, Antworten, Fragen. [S. 157]



Montag, 26. Mai 2014

Auf Biegen und Brechen: die Mythe vom Normalvolk.

Gundestrup-Platte

Ferner, zu den inneren Bestimmungen der Menschheit gehört es, dass sie in diesem ihrem ersten Erdenleben mit Freiheit zum Ausdrucke der Vernunft sich erbaue. Aber zuvörderst: aus nichts wird nichts, und die Vernunftlosigkeit kann nie zur Vernunft kommen; wenigstens in Einem Puncte seines Daseyns daher muss das Menschengeschlecht in seiner allerältesten Gestalt rein vernünftig gewesen seyn, ohne alle Anstrengung oder Freiheit. Wenigstens in Einem Puncte seines Daseyns, sage ich; denn der eigentliche Zweck seines Daseyns ist doch nicht das Vernünftigseyn, sondern das Vernünftigwerden durch Freiheit, und das erstere ist nur das Mittel und die unerlassliche Bedingung des letzteren; wir sind daher zu keinem weitergehenden Schlusse berechtigt, als zu dem, dass der Zustand der absoluten Vernünftigkeit nur irgendwo vorhanden gewesen seyn müsse.

Wir werden von diesem Schlusse ausgetrieben zur Annahme eines ursprünglichen Normalvolkes, das durch sein blosses Daseyn, ohne alle Wissenschaft oder Kunst, sich im Zustande der vollkommenen Vernunftcultur befunden habe. Nichts aber verhindert zugleich anzunehmen, dass zu derselben Zeit über die ganze Erde zerstreut scheue und rohe erdgeborene Wilde, ohne alle Bildung, ausser der dürftigen, für die Möglichkeit der Erhaltung ihrer sinnlichen Existenz, gelebt haben; denn der Zweck des menschlichen Daseyns ist nur: das sich Bilden zur Vernunft, und dieses kann an diesen erdgeborenen Wilden gar füglich von jenem Normalvolke aus vollbracht werden.

Diesem zufolge wolle keine Geschichte weder die Entstehung der Cultur überhaupt, noch die Bevölkerung der verschiedenen Erdstriche erklären! – An den mühsamen Hypothesen, welche besonders über den letzteren Punct in allen Reisebeschreibungen aufgehäuft sind, ist unseres Erachtens Mühe und /  Arbeit verloren. Vor nichts aber hüte – sowohl die Geschichte, als eine gewisse Halbphilosophie – sich mehr, als vor der völlig unvernünftigen und allemal vergeblichen Mühe, die Unvernunft durch allmählige Verringerung ihres Grades zur Vernunft hinaufzusteigern; und, wenn man ihnen nur die hinlängliche Reihe von Jahrtausenden giebt, von einem Orang-Outang zuletzt einen Leibnitz oder Kant abstammen zu lassen!

Die Geschichtserzählung hängt sich nur an das Neue, worüber sich einmal einer gewundert; an das gegen vorhergehendes und nachfolgendes, Abstechende. Darum gab es im Normalvolke, und es giebt von ihm keine Geschichtserzählung. Unter der Leitung ihres Instinctes floss ihnen ein Tag ab wie der andere, und Ein individuelles Leben wie jedes andere. Alles wuchs von selber in Ordnung und Sitte hinein; und es konnte da nicht einmal eine Wissenschaft geben oder eine Kunst, – ausser der Religion, die allein ihre Tage verschönte und dem Einförmigen eine Beziehung gab auf das Ewige. Ebensowenig konnte es eine Geschichtserzählung gellen unter den erdgeborenen Wilden; denn auch ihnen verfloss ein Tag wie der andere; nur dadurch unterschieden, dass sie an diesem Nahrung in Fülle fanden, an dem anderen leer ausgingen, niederfallend am ersten vor Uebersättigung, wie am zweiten vor Entkräftung, um wiederum zum Kreislaufe, der zu nichts führte, zu erwachen.

Blieben die Sachen in dieser Verfassung, und die absolute, sich selbst nicht für Cultur, sondern für Natur haltende Cultur, sowie die absolute Uncultur voneinander geschieden: so konnte es theils zu keiner Geschichte kommen. theils, was mehr ist, wurde der Zweck des Daseyns des Menschengeschlechtes nicht erreicht. Das Normalvolk musste daher durch irgend ein Ereigniss aus seinem Wohnplatze vertrieben und derselbe ihm verschlossen werden; und es musste zerstreut werden über die Sitze der Uncultur. Nun erst konnte beginnen der Process der freien Entwickelung des Menschengeschlechtes und die, das Unerwartete und neue aufzeichnende Geschichte, die jenen Process begleitet: denn erst jetzt wurden die zerstreuten Abkömmlinge des Normalvolkes bewundernd inne, dass nicht alles so seyn müsse, wie bei ihnen, sondern dass es ganz anders seyn könne, / weil es eben anders sich fand; und die Erdgeborenen, nachdem sie zur Besonnenheit gekommen waren, bekamen noch viel mehr Wunderbares zum Aufzeichnen. Erst in diesem Conflicte der Cultur und der Rohheit entwickelten sich – ausser der Religion, die so alt ist als die Welt, und von dem Daseyn der Welt unabtrennlich, – die Keime aller Ideen und aller Wissenschaften, als der Kräfte und Mittel um die Rohheit zu Cultur zu führen.

Alles soeben aufgezählte wird durch blosse Existenz einer Geschichte vorausgesetzt; weit entfernt, dass diese über ihre eigene Geburtsstunde sich noch eine Stimme anmaassen dürfte. Schlüsse aus dem factischen Zustande, bei welchem sie anhebt, auf den vorhergegangenen; besonders Schlüsse aus den factisch sich vorfindenden, und insofern selbst zu einem Factum werdenden Mythen, werden, besonders wenn sie der Logik gemäss sind, mit allem Danke aufgenommen werden: nur wisse man, dass es Schlüsse sind keinesweges aber Geschichte, und scheuche uns, falls wir etwa die Schlussform näher untersuchen, nicht abermals mit dem Schreckworte: Factum, zurück. Dies sey die erste beiläufige Bemerkung hierbei, und die zweite folgende: Jedem, der eine Uebersicht hat über das Ganze der Geschichte, – welche überhaupt seltener ist, als die Kenntniss einzelner Curiosen, – und der besonders das Allgemeine und immer sich Gleichbleibende in ihr erfasst hat, dürfte hier ein Licht aufgehen über die wichtigsten Probleme in der Geschichte, z.B.: wie die an Farbe und Körperbau so verschiedenen Racen des Menschengeschlechtes möglich seyen; warum zu aller Zeit, bis auf den heutigen Tag, die Cultur immer nur durch fremde Ankömmlinge verbreitet worden, welche mehr oder minder wilde Urbewohner der Länder vorfinden; woher die Ungleichheit unter den Menschen entstanden, welche wir allenthalben, wo irgend eine Geschichte beginnt, antreffen u. dergl. mehr.

Alles aufgestellte, sage ich, musste seyn, wenn ein Menschengeschlecht seyn sollte; das letztere aber musste schlechthin seyn, mithin musste auch jenes seyn: – so weit reicht die Philosophie. / 

Das Daseyn dieser Mythe vor aller anderen Geschichte vorher ist das erste Factum der Geschichte und ihr eigentlicher Anfang, der ebendarum sich nicht selber aus einem früheren Factum erklären kann: der Inhalt derselben ist nicht Geschichte, sondern Philosophem; welches keinen weiter bindet, als inwiefern es durch sein eigenes Philosophiren bestätigt wird.

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Die Grundzüge des gegewärtigen Zeitalters, SW VII, S. 133ff.; 138 



Nota.

Ist der Damm einmal gebrochen, ist erst das Konstruieren aus dogmatischen Prämissen wieder erlaubt, dann gibt es für die Spekulation kein Maß, und sie kann ungeniert Blasen schlagen. Ja, wenn die Vernunft eine ausgemachte Sache sein soll und kein problematisches Projekt, dann lässt sich die Frage, wo sie herkam, nicht umgehen, denn "aus nichts wird nichts". Und wenn die Mythe - so nennt er sie selbst - vom "Normalvolk" auch noch so aus den Fingern gesogen scheint: Es "muss" so gewesen sein! Wenn die Vernunft nicht geworden ist, muss sie fix und fertig dagewesen sein, und zwar irgendwo und irgendwann

Dass damit das Mysterium noch lange nicht enthüllt wäre, muss "den Philosophen" nicht beirren. Er hat seine Arbeit getan und bewiesen, was zu beweisen war. Die Vernunft ist (d. h. war), doch die Menschen sollen vernünftig erst werden. Und nicht etwa: Vernunft wird sein, indem die Menschen sich der Vernünftigkeit befleißigen - letzteres wäre der Standpunkt eines nicht-dogmatischen, eines Kritischen und Transzendentalphilosophen.
JE


Sonntag, 25. Mai 2014

Geschichte a priori.


aus hunde-geheimnis

Die Geschichte dieser allmähligen Cultivirung des Menschengschlechtes als eigentliches Geschichte hat wiederum zwei, innigst verflossene Bestandtheile: einen a apriorischen, und einen a posteriori. Der a priori ist der in der ersten Rede in seinen allgemeinsten Grundzügen aufgestellte Weltplan, hindurchführend die Menschheit durch die damals charakterisirten fünf Epochen. Ohne alle historische Belehrung kann der Denker wissen, dass diese Epochen, die sie charakterisirt sind, einander folgen müssen; wie er denn wirklich auch diejenigen, die bis jetzt noch nicht factisch in die Historie eingetreten sind, im allgemeinen zu charakterisiren verstellt. 

Nun tritt diese Entwickelung des Menschengeschlechtes nicht überhaupt ein, wie der Philosoph in einem einzigen Ueberblicke es schildert; sondern sie tritt allmählig, gestört durch ihr fremde Kräfte, zu gewissen Zeiten, an gewissen Orten. unter gewissen besonderen Umständen ein. Alle diese besonderen Umgebungen gehen aus dem Begriffe jenes Weltplanes keinesweges hervor: sie sind das in ihm Unbegriffene, und, da er der einzige Begriff dafür ist das überhaupt Unbegriffene; und hier tritt ein die reine Empirie der Geschichte, ihr a posteriori: die eigentliche Geschichte in ihrer Form.

Der Philosoph, der als Philosoph sich mit der Geschichte befasst, geht jenem a priori fortlaufenden Faden des Weltplanes / nach, der ihm klar ist ohne alle Geschichte; und sein Gebrauch der Geschichte ist keinesweges, um durch sie etwas zu erweisen, da seine Sätze schon früher und unabhängig von aller Geschichte erwiesen sind: sondern dieser sein Gebrauch der Geschichte ist nur erläuternd, und in der Geschichte darlegend im lebendigen Leben, was auch ohne die Geschichte sich versteht. 

Er sucht daher den ganzen Strom der Zeit hindurch nur dasjenige auf, und beruft sich darauf, wo die Menschheit wirklich ihrem Zwecke entgegen sich fördert, liegen lassend und verschmähend alles andere; und indem er ja nicht erst historisch zu beweisen gedenkt, dass die Menschheit diesen Weg machen müsse, sondern es schon philosophisch erwiesen hat, und nur zur Erläuterung beifügt, bei welcher Gelegenheit sich dies auch in der Geschichte zeige.
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Die Grundzüge des gegewärtigen Zeitalters, SW VII, S. 139f.



Nota. - "Tant pis pour les faits" soll Hegel auf den Einwurf erwidert haben, dass seine Geschichtsphilosohie nicht mit den historischen Tatsachen übereinstimmte. Wie man sieht, hat er auch das bei Fichte geklaut. Das konnte er nur, weil Fichte in der Bestimmung des Menschen die dogmatische Wendung des "deutschen Idealismus" eingeleitet hatte, über der Hegel eine ganze Kathedrale errichten sollte. Geschichtsphilosophie steht heute in Verruf, und der erstreckt sich leider auch auf jeden rationellen Versuch, der tatsächlich stattgehabten Geschichte der Menschen im Rückblick einen Sinn abzugewinnen.
JE

Samstag, 24. Mai 2014

Weltplan und ewiges Leben


wollmaus

Es ist daher klar, dass der Philosoph, um auch nur ein einziges Zeitalter, und, falls er will, das seinige, richtig zu charakterisiren, die gesammte Zeit und alle ihre möglichen Epochen schlechthin a priori verstanden und innigst durchdrungen haben müsse. 

Dieses Verstehen der gesammten Zeit setzt, so wie alles philosophische Verstehen, wiederum einen Einheitsbegriff dieser Zeit voraus, einen Begriff einer vorher bestimmten, obschon allmählig sich entwickelnden Erfüllung dieser Zeit, in welcher jedes folgende Glied bedingt sey durch sein vorhergehendes; oder, um dies kürzer und auf die gewöhnliche Weise auszudrücken: es setzt voraus einen Weltplan, der in seiner Einheit sich klärlich begreifen, und aus welchem die Hauptepochen des menschlichen Erdenlebens sich vollständig ableiten, und in ihrem Ursprunge sowie in ihrem Zusammenhange untereinander sich deutlich einsehen lassen. Der erstere, jener Weltplan, ist der Einheitsbegriff des gesammten menschlichen Erdenlebens; die letzteren, die Hauptepochen dieses Lebens, sind die eben erwähnten Einheitsbegriffe jedes besonderen Zeitalters, aus denen wiederum desselben Phänomene abzuleiten sind. ... /

Erdenleben der Menschheit gilt uns hier für das gesammte Eine Leben, und die irdische Zeit für die gesammte Zeit; dies ist die Grenze, in welche die beabsichtigte Popularität unseres Vortrages uns einschränkt; indem von dem Ueberirdischen und Ewigen sich nicht gründlich reden lässt, und zugleich populär. Hier, sage ich, in diesen Vorträgen, gilt sie uns dafür; denn an sich und für den höheren Aufschwung der Speculation ist das menschliche Erdenleben und die irdische Zeit selbst nur eine nothwendige Epoche der Einen Zeit und des Einen ewigen Lebens; und dieses Erdenleben, sammt seinen Nebengliedern, lässt sich aus dem schon hienieden vollkommen möglichen Einheitsbegriffe des ewigen Lebens ableiten.  ...

Der Begriff eines Weltplans also wird unserer Untersuchung vorausgesetzt, den ich, aus dem angegebenen Grunde, hier keinesweges abzuleiten, sondern nur anzuzeigen habe. Ich sage daher, – und lege damit den Grundstein des aufzuführenden Gebäudes – ich sage: der Zweck des Erdenlebens der Menschheit ist der, dass sie in demselben alle ihre Verhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft einrichte.
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Die Grundzüge des gegewärtigen Zeitalters,
SW VII, S. 6, 7


Nota. - Wenn die Vernunft als ein festgeschriebenes Programm mit eigener Energie aufgefasst wird, kann es nicht ausbleiben, dass sie in der irdischen Geschichte der Menschen ihre endliche Gestalt annimmt. Dann sind es wohl die Menschen selber, die ihre Geschichte machen, aber, ohne ihr Wissen und womöglich gegen ihre Absicht, am Leitfaden eines unvordenklichen Plans. Mit der dogmatischen Auffassung der Vernunft sind dem Dogmatismus auf allen Gebieten Tür und Tor neu geöffnet, die ihm die Kritische Philosophie so sorgsam verschlossen hatte.
JE

Freitag, 23. Mai 2014

Der Vernunftdogmatiker.


Katharina Wieland Müller  / pixelio.de  

...der Geist ist einer, und was durch das Wesen der Vernunft gesetzt ist, ist in allen vernünftigen Individuen dasselbe.
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Über Geist und Buchstab in der Philosophie
[1794], SW VIII , S. 292


Nota.

Die dogmatische Wendung in der Bestimmung des Menschen ist Fichte nicht von Jacobi eingeflüstert worden. Sie war vorbereitet in seiner von Anbeginn schwankenden Haltung zur Idee der Vernunft: Ist sie etwas erst noch zu Entwerfendes, oder ist sie ein fertiges Programm, das es allenfalls noch 'durchzuführen'  gilt? Jacobis Eingreifen hat ihn lediglich genötigt, seinem Schwanken ein Ende zu setzen.
JE

Donnerstag, 22. Mai 2014

Vom ästhetischen Trieb zum Schöpfungvermögen.


Gauguins Palette

Sehen Sie in diesem Beispiele eine kurze Geschichte der Entwickelung unseres ganzen ästhetischen Vermögens. Während der ruhigen Betrachtung, die nicht mehr auf die Erkenntnis dessen, was längst erkannt ist, absieht, sondern die gleichsam nochmal zum Überflusse an den Gegenstand geht, - entwickelt, unter der Ruhe der Wissbegierde und des befriedigten Erkenntnistriebes, in der unbeschäftigten Seele sich der ästhetische Sinn. ...

Von dieser noch an dem Faden der Wirklichkeit fortlaufenden Betrachtung, wo es uns schon nicht mehr um die wirkliche Beschaffenheit der Dinge, sondern um ihre Uebereinstimmung mit unserem Geiste zu tun ist, erhebt sich dann bald die dadurch zur Freiheit erzogener Einbildungskraft zur völligen Freiheit; einmal im Gebiete des ästhetischen Triebes angelangt, bleibt sie in demselben, auch da, wo er von der Natur abweicht, und stellt Gestalten dar, wie sie gar nicht sind, aber nach der Forderung jenes Triebes seyn sollten: und dieses freie Schöpfungsvermögen heißt Geist. Der Geschmack beurtheilt das Gegebene, der Geiste erschafft. ... Man kann Geschmack haben ohne Geist, nicht aber Geist ohne Ge/schmack.

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Über Geist und Buchstab in der Philosophie [1794], SW VIII , S. 290f.





Mittwoch, 21. Mai 2014

Ästhetik und Einbildungskraft.


Thomas Max Müller, pixelio.de 

... das [vom ästhetischen Sinn] entworfene Bild würde nicht minder gefallen, wenn es leer wäre, und es gefällt nicht mehr, weil es zufälligerweise zugleich Erkenntnis enthält. - So musste es denn auch sein, [...] wenn beide unverträgliche Triebe, - der, die Dinge zu lassen, wie sie sind, und der, sie überall und ins Unendliche umzu- schaffen, - sich vereinigen und einen einzigen unteilbaren Menschen darstellen sollten, [...] - wenn beide Triebe Ein [sic] und derselbe Trieb sein, und nur die Bedingungen seiner Äußerung verschieden sein sollten. 

Der Trieb konnte nicht auf die Vorstellung des Dinges gehen, ohne überhaupt auf die Vorstellung um ihrer selbst willen zu gehen, und ebenso unmöglich war ein Trieb, auf das Ding selbst einzuwirken und es umzu- arbeiten, nach einer Vorstellung, die außer aller Erfahrung, und über alle mögliche Erfahrung hinausliegen sollte, wenn es nicht überhaupt Trieb und Vermögen gab, unabhängig von der wirklichen Beschaffenheit der Dinge Vorstellungen zu entwerfen. ... 
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Über Geist und Buchstab in der Philosophie [1794], SW VIII
S. 281



Nota.

Das ist der entscheidende Punkt: Es muss eine Vorstellung lediglich um ihrer selbst willen - eine, die 'ohne Interesse gefällt' - schon möglich sein, wenn es überhaupt möglich werden sollte, Dinge nach Bildern zu schaffen, die 'über alle mögliche Erfahrung hinausliegen'. - Und da es 'historisch' möglich geworden ist, muss man notwendig schließen, dass die Voraussetzung gegeben war. Mit andern Worten, es muss ein ästhetisches Vermögen schon gegeben haben, damit die Einbildungkraft produktiv werden konnte.
JE


Montag, 19. Mai 2014

Lieber Leser...

aus Philosophierungen, 10. 5. 14
Rudolpho Duba, pixelio.de

...diese Philosophierungen und mein ... Blog Fichtiana gehören zusammen. Jedenfalls sachlich: Dass den harten Kern meiner eigenen fragmentarisch-systematischen Philosophierungen die Fichte'sche Wissenschaftslehre ausmacht, daran habe ich nie einen Zweifel gelassen. So wird man, was auf diesem Blog zu lesen ist, nicht recht verstehen können, ohne das zu kennen, was in dem andern Blog steht.

Dass die Beiträge dieses oder jenes Tages einander unmittelbar kommentieren, kommt dagegen nur selten und fast zufällig vor. Dass ich in den letzten Tagen auf Philosophierungen nichts Eigenes, sondern nur Ein-, Zwei-, Dreizeiler von andern Autoren gebracht habe, liegt allerdings daran, dass ich mich auf die Fichtiana konzentriert habe. Mein Interesse ist nicht philologisch, darum seziere ich fremde Texte nicht gern. In den letzten Tagen aber, nachdem mir der unmittelbare Zusammenhang zwischen der Bestimmung des Menschen und dem Brief Jacobi an Fichte einerseits und den Rückerinnerungen andererseits deutlicher geworden war als zuvor, wollte ich im Detail darstellen, dass und warum Fichte in der Folge des Atheismusstreits in der Tat von der Transzendentalphilo- sophie abgekommen ist; nicht, dass ihm vor der eigenen Radikalität bange geworden wäre, sondern weil er von Anfang an nicht ganz so radikal war, wie er glaubte und wie er hätte sein müssen, wenn er wirklich den Kant'schen Weg bis zu seinem Schluss gehen wollte - so, wie er es selbst beanspruchte und wie Jacobi es ihm vorschnell bescheinigt hat.

...

Nachtrag.

Geahnt habe ich es lange, dass es die mystifizierende Verwendung des Vernunft-Begriffs (na, ein Begriff ist es ja eben nicht!) war, die Fichte empfindlich gemacht hat für die metaphysisch-spekulativen Versuchungen, die der Atheismus-Streit an ihn herangetragen hat. Aber dass ich es andern mit philologischer Präzision an einer zitierbaren 'Stelle' zeigen kann, hatte ich nicht erwartet. Ich hatte Jacobi an Fichte gar nicht in vollem Wortlaut gekannt, 'man weiß ja', was in etwa drinsteht. Man braucht aber schon den richtigen Anfangsverdacht, um zu erkennen, worauf es 'in etwa' ankommt, und der volle Wortlaut steht erst seit kurzem im Internet.

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"Ich meine, vernünftig zu denken, wenn ein Anderer, dem ich vor-denke, gar nicht anders kann, als mir nach-zu-denken und mir beizustimmen. Nun gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder, ich lasse es drauf ankommen; das wäre die pragmatische, die 'findende', die problematische Version. Oder ich nehme eine prä-etablierte Übereinstimmung an, die eine andere Möglichkeit gar nicht offen lässt und einen wirklichen Andern gar nicht braucht; das ist die dogmatische Version..."

Fichte hat zwischen der pragmatisch-problematischen Auffassung, wonach die Vernunft sich aktual ergibt im wirklichen Verkehr vernunftbegabter Menschen, und insofern im besten Fall als proiectum aufzufassen ist, und der dogmatischen Auffassung eines apriorischen Programms, das sich mittels vernünftig wirkender Individuen selbst verwirklicht, lange geschwankt; wobie in den früheren, sürmischen Jahren die Neigung zur aktualistisch-problematischen Version zu überwiegen scheint. Es war erst Jacobis Eingreifen in den Atheismusstreit, das ihn bewogen hat, sich schließlich für die dogmatische Variante zu entscheiden.

Von einer an sich seienden Vernunft vor der Zeit und vor ihrem "Erscheinen" in der Endlichkeit kann man nichts weiter wissen, nicht, wo sie herkommt, noch, worauf sie hinauswill. Da kann man nur glauben. An eine problematische Verunft, die auch scheitern mag, kann man nicht glauben, sondern man müsste sich ihrer jeden Tag neu vergewissern: Man muss wissen. Nämlich wo sie herkommt und worauf sie hinausläuft.

Her kommt sie aus dem Vermögen der Menschen, wertend zu urteilen; das ist ihr ästhetisches Vermögen. Hinaus läuft sie auf eine ewig prozessierende Verständigung der Menschen über ihre gemeinsamen, nämlich öffentlichen Angelegenheiten; überall da, bis wohin die Notwendigkeiten reichen und ab wo frei gewählt werden kann: Von da an kann man fröhlich streiten.

19. 5. 2014 






Sonntag, 18. Mai 2014

...entwickelt sich unser ästhetischer Sinn.


Chardin

Aber gerade der Umstand, dass wir mit der Erfahrung unser Leben anfangen müssen, eröffnet uns, wie oben gesagt worden ist, den einzig möglichen Übergang zum geistigen Leben. 

Sowie jene dringende Not gehoben ist, und nichts mehr uns treibt, den möglichen Geisteserwerb gierig zusammenzuraffen, um ihn gleich wieder für den notwendigen Gebrauch ausgeben zu können, erwacht der Trieb nach Erkenntnis um der Erkenntnis willen. Wir fangen an, unser geistiges Auge auf den Gegenständen hingleiten zu lassen, und erlauben ihm, dabei zu verweilen; wir betrachten sie von mehreren Seiten, ohne gerade auf einen möglichen Gebrauch derselben zu rechnen; wir wagen die Gefahr einer zweifelhaften Voraussetzung, um in Ruhe den richtigen Aufschluss abzuwarten. 

Es bemächtigt sich unser der einzige Geiz, der edel ist, Geistesschätze zu sammeln, bloß um sie zu haben, und uns an ihrem Anblick zu ergötzen, gesetzt auch, wir bedürften ihrer nicht zum Leben, oder sie wären nicht mit dem Stempel ausgeprägt, der allein Kurs hat; wir wagen es, bei unserem Reichtume gleichgültiger gegen den möglichen Verlust, etwas anzulegen an Versuche, die uns misslingen können. Wir haben den ersten Schritt getan, uns von der Tierheit in uns zu trennen. Es entsteht Liberalität der Gesinnungen, - die erste Stufe der Humanität.

Unter dieser ruhigen und absichtslosen Betrachtung der Gegenstände, indes unser Geist sicher ist und nicht über sich wacht, entwickelt sich ohne alles unser Zutun unser ästhetischer Sinn an dem Leitfaden der Wirklichkeit. Aber nachdem der Pfad beider eine Strecke weit zusammengegangen ist, reisst sich am Scheidewege wohl auch der erstere los, und geht seinen Gang unabhängig und ungeleitet von der Wirklichkeit.

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Über Geist und Buchstab in der Philosophie [1794], SW VIII
S. 288f.


Nota.

Es ist, als nähme er eine Naturgeschichte der Vernunft an: Mit der Überwindung der ärgsten Notdurft wird der aus dem Kampg mit den Notwendigkeiten entstandene Geist freigesetzt für gelassenes Schweifen in absichts- loser Betrachtung. Und schließlich reisst sich der ästhetische Sinn von der Wirklichkeit ganz los und... Und erfindet, sollte man fortfahren, was nicht ist, aber sein könnte, und entdeckt, was sein sollte. - So fährt er freilich nicht fort, später heißt es vielmehr, "aus nichts wird nichts", und eine Selbsterzeugung der Vernunft aus vernunftlosen Voraussetzungen lehnt er ausdrücklich ab. Aber in seinen frühen Jahren hat er der Vorstellung von einem Übergang, wie man sieht, nahegestanden. Und ist später doch vom Wege abgekommen.
JE   



Samstag, 17. Mai 2014

Der ästhetische Weg zur Vernunft.


Millet, Frühling

Selbst die Erkenntnis wird zunächst nicht um ihrer selbst willen, sondern für einen Zweck außer ihr gesucht. Auf der ersten Stufe der Bildung, des Individuums sowohl, als der Gattung, überschreit der praktische Trieb, und zwar in seiner niederen, auf die Erhaltung und das äußere Wohlsein des animalischen Lebens gehenden Äußerung, alle übrigen Triebe; und so fängt denn auch der Erkenntnistrieb damit an, bei jenem zu dienen, um in diesem Dienst sich zu einer selbständigen Subsistenz auszubilden. 

Mit der Kargheit der Natur, oder mit dem Andringen unseres eigenen Geschlechts gegen uns im Kampfe, haben wir nicht Zeit, bei der Betrachtung der Dinge um uns herum zu verweilen; emsig fassen wir die brauchbaren Beschaffenheiten derselben auf, um Nutzen von ihnen zu ziehen, unter unaufhörlicher Besorgnis der Nachteile in der Ausübung, die uns die unrichtige Ansicht derselben zuziehen möchte; mit Hastigkeit eilen wir fort von dieser erstürmten Erkenntnis zur Bearbeitung der Dinge, und hüten uns sehr, einen Augenblick bei de Erwerbung des Mittels zu verlieren, den wir zur unmittelbaren Erreichung des Zwecks anwenden könnten. 

Das Menschengeschlecht muss erst zu einem gewissen äußeren Wohlstande und zur Ruhe gekommen, die Stimme des Bedürfnisses von innen, und er Krieg von außen muss erst beschwichtigt und beigelegt sein, ehe dasselbe auch nur mit Kaltblütigkeit, ohne Absicht auf das gegenwärtige Bedürfnis und selbst mit der Gefahr sich zu irren, beobachten, bei seinen Betrachtungen verweilen, und unter dieser mäßigen und liberalen Betrachtung den ästhetischen Eindrücken sich hingeben kann. ... 

Daher sind die Zeitalter und Länderstriche der Knechtschaft zugleich die der Geschmacklosigkeit; und wenn es von der einen Seite nicht ratsam ist, die Menschen frei zu lassen, ehe / ihr ästhetischer Sinn entwickelt ist, so ist es von der anderen Seite unmöglich, diesen zu entwickeln, ehe sie frei sind, und die Idee, durch die ästhetische Erziehung die Menschen zur Würdigkeit der Freiheit, und mit ihr zur Freiheit selbst zu erheben, führt uns im Kreise herum, wenn wir nicht vorher ein Mittel finden, in Einzelnen von der großen Masse den Mut zu erwecken, Niemandes Herren und Niemandes Knecht zu sein. 


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Über Geist und Buchstab in der Philosophie [1794], SW VIII S. 286f.






Freitag, 16. Mai 2014

So producirt die Vernunft sich selbst.


phoenix, deviantart

Durch diese äußerste Hülflosigkeit ist der Mensch an sich selbst und zuvörderst die Gattung an die Gattung gewiesen. Wie der Baum durch das Abwerfen der Frucht seine Gattung erhält, so erhält der Mensch, durch Pflege und Erziehung der Hülflosgeborenen, sich selbst, als Gattung. So producirt die Vernunft sich selbst, und so nur ist der Fortschritt derselben zur Vervollkommnung möglich. So werden die Glieder aneinander gehängt, und jedes künftige erhält den Geisteserwerb aller vorhergegangenen.  

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Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre [1796] SW. Bd. III, S. 82


Nota.

'So produziert die Vernunft sich selbst...' - wie wörtlich hat er das gemeint? Hier geht es darum, wie 'die Gleider aneinander gehängt' werden. Und was ist mit dem ersten Glied, wo kam das her? - Immerhin sind es die Menschen selbst, die hier ein Glied zum andern fügen, und offenbar aus Freiheit und ohne vorgegebenen Plan. Da läge es nahe, auch das 'erste' Stück als frei geschaffen anzunehmen. Alles andere bedürfte einer zusätzlichen Herleitung, die aber an dieser Stelle fehlt. Jacobi war durchaus im Recht, ihn da festzunageln.
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