Dienstag, 31. Mai 2016

Die einzige Voraussetzung der Wissenschaftslehre.



Die WissenschaftsLehre fordert jeden auf, zu überlegen, was er tut, wenn er sagt: Ich. Von diesem behauptet die WissenschaftsLehre, dass er dadurch annehme ein Setzen seiner selbst, dass er sich setze als Subjekt-Objekt. Man kann Ich nicht denken ohne dies. Dadurch nun, durch die Identität des Setzenden und Gesetzten, ist der Begriff der Ichheit, wie ihn die Wissen-//8//schaftsLehre postuliert, völlig erschöpft. Es wird hier nicht mit hineingezogen, was man sonst beim Setzen seiner selbst denken möchte.

Wer dies nicht zugäbe, mit dem könnte die WissenschaftsLehre nichts anfangen; dies ist das erste, was die Wissenschaftslehre jedem anmutet. Weiter mutet sie an, auch einmal in sein Bewusstsein hineinzugehen, und behauptet, dass man finden werde: dass man sich nicht nur selbst setze, sondern dass man sich auch noch etwas entgegensetze. Dieses Entgegengesetzte wird, weil von ihm nichts weiter behauptet wird, als dass es dem Ich entgegengesetzt ist, auch NichIch genannt. Man kann es noch nicht Objekt oder Welt nennen, da erst bewiesen werden muss, wie es zum Objekte und zur Welt werde; sonst wäre die Philosophie Popularphilosophie.

Aus diesem Vorausgesetzten wird alles Übrige abgeleitet. Die Wissenschaftslehre behauptet, dass alles, was daraus folge, für alle endlichen Vernunftwesen gültig sei. 
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S.7f.



Nota. - Wir sind hier noch nicht in der Wissenschaftslehre selbst. F. referiert vorab über die WL. Er kündigt an, was er in den folgenden Vorlesungen zu tun gedächte.

Wie alles Wissen, hat auch die Wissenschaftslehre ihre Voraussetzung. Diese ist Postulat. Doch nicht so, dass sie als theoretischer Satz (einstweilen) geglaubt werden müsste; sondern als ein Akt, den jeder selbst zu vollziehen habe. Postuliert wird nur, dass er es tue. Wenn er es tue, dann werde er finden, dass... usw.
JE








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Montag, 30. Mai 2016

Es gibt kein Wissen ohne Voraussetzung.



Der praktische Zweck nun ist, diese Zweifel zu lösen; den Menschen in Übereinstimmung mit sich selbst zu bringen, dass er aus Überzeugung und aus Gründen seinem Bewusstsein glaubt, wie er es vorher aus Vernunftinstinkt tat. (Der ganze //7// Zweck der Bildung des Menschen ist, ihn durch Arbeit zu dem zu machen, was er vorher ohne Arbeit war.) Dieser Zweck ist in der Kantischen Philsosphie völlig erreicht, sie ist bewiesen, und jeder, der sie versteht, muss sie für wahr halten. 

Aber der Mensch ist auch nicht bestimmt, sich damit begnügen zu lassen. Er ist bestimmt zu vollständiger und systematischer Kenntnis. Es ist nicht genug, dass unsere Zweifel glöst und dass wir zur Ruhe verwiesen sind, wir wollen auch Wissenschaft. Es ist ein Bedürfnis der Menschen nach Wissenschaft, und die Wissenschaftslehre macht sich anheischig, dies Bedürfnis zu befriedigen. 

Also die Resultate der Wissenschaftslehre sind mit denen der Kantischen Philososphie dieselben, nur die Art, sie zu begründen, ist in jener eine ganz andere. Die Gesetze des menschlichen Denkens sind bei Kant nicht streng wissenschaftlich abgeleitet, dies soll aber in der Wissenschaftslehre geschehen. In dieser werden abgeleitet die Gesetze des endlichen Vernunftwesens überhaupt; im Kantischen System werden bloß aufgestellt die Gesetze des Menschen, weil es bloß auf Erfahrung beruht, diese werden in der Wissenschaftslehre bewiesen. 

Ich beweise jemandem etwas heißt, ich bringe ihn dazu, dass er annehme, dass er irgendeinen Satz schon zugegeben habe, indem er die Wahrheit irgendeines anderen vorher zugegeben hatte. Jeder Beweis setzt also bei dem, dem er bewiesen werden soll, schon etwas Bewiesenes voraus, und zwei, die über nichts einig sind, können einander auch nichts beweisen. 

Da nun die Wissenschaftslehre beweisen will die Gesetze, nach denen das endliche Vernunftwesen bei Hervorbringung seiner Erkenntnis verfährt: so muss sie dies an irgend etwas anknüpfen, und da sie unser [Wissen?] begründen will, an etwas, das jedermann zugibt. Gibt es so etwas nicht, so ist systematische Philosophie unmöglich.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S.6f.




Nota. - Das ist das Verfahren der Wissenschaftslehre: Statt freihändig Begriffe zu definieren und daraus ein System zu bauen, sucht sie in den wirkliche Vorstellungen der 'endlichen' Vernunftwesen die ihnen zu Grunde liegenden anschaulichen Voraussetzungen auf, und erst, wenn sie an den Punkt gerät, hinter den es nicht hinausgeht, kehrt sie ihren Gang um und setzt, was sie zuvor analytisch auseinandergelgt hatte, synthetisch wieder zusammen; daran, ob auf diesem Weg die wirkliche Vorstellungswelt der 'endlichen Vernunftwesen' hinreichend rekonstuiert werden kann, entscheidet sich ihre Richtigkeit.

Nota II. - 'Der Mensch ist bestimmt zu vollständiger und systematischer Kenntnis': woher weiß er das? Nach seiner Lehre ist der Mensch, sofern er Vernunftwesen ist, nur bestimmt als das, wozu er sich selbst bestimmt. Wenn er sagt 'So ist es', kann es sich entweder um die Feststellung eines empirisch Vorgefundenen handeln, oder um ein Postulat: 'So soll es sein.' - Tatsächlich handelt es sich hier um beides; es ist die historisch vorgefundene Tatsache des autonomen bürgerlichen Subjekt; und der Entschluss des theoretischen Philosophen, dies empirisch Gegebene als seinen praktischen Zweck anzusehen. Die Wissenschaftslehre ist die Anthropologie des bürgerlichen Zeitalters.
JE






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Sonntag, 29. Mai 2016

Wer sich unbefangen seiner Vernunft hingibt, bedarf keiner Philosophie.



In wiefern kann man es nun bei so einer Philosophie bewenden lassen und in wie fern nicht, und warum muss weiter gegangen werden? Wer sich unbefangen seiner Vernunft hingibt, der bedarf keiner Philosophie. Wäre es daher nicht besser, wenn man der Philosophie ganz entbehrte, und nicht vielmehr einem, der sich seiner Vernunft nicht unbefangen mehr hingibt, zu raten, dass er sich an den Glauben an die Wahrheit seines Bewusstseins halten möge?

Wenn der Mensch unbefangen seinem Bewusstsein glaubt, so tut er gut, aber die Bestimmung des Menschen ist es nicht, sie geht unaufhörlich fort auf gegründete Erkenntnis, der Mensch wird unaufhörlich getrieben, nach gründlicher Überzeugung zu forschen, und derjenige, der sich einmal zu philosophischem Zweifel verstiegen hat, lässt sich nicht mehr zurückweisen, er sucht sich immer seine Zweifel zu lösen. Es entsteht in dem Menschen ein peinlicher Zustand, der seine innere Ruhe und sein äußeres Handeln stört und sonach praktisch schädlich ist.

Der Idealist, der die Körperwelt leugnet, stützt sich doch unaufhörlich auf diese ebenso, wie der, der ihre Wirklichkeit glaubt. Dieser Zweifel des Idealisten hat nicht unmittelbare Folgen auf das Leben, allein es ist doch unanständig, dass seine Theorie mit seiner Praxis in Widerspruch stehe. Auch an dem Glauben an Gott und die Unsterblichkeit kann man durch Skeptizismus irre gemacht werden, und dies hat Folgen auf die innere Ruhe und Lage. Man kann zwar durch eine unvollständige und seichte Philosophie auf einige Zeit beruhigt werden. Findet man aber diese einst als unzureichend, so entsteht ein Zweifel an der Möglichkeit des Philosophierens selbst, und dies versetzt den Menschen in noch größere Unruhe.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S.6


Nota. - F. nimmt hier die Einwände vorweg, die Jacobi kurz darauf gegen die Transzendentalphilosophie selbst erheben wird; sie säe nicht nur Zweifel, sondern pflanze vielmehr eine nihilistische Überzeugung (die zwar wissenschaftlich erwiesen sei, aber zum Glauben an Gott unfähig mache). Dann wird F. vor ihnen einknicken; hier ist er noch nicht dazu bereit.
JE








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Samstag, 28. Mai 2016

Die Kant'sche Philosophie beruht auf Induktion.


Dieter Schütz, pixelio.de

ad II. Man philosophierte schon frühe, aber nur dunkel; es lag noch kein deutlicher Begriff zu Grunde. Die Skeptiker warfen vorzüglich die Frage auf, ob wohl unsere Vorstellungen objektive Gültigkeit hätten. Durch Hume, einen der größten Skeptiker, wurde Kant geweckt. Letzterer aber stellte kein System auf, sondern schrieb nur Kritiken, d. h. vorläufige Untersuchungen über die Philosophie. Wenn man aber das, was Kant besonders in der Kritik der reinen Vernunft sagt, in ein System fasst, so sieht man, dass er die Frage der Philosophie sich richtig gedacht hat. 

Er drückt sie so aus: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich, und beantwortet sie so: Es gibt eine gewisse Notwendigkeit, gewisse Gesetze, nach denen die Vernunft handelt in der Hervorbringung der Vorstellungen; was durch diese Notwendigkeit, durch diese Gesetze zu Stande gebracht wird, hat objektive Gültigkeit. Also von Dingen an sich, von einer Existenz ohne Beziehung auf ein Vorstellendes ist bei Kant nicht die Rede. Es war ein großer Missverstand, dass man das, was Kant in seinen Kritiken vortrug, für System hielt. Gegen die, die dies glauben, lässt sich folgendes einwenden:

1) Das gesamte Handeln des menschlichen Geistes und die Gesetze dieses Handelns sind bei Kant nicht systematisch aufgestellt, sondern bloß aus der Erfahrung aufgegriffen. Man kann daher nicht sicher sein

A) dass diese Gesetze des notwendigen Handelns des menschlichen Geistes erschöpft sind, weil er sie nicht bewiesen hat;
B) wie weit ihre Gültigkeit sich erstrecke;
C) Die merkwürdigen Äußerungen des menschlichen Geistes: Denken, Wollen, Lust oder Unlustempfinden sind nach Kant nicht aufs erste zurückgeführt, sondern sind koordiniert.

2) Das, worauf es hauptsächlich ankommt, nämlich zu beweisen, dass und wie unsern Vorstellungen objektive Gültigkeit zukomme, ist nicht geschehen. Die Kantische Phi-//6//losophie ist nur durch Induktion, nicht aber durch Deduktion bewiesen. Sie sagt: Wenn man diesen oder jene Gesetze annehme, wäre das Bewusstsein zu erklären; sie gilt daher nur als Hypothese.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S.5f.


Nota. - Kants Induktion führt ihn nur bis zu den Kategorien. Er hat sie im Material 'aufgefunden' und stellt sie zusammen; nebeneinander. Aber schon, weshalb es genau diese zwölf sein müssen, wird nicht demonstriert und nicht deduziert. Schon gar nicht wird deduziert, woher sie stammen. Es sind vier mal drei, das sieht gut aus, aber mehr Evidenz haben Kants Kategorien nicht für sich.
JE








Freitag, 27. Mai 2016

Jeder vernünftige Mensch glaubt an die Wirklichkeit der Welt.


Jacques Linard, Fünf Sinne und vier Elemente

Damit begnügen wir uns aber nicht, sondern machen schnell einen Unterschied zwischen Vorstellungen und dem Objekt, und sagen, außer der Vorstellung liege noch etwas Wirkliches. Sobald wir auf den Unterschied der Vorstellung und des Objekts aufmerksam werden, sagen wir, es sei beides da. Alle vernünftigen Wesen (auch der Idealist und Egoist, wenn er nicht auf dem Katheder steht) behaupten immerfort, dasss eine wirkliche Welt da sei. 

Wer sich zum Nach-//4//denken über diese Erscheinung in der menschlichen Seele erhoben hat, muss sich verwundern, da hier eine scheinbare Inkonsequenz ist. Man werfe sich als die Frage auf: Wie kommen wir dazu anzunehmen, dass noch außer unsrer Vorstellung wirkliche Dinge da seien? Viele Menschen werfen sich diese Frage nicht auf, entweder weil sie den Unterschied nicht bemerken, oder weil sie zu gedankenlos sind. Wer aber diese Frage aufwirft, der erhebt sich zum Philosophieren; diese Frage zu beantworten ist der Zweck des Philosophierens, und die Wissenschaft, die sie beantwortet, ist die Philosophie.

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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S.3f.



Nota. - Die Wissenschaftslehre hebt nicht an bei der Frage, ob es eine Wirklichkeit gäbe außer der Vorstellung, sondern warum jeder vernünftige Mensch davon ausgeht, dass es so sei. Die erste Frage wäre metaphysisch, die zweite ist transzendental. Und nur die zweite ist daher vernünftig. Dass es so sei ist also die Voraussetzung, aus der die Transzendentalphilosophie nicht heraustreten kann, ohne die Vernunft zu verlassen. Auf der ersten semantischen Ebene ist auch sie realistisch. Idealistisch ist sie erst auf der zweiten Ebene, der Reflexion der Vernunft auf sich selbst.
JE






Donnerstag, 26. Mai 2016

Wie kommen wir zu der Annahme, dass außer unsrer Vorstellung wirkliche Dinge da seien?



Damit begnügen wir uns aber nicht, sondern machen schnell einen Unterschied zwischen der Vorstellung und dem Objekt und sagen, außer der Vorstellung liege noch etwas Wirkliches. Sobald wir auf den Unterschied der Vorstellung und des Objekts aufmerksam werden, sagen wir, es sei beides da. Alle vernünftigen Menschen (selbst der Idealist und Egoist, wenn er nicht auf dem Katheder steht) behaupten immerfort, dass eine wirk-liche Welt da sei.

Wer sich zum Nach-/denken über diese Erscheinung in der menschlichen Seele erhoben hat, muss sich wun-dern, da hier eine scheinbare Inkonsequenz ist. Man werfe sich also die Frage auf: Wie kommen wir dazu, an-zunehmen, dass noch außer unsrer Vorstellung wirkliche Dinge da seien? Viele Menschen werfen sich diese Frage nicht auf, entweder, weil sie diesen Unterschied nicht bemerken, oder weil sie zu gedankenlos sind. Wer aber diese Frage aufwirft, erhebt sich zum Philosophieren, diese Frage zu beantworten ist der Zweck des Philo-sophierens, und die Wissenschaft, die sie beantwortet, ist die Philosophie.

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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S.3f.










Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE 

Mittwoch, 25. Mai 2016

I. Einleitung: Das Bewusstsein geht nur auf das, was in ihm vorkommt.




ERSTE EINLEITUNG 

(vorgetragen in den öffentlichen Vorlesungen)


Es werden darin beantwortet folgende drei Fragen:
I. Was ist Philosophie?
II. Wie wird sie im Systeme der WissenschaftsLehre behandelt?
III. Welche Veränderungen mit dem sonstigen Plane vorgenommen werden sollen und wie sie [sic] in diesen Vorlesungen behandelt werden soll.


ad I. Es soll keine bloße Definition gegeben werden, keine bloße Formel, bei der man weiter nichts denkt; sondern es soll genetisch gezeigt werden, was Philosophie sei; das heißt, es soll dargetan werden, wie der menschliche Geist zum Philosophieren kommt.

Es wird vorausgesetzt, dass man das Dasein der Dinge außer sich annehme; bei dieser Annahme beruft man sich auf einen inneren Zustand. Man geht bei dieser Überzeugung in sich zurück in das Innere, man ist sich bewusst eines Zustandes, aus welchem man auf das Dasein von Dingen außer sich schließt. Nun ist man aber, inwiefern man sich bewusst ist, ein vorstellendes Wesen, man kann also nur sagen, man sei sich der Vorstellung von Dingen außer uns bewusst, und weiter wird eigentlich auch nichts behauptet, wenn man sagt, es gäbe Gegenstände außer uns.

Keine Mensch kann unmittelbar behaupten, dass er Sinne habe, sondern nur, dass er notgedrungen sei, so etwas anzunehmen. Das Bewusstsein geht nur auf das, was in ihm vorkommt, aber dies sind Vorstellungen.

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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 3


Nota. - Ich habe mich schließlich doch entschlossen, die ganze WL nova methodo abzuschreiben und ins Internet zu stellen. Das wird viel Arbeit machen und eine ganze Weile dauern. 

Meine Absicht ist, ein Arbeitsinstrument öffentlich verfügbar zu machen: einen lesbaren, weil teilweise kommentierten Text der nach meinem Urteil 'gültigsten' Fassung der Fichte'schen Transzendentalphilosophie. Im Internet wird er der Volltextsuche zugänglich. Ich warne jedoch davor, ihn in akademischen Zusammenhängen zu benutzen, und namentlich vor dem Kopieren von 'Stellen'. Ich habe durchgängig die Rechtschreibung modernisiert, die Interpunktion zur Verständlichkeit verändert und viele Absätze in Krauses Nachschrift eingefügt. Wenn Sie zitieren wollen, müssen Sie sich schon an die Gesamtausgabe oder an die Edition von Felix Meiner halten.

Mit dem Zitieren sollten Sie sich aber ohnehin zurückhalten. Fichte hat seinen Hörern stets abgeraten, seinen Vortrag mitzuschreiben: Das werde sie nur beim Verstehen behindern. Er empfahl, höchstens Stichpunkte zu notieren und zu Hause die Vorlesungen zu rekonstruieren, und zwar ein jeder mit seinen eigenen Worten, denn auf die Wortwahl komme es nicht an, sondern auf das, was gemeint ist, und das erschließe sich ja doch nur aus dem Sinnzusammenhang. 

Krause hat also entweder Fichtes Rat nicht befolgt und hat mitgeschrieben; dann dürfte man nach Fichte nicht sicher sein, dass er alles recht verstanden hat. Oder er hat ihn befolgt, dann würden Sie Krauses Worte zitieren und nicht die von Fichte.

Freilich ist ein philologisches Herangehen an die Wissenschaftslehre sowieso verfehlt. Man kann nicht diese 'Stelle' gegen jene 'Stelle' abwägen, sondern immer nur ganze Gedankenstränge gegeneinander, doch wenn man die versteht, kommt es auf die Wörter nicht mehr an.
JE





Montag, 23. Mai 2016

Ästhetische Philosophie.



Der Wille erscheint dem ästhetischen Sinne frei; dem gemeinen als Produkt des Zwangs, z. B. jede Begrenzung im Raume ist Resultat der Begrenztheit des Dinges durch andere, denn sie werden dabei gepresst; jede Ausbreitung ist auch Resultat des inneren Aufstrebens der Körper, allenthalben Fülle, Freiheit, ersterer ist unästhetisch, letzter ist der ästhetische.

Das ist der ästhetische Sinn, aber die Wissenschaft ist etwas anderes. Die Wissenschaft ist der Form nach transzendental, sie ist Philosophie, sie beschreibt die ästhetische Ansicht, in solcher Ästhetik muss nicht ein schöner Geist sein; die ästhetische Philosophie ist ein Hauptteil der Wissenschaft und ist der ganzen anderen Philosophie, die man die reelle nennen könnte, entgegengesetzt. 

Der Einteilungsgrund ist der Gesichtspunkt, welcher entgegengesetzt ist. In materialer Ansicht liegt sie zwischen theoretischer und praktischer Philosophie in der Mitte. Sie fällt nicht mit der Ethik zusammen, denn unserer Pflichten sollen wir uns bewusst werden; allein die ästhetische Ansicht ist natürlich und instinktmäßig und dependiert nicht von der Freiheit. 

Dieser Gesichtspunkt ist es, durch den man sich zum transzendentalen erhebt; so folgt, dass der Philosoph ästhetischen Sinn, d. h. Geist haben müsse; er ist deshalb nicht notwendig ein Dichter, Schönschreiber, Schönredner; aber derselbe Geist, durch dessen Ausbildung man ästhetisch wird, derselbe Geist muss den Philosophen beleben, und ohne diesen Geist wird man es in der Philosophie nie zu etwas bringen; sonst plagt man sich mit dem Buchstaben und dringt nicht in des Innere.

Finitum d. 14. März 1799
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 244



Nota. - Dieser zweite Vortrag der Wissenschaftslehre "nach neuer Methode" endete Mitte März 1799. Da war der Atheismusstreit längst in vollem Gange. Noch zu diesem fortgeschrittenen Zeitpunkt schließt Fichte die Darstellung seiner prima philosophia so, dass kein Zweifel bleibt: als nächstes ist die Ausarbeitung der "ästhetischen Philosophie" als ein "Hauptteil" seines spekulativen Geschäfts vorgesehen. Die von Giorgia Cecchinato* dazu zusammengetragenen philologischen Daten lassen wenig Raum für andere Deutungen. 

Wenige Tage nach Abschluss der Vorlesung reichten Fichte und Niethammer ihre jeweiligen "Verantwortungsschriften" gegen den Atheismus-Vorwurf beim weimarischen Ministerium ein. Dass die Angelegenheit bis zur Entfernung Fichtes von seinem Lehrstuhl führen würde, war noch nicht abzusehen. Die aber hat dann alle andern Pläne umgestoßen.

Ob Fichte bei der Ausarbeitung seiner Ästhetik zu dem Schluss gelangt wäre, die Ethik der Ästhetik als einen Spezialfall unterzuordnen, wie Herbart es später tat, steht in den Sternen. Es hätte seine Logik, und Herbart dürfte seine eigenen Ergebnisse aus der Auseinandersetzung mit Fichtes Sittenlehre gewonnen haben. 

Der entscheidende Punkt ist: Auch die Ethik gebietet, wie die Ästhetik, immer "einzeln und unmittelbar", und diesen Punkt hat nicht nur Herbart, sondern vor ihm schon Novalis aus Fichtes Vortrag herausgehört. Allgemeine Gesetze sind der Moralität sowohl für Herbart als für Novalis direkt entgegengesetzt. Was anders als diese kann Fichte aber gemeint haben, wenn er oben sagt: "unserer Pflichten sollen wir uns bewusst werden"? Denn dass ich mir im gegebenen Moment dessen, was ich unmittelbar soll, 'bewusst' werde und mir 'einen Begriff davon' mache, liegt ja auf der Hand, aber das ist beim Ästhetischen auch nicht anders.

Und ob sich Fichte zu dem Entschluss hätte durchringen mögen, das Wahre-Absolute-Unbedingte als eine ästhetische Idee aufzufassen, ist noch weniger gewiss. Logisch gibt es eigentlich keinen andern Weg, aber das Herz kennt manchmal Gründe, von denen der Verstand nichts ahnt.
JE

*) Giorgia Cecchinato, Fichte und das Problem einer Ästhetik, Würzburg 2009

17. 3. 2015 





Ästhetik ist der Übergang vom gemeinen zum transzendentalen Gesichtspunkt.



4) Nach dieser Einteilung bleibt daher eine Wissenschaft übrig, welche jedem bekannt ist, die man auch immer zur Philosophie gerechnet hat und mit Recht. (Ich meine nicht die Logik, welche für jede Wissenschaft gilt und für jedes Handwerk, und Instrument des Vernunftverfahrens ist). Die Ästhetik, wo liegt diese? Die soeben beschriebene und eingeteilte in ihrer Grundlage aufgestellte Philosophie steht auf dem transzendentalen Standpunkte und sieht von diesem auf den gemeinen Gesichtspunkt herab. Das ist das Wesen der transzendentalen Philosophie, dass sie nicht will Denkart im Leben werden, sondern zusieht einem Ich, welches im Leben sein Denksystem zu Stande bringt, sie schafft selbst nichts. Dieses untersuchte Ich steht auf dem gemeinen Standpunkt.

In der Theorie hat die Philosophie alle Menschen als besondere zum Objekt, und sie ist geschlossen, so wie der Mensch in concreto dasteht, ihre Ansicht gilt für jedes Individuum. In der Ethik und Rechtslehre wird der Mensch im realen Gesichtspunkte gedacht. Dabei entsteht der deutliche Widerspruch: Der ideale Philosoph betrachtet den realen Menschen? Er ist doch aber auch ein Mensch. Der Mensch kann sich auf den transzendentalen Gesichtspunkt erheben nicht als Mensch, sondern als transzendentaler spekulativer Wisschenschaftler. Es entseht in der Philosophie ein Anstoß, in ihr ihre eigene Möglichkeit zu erklären. 

Was gibts für einen Übergang zwischen beiden Gesichtspunkten. - Frage über die Möglichkeit der Philosophie. Beide Gesichtspunkte sind sich ja gerade entgegengesetzt . Gibts nicht ein Mittleres, so ist nach unseren eigenen Grundsätzen kein Mittel, zu ihm über-//244//zugehen.

Es ist faktisch erwiesen, dass es so ein Mittleres gibt zwischen der transzendentalen und gemeinen Ansicht; dieser Mittelpunkt ist die Ästhetik. Auf dem gemeinen Gesichtspunkte erscheint die Welt als gegeben, auf dem transzendentalen als gemacht ('Alles in mir'); auf dem ästhetischen erscheint sie als gegeben, so als ob wir sie gemacht hätten und wie wir selbst es machen würden (vide Sittenlehre von den Pflichten des ästhetischen Künstlers).
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Wissenschaftslehre nova methodo, S. 243f.  


Nota. -   Das ästhetische Wahrnehmen - der ästhetische Sinn oder auch Trieb, wie F. andernorts wiederholt sagt - gehört zum wirklichen sinnlichen Leben, es kommt ungeniert und ungebrochen vom 'gemeinen Gesichtspunkt' her. Soll es den Übergang von dort zum transzendentalen Gesichtspunkt realiter möglich machen, dann ist es dessen reale Bedingung; ihr Grund.

Das ergab schon die Wissenschaftslehre selbst: Sie beruht auf einem Grund, der außerhalb ihrer liegt und von ihr nicht analytisch aufgefunden, sondern spekulativ erschlossen wurde: Wollen, das einzige An-sich, von dem die Wissenschaftslehre allenfalls reden könnte, und das als 'Trieb' und 'Streben' im System wieder vorkommt als reales Substrat des transzendentalen Ich; 'Einbildungskraft' als der unendliche Fortschritt vom Bestimmbaren zum Bestimmt(er)en.


"Ganz anders verhält es sich mit dem Triebe, den wir eben den ästhetischen nannten. Er zielt auf Vorstellungen, und auf bestimmte Vorstellungen lediglich um ihrer Bestimmung und um ihrer Bestimmung als bloßer Vorstellung willen. Auf dem Gebiete dieses Triebes ist die Vorstellung ihr eigner Zweck."*

Da hat Fichte dem Ästhetischen eine gewaltige Bürde aufgepackt, und geahnt hat er es. Leider hat ihn der Atheismusstreit davon abgebracht, seine Bahn weiter zu verfolgen.

*) Über Geist und Buchstab in der Philosophie. in: SW VII, S. 279

JE

Sonntag, 22. Mai 2016

Eine "Philosophie der Postulate".



Ganz nahe verwandt und in demselben Gebiete liegt die Religionsphilosophie. Beide machen aus eine dritte Philosophie: / die Philosophie der Postulate, die Rechtsphilosophie des Postulats an die Freiheit, die Religionsphilosophie des Postulats der praktischen Philosophie an die theoretische, an die Natur, welche sich durch ein übersinnliches Gesetz dem Zweck der Moralität akkomodieren soll. Diese Postulate abzuleiten und zu erklären ist Wissenschaftslehre; aber die Anwendung derselben im Leben ist nicht mehr Wissenschaftslehre, sondern pragmatischer Teil der Philosophie, und gehört in die Pädagogik sensu latissimo.
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Wissenschaftslehre nova methodo, 
S. 242f.

Nota. - Ich muss zugeben, dass ich das nicht verstehe. Nicht nur, dass man die Berechtigung einer Religionsphilosophie wohl nur annehmen kann, wenn man selber einer religiösen Lehre anhängt, was aber nur ein Faktum wäre und kein philosophisches Thema; sondern dass darüber hinaus eine besondere Philosophie der Postulate nötig und möglich sei, die auf den Feldern, wie Gründe nicht mehr herzuleiten sind, dieselben in pragmatische Absicht ersetzen können. 

Das liegt daran, dass seine ganze Einteilung etwas Erzwungenes hat. Es folgt, als gewissermaßen unerledigter Rest, die Ästhetik, der er weiten Raum zugedacht hatte, ohne ihr doch einen Platz im System zuweisen zu können. Das ist aber keine beiläufige Ungenauigkeit, sondern ein wirklicher philosophischer Mangel.
JE

Samstag, 21. Mai 2016

Freie Willen sollen zu einem gewissen mechanischen Zusammenhang und Wechselwirkung gefügt werden.


Winslow Homer

(Ferner ist die Rechtslehre auch praktisch, so eine rechtliche Verfassung macht sich nicht selbst, sondern muss hervorgebracht werden; kann aber nicht wie die Moralität durch Selbstbeschränkung bewirkt werden. Sie braucht äußere Mittel und lässt sich nicht gebieten, da von ohngefähr Vereinigung des Willens Mehrerer erst erfordert wird, vid. Kant zum Ewigen Frieden. 

Die Aufgabe dieser Lehre [=der WL] ist die: freie Willen sollen zu einem gewissen mechanischen Zusammenhang und Wechselwirkung gefügt werden. Nun gibt es so einen Naturmechanismus an sich nicht, er hängt zum Teil mit von unserer Freiheit ab; Wirksamkeit der Natur und Vernunft in ihrer Vereinigung bewirken diesen Zustand.)
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Wissenschaftslehre nova methodo, S. 242


Nota. - 'Eine rechtliche Verfassung hervorbringen' heißt Politik. Sie ist natürlich praktisch, was sonst? Doch auch die Rechtslehre im engeren Sinn, die das geltende positive Recht mit dem fiktiven Naturrecht vergleicht, ist praktisch, und theoretisch nur, insoweit sie kritisch ist. 

Nicht einmal das Naturrecht ist rein-theoretisch: denn es leitet seine Konklusionen ja nicht blind und mechanisch aus gegebenen Prämissen her, sondern entwirft seinen 'Zweckbegriff' aus Freiheit. Das Reich des Theoretischen ist nicht nur bei Fichte viel enger als bei andern Philosophen, sondern noch ein bisschen enger als selbst bei Fichte.
JE