Fichtes schwankende Vernunft.


Fichtes philosophische Laufbahn zerfällt - das ist das treffende Wort - in die ursprüngliche Wissenschaftslehre, die als echter durchgeführter Kritizismus die Kant'sche Transzendentalphilosphie vollenden sollte, und eine transzendentaldogmatische Hybride, die er nach dem Atheismusstreit gelehrt hat. Das Kuriosum: Er hat bis ans Lebensende darauf bestanden, allezeit Dasselbe vertreten zu haben. Und tatsächlich findet man in seinem Werk keine Stelle, wo er an dem entscheidenden Punkt - dem realen Absoluten - einfach kehrtgemacht hätte. So dass zu vermuten ist, der Ansatz zur späteren dogmatischen Wende sei in der ursprünglichen, transzendentalen Wissenschaftslehre irgendwo bereits angelegt gewesen.

Dem Antiaufklärer und Glaubensphilosophen Friedrich Heinrich Jacobi kommt das Verdienst zu, den Finger haargenau auf den wunden Punkt gelegt zu haben: Es war seine Auffassung von der Vernunft, die Fichte gegen die Einrede des Dogmatikers wehrlos gemacht hat. Richtiger gesagt, es war der Mangel an einer Auffassung der Vernunft, denn er hatte deren zwei zur selben Zeit. Und da er es - unbegreiflicher Weise - nicht bemerkte, musste er sich nicht "aus Freiheit" zwischen ihnen entscheiden. So konnte ihm die Entscheidung von Jacobi... eingeredet werden. 

Auf dieser Seite finden sie Fichtes Schwanken durch eine Reihe von 'Stellen' dokumentiert. Es wird Ihnen auffallen, dass eine 'Stelle' des Inhalts: Was ist die Vernunft und wo kommt sie her? fehlt. So eine Stelle gibt es bei Fichte nicht. Die Vernunft ist der einzige thematisch und in systematischer Absicht gebrauchte Begriff, den Fichte nicht aus dem (dreifachen) Grundsatz der Wissenschaftslehre herleitet. Er macht zwar jede Menge Angaben über die Vernunft, aber sie selbst macht er nicht zum Gegenstand. Nun würde es schwerfallen, von der Vernunft zu reden, ohne sich ihrer bereits zu bedienen; aber was taugte die Transzendentalphilosophie, wenn sie damit nicht zurechtkäme?




So produziert die Vernunft sich selbst.

 

Durch diese äußerste Hülflosigkeit ist der Mensch an sich selbst und zuvörderst die Gattung an die Gattung gewiesen. Wie der Baum durch das Abwerfen der Frucht seine Gattung erhält, so erhält der Mensch, durch Pflege und Erziehung der Hülflosgeborenen, sich selbst, als Gattung. So producirt die Vernunft sich selbst, und so nur ist der Fortschritt derselben zur Vervollkommnung möglich. So werden die Glieder aneinander gehängt, und jedes künftige erhält den Geisteserwerb aller vorhergegangenen. 
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Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre [1796] SW. Bd. III, S. 82


Nota. - Vernunft ist die Kompensation der erworbenen Mangelhaftigkeit.
JE  




Vernunft ist nur möglich, weil meine Vernunft die Vernunft der Andern voraussetzt.

RainerSturm  / pixelio.de § 3. Zweiter Lehrsatz

Das endliche Vernunftwesen kann eine freie Wirksamkeit in der Sinnenwelt sich nicht zuschreiben, ohne sie auch anderen zuzuschreiben, mithin auch andere endliche Vernunftwesen ausser sich anzunehmen. 

Beweis

I.


a. Das vernünftige Wesen kann, nach dem §1. geführten Beweise, kein Object setzen (wahrnehmen und begreifen), ohne zugleich, in derselben ungetheilten Synthesis, sich eine Wirksamkeit zuzuschreiben. b. Aber es kann sich keine Wirksamkeit zuschreiben, ohne ein Object, auf welches diese Wirksamkeit gehen soll, gesetzt zu haben. Das Setzen dieses Objects, als eines durch sich selbst bestimmten, und insofern die freie Tätigkeit des vernünftigen Wesens hemmenden, muss in einem vorhergehenden Zeitpunct gesetzt werden, durch welchen allein derjenige Zeitpunct, in welchem der Begriff der Wirksamkeit gefasst wird, der gegenwärtige wird. c. Alles Begreifen ist durch Setzen der Wirksamkeit des Vernunftwesens; und alle Wirksamkeit ist durch eine vorhergegangenes Begreifen desselben gedingt. Also ist jeder mögliche Moment des Bewusstseyns, durch einen vorhergehenden Moment desselben, bedingt, und das Bewusstseyn wird in der Erklärung der Möglichkeit schon als wirklich vorausgesetzt. Es lässt sich überhaupt nur durch einen Cirkel erklären; es lässt sich sonach überhaupt nicht erklären, und scheint unmöglich. ... __________________________________________________________ 
Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, SW Bd. III, S. 30






Vernünftigkeit bedarf einer Aufforderung.

Caravaggio, Amor vincit omnia

Der Grund der Unmöglichkeit, das Selbstbewusstseyn zu erklären, ohne es immer schon als vorhanden voraus- zusetzen, lag darin, dass um seine Wirksamkeit setzen zu können, das Subject des Selbstbewsstseyns schon vorher ein / Object, bloss als solches, gesetzt haben musste; und wir somit immer aus dem Momente, in welchem wir den Faden anknüpfen wollten, zu einem vorherigen getrieben wurden, wo er schon angeknüpfte seyn musste.

Dieser Grund muss gehoben werden.

Er ist aber nur so zu heben, dass angemommen werde, die Wirksamkeit des Subjects sey mit dem Objecte in einem und demselben Moment synthetisch vereinigt; die Wirksamkeit des Subjects sey selbst das wahrgenommene und begriffene Object, das Object sey kein anderes, als diese Wirksamkeit des Subjects, und so seyen beide dasselbe. ...

Beide sind vollkommen vereinigt, wenn wir uns denken ein Bestimmtseyn des Subjects zur Selbstbestimmuung, eine Aufforderung an dasselbe, sich zu einer Wirksamkeit zu entschliessen.

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Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, SW Bd. III, S. 31ff.


Nota. - Sie verstehen meine Illustration nicht? Dann denken Sie nur, es sei nicht Caravaggios Cupido, sondern Platos Eros; dann geht's.
JE






Das Sittengesetz ist nicht gegeben, sondern wird gemacht.
Andrea Mantegna, Sieg der Tugenden über das Laster
...daß das Sittengesetz gar nicht so etwas ist, welches ohne alles Zutun in uns sei, sondern daß es erst durch uns selbst gemacht wird.  
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System der Sittenlehre nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, SW Bd. IV, S. 192



Der Vernunftzweck.

zoom, pixelio.de  

...Übereinstimmung, der große Zweck der Vernunft ...
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Rückerinnerungen, Antworten, Fragen [S. 136] 

I. Vernunft ist nicht an sich, sondern sie dient einem Zweck. Für diesen Zweck ist sie in die Welt gekommen und nur für den ist sie da.

II. Mit andern Worten: Vernunft ist immer da an ihrem Platz, wo Übereinstimmung angebracht ist. Alles andere liegt nicht in ihrem Zweck.

III. Im sittlichen Bereich ist Übereinstimmung nicht nötig. Das Sittengesetz lautet: Tu das, was dein Gewissen dir gebietet, oder, mit andern Worten: Handle aus Freiheit. Aus Freiheit kann ich nicht handeln, wenn ich zuerst frage, was den andern ihr Gewissen gebiete, und mich mit ihnen darüber ins Benehmen setze. Es kommt auch gar nicht darauf an, ob es dasselbe gebietet, sondern darauf, dass es das Gewissen ist, das gebietet.<

IV. Übereinstimmen müssen wir nicht über Gott und die Welt. Es reicht, wenn wir in dem Teil der Welt, in dem wir miteinander verkehren, übereinstimmen über die Angelegenheiten des Teils der Welt, in dem wir miteinander verkehren. Übereinstimmen müssen wir nicht über Gott und nicht über jenen Teil der Welt, in dem ein jeder von uns nur für sich ist.

Bedenkend immer: Die Welt ist keine Gegend, sondern lediglich ihr Horizont. JE







Übereinstimmung ist der Zweck der Vernunft.

Foto: picture alliance / dpa / Stockfoto

Religion zwar ist Angelegenheit aller Menschen, und jeder redet da mit Recht hinein und streitet: dies ist Bestimmung des Menschen und Anlage, um allmählich Übereinstimmung, den großen Zweck der Vernunft, hervorzubringen.
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Rückerinnerungen, Antworten, Fragen [S. 136]


Nota. - Mit andern Worten - Vernunft ist immer da an ihrem Platz, wo Übereinstimmung angebracht ist. Alles andere liegt nicht in ihrem Zweck.
JE 





Problematische Vernünftigkeit oder dogmatische Vernunft?



Es soll ein reiner Wille zu Grunde liegen, nicht ein empirisches Wollen, oder Vernunft überhaupt, oder Absolutheit des Vernunftreichs, welches bis jetzt noch unverständlich ist; dieses / ist das Bestimmbare zu einem Bestimmten, letzteres bin ich als Individuum, ich erkenne mich als Individuum, diese Erkenntnis ist oben ein Fortgehen vom Bestimmbaren zum Bestimmten, ich bin - ein durch sich selbst herausgegriffener Teil aus dem Vernunftwesen; jetzt wird stillegestanden beim Hervorgehen der Individualität aus der Vernunft, welche so hervorgeht, dass ich mich finde als etwas nicht könnend oder dürfend,* was doch eigentlich für mich sein muss. 

Der bestimmte Akt ist hierbei ist Aufforderung zur freien Tätigkeit, diese kommt her und wird so beurteilt von einem anderen vernünftigen Wesen meinesgleichen. Das Selbstbewusstsein hebt also an von einem Herausgrei- fen aus einer Masse vernünftiger Wesen überhaupt.

*) [= 'beschränkt']
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 176f. 


Nota. - Es ist zweierlei, ob ich die Vernunft - 'real' - als ein sich selber bestimmendes Subjekt zur Voraussetzung mache, oder - 'ideal' - die Vernünftigkeit als ein Bestimmbares an  wirklich daseienden Individuen. Letzteres wäre eine problematische Bestimmung, die sich im Weiteren zu bewähren hätte; ersteres wäre ein dogmatischer Glaubenssatz. Ist die Undeutlichkeit an dieser Stelle bloße Fahrlässigkeit (womöglich des Protokollanten Krause), oder gehört sie in das Kapitel "seine schwankende Vernunft"?

Nachtrag. Als menschliche Wesen, die bestimmt sind, sich als Ich zu setzen, sind sie vorausgesetzt als an-sich wollend. Die Vernünftigkeit kommt hinzu, sofern und indem sich alle gegenseitig (im selben Raum) als wollendanerkennen: Es ist die Selbstbegrenzung der Freiheit. Sie muss erst noch geschehen, damit wirkliche Vernünftigkeit=handelnde Vernunft zustande kommt. Vernunft ist Terminus ad quem.
JE



Vernunft ist Ich ist Geist ist produktive Einbildungskraft.


Die Vernunft (das Ich) ist in der Anschauung keineswegs leidend, sondern absolut tätig; sie ist in ihr produktive Einbildungskraft.
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Grundlage des Naturrechts..., SV Bd. III, S. 58

Nota. - Vernunft = das Ich; das heißt aber nur: Zu einem Ich wird X erst, wenn es sich als vernünftig bestimmt. - Ihre Energie in der Wirklichkeit ist produktive Einbildungskraft; ist Geist.



So oder gar nicht; tertium non datur.

aus Mehr Wirklichkeit
 
Ich denke, es ist möglich, daß die Vernunft ihrem Zwecke entgegengehe und sich ihm annähere. Dies möchte etwa als ein willkürliches Denken, ein bloßes problematisches Setzen, ein Denken, das weiter auch nichts für sich hat als die bloße Denkmöglichkeit, Nicht-Undenkbarkeit, erscheinen. – Dieses Denken ist in einem gewissen Zusammenhange des Denkens notwendig: und dies ergibt erst eine logische Notwendigkeit. – Setzte ich mir den Zweck wirklich in meinem Handeln, so setzte ich ihn freilich in irgendeiner zukünftigen Zeit als wirklich: dies geht aus der Logik hervor. /

Aber beide Gemütsbestimmungen scheinen gegenseitig voneinander abzuhängen – und man hat es häufig so betrachtet -, beide miteinander zu stehen und zu fallen, und es zeigt sich kein Drittes. Ich soll und kann den Zweck der Sittlichkeit mir nicht vorsetzen, wenn ich nicht schon von seiner Ausführbarkeit überzeugt bin, hat man häufig gesagt, und so das erste vom letzten abhängig gemacht. – Ich kann ihn nicht für ausführbar halten und werde es nicht, wenn ich ihn mir nicht setze, kann man sowohl sagen. Warum soll ich ihn mir setzen?

Kurz: im bloßen logischen Verhältnisse ist beides nur unter Bedingung gewiß – und sonach keins. Es muß eine unmittelbare Gewißheit eintreten. Diese ist ein Gefühl, ich soll schlechthin diesen Zweck mir setzen: und ihn schlechthin für ausführbar halten: ihn für ausführbar halten und ihn setzen. Beides ist Ein Denken, nicht zwei: Keins ist die Folge vom andern: sondern beides ist Eins: und daß dies wahr und gewiß und unfehlbar ist, ist Notwendigkeit, die ich nur fühle, nicht erschließe aus andern Sätzen. /

Da es unmittelbare, nur fühlbare Gewißheit ist, so kann man es keinem andemonstrieren: aber bei jedem sicher voraussetzen, indem diejenigen, die es haben und die über den Zusammenhang des menschlichen Wissens nachdenken, erkennen, daß jedes andere Wissen sich nur darauf gründet: und daß jeder, der etwas weiß, unvermerkt und ihm vielleicht selbst unbekannt, von jenem Wissen ausgegangen ist. Es läßt sich jedem anmuten, daß er sich, welches von der Freiheit abhängt, mit sich selbst gehörig bekannt machen, in sich einkehren solle, wo er denn ohne allen Zweifel es in sich finden wird.
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Rückerinnerungen, Antworten, Fragen [S. 149ff.]
 

Nota. Hier stoßen wir auf einen ersten Winkelzug: "Setzte ich mir den Zweck wirklich in meinem Handeln, so setzte ich ihn freilich in irgendeiner zukünftigen Zeit als wirklich: dies geht aus der Logik hervor." Setze ich mir einen Zweck, so handle ich frei: 'Praktisch ist alles, was aus Freiheit möglich ist.' Was hat dies aber mit Logik zu tun? Die Logik ist unfrei und theoretisch. Wer anders hat uns so dringlich belehrt, zwischen beiden Reichen einenUnterschied zu machen, wie Fichte selbst? Man ahnt: Er führt was im Schilde.
JE 




Der Endzweck.

von , fotocommunity

Alles vernunftlose sich zu unterwerfen, frei und nach seinem eigenen Gesetze es zu beherrschen, ist letzter Endzweck des Menschen; welcher letzte Endzweck völlig unerreichbar ist und ewig unerreichbar bleiben muss, wenn der Mensch nicht aufhören / soll, Mensch zu seyn, und wenn er nicht Gott werden soll. Es liegt im Begriffe des Menschen, dass sein letztes Ziel unerreichbar, sein Weg zu demselben unendlich seyn muss. Mithin ist es nicht die Bestimmung des Menschen, dieses Ziel zu erreichen. Aber er kann und soll diesem Ziele immer näher kommen: und daher ist die Annäherung ins unendliche zu diesem Ziele seine wahre Bestimmung als Mensch, d. i. als vernünftiges, aber endliches, als sinnliches, aber freies Wesen. 
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Einige Vorlesuungen über die Bestimmung des Gelehrten, SW VI, S. 399f.


Nota. - Hier wird es nun problematisch.  

Bedenken wir zuerst, dass es sich um eine der frühesten öffentlichen Äußerungen Fichte handelt und vor einem allgemeinen Publikum, auch philosophischen Laien. Bedenken wir aber auch, dass die Einschränkung, dass der 'Endzweck völlig unerreichbar' sei, nichts daran ändert, dass er dies eben Endzweck nennt: alles Vernunftlose sich (als dem Agens der Vernunft) zu unterwerfen...

Andernorts heißt es dann, Übereinstimmung sei "der große Endzweck der Vernunft". Wo hat er das her? Ansonsten hält er sich weislich zurück, wenn es um die sachliche Bestimmung dessen geht, was Vernunft 'ist'; selbst das Sittengesetz ist ihm nicht 'gegeben', sondern etwas, das "erst durch uns selbst gemacht wird",* nicht als 'bestimmt', sondern als noch in Bestimmung begriffen. 

Später werden wir hören, das in der Tathandlung sich 'intellekual-anschaulich' setzende Ich sei die unmittelbare Identität von Subjekt und Objekt. Das Ich "als Idee" hingegen "ist das Vernunftwesen, inwiefern es die allgemeine Vernunft teils in sich selbst vollkommen dargestellt hat, wirklich durchaus vernünftig und nichts als vernünftig ist; also auch aufgehört hat Individuum zu sein, welches letztere es nur durch sinnliche Beschränkung war".** Das Ich als Idee ist das aus der intellektuellen Anschauung her zum Postulat gewendete Agens der Vernunft, und sofern das Ich "als Individuum" vernünftig ist, ist es sein Ideal. Soll er sich ihm also als Individuum, soll er ihm 'den ganzen endlichen, sinnlichen Menschen' unterwerfen und sie... "zur Übereinstimmung bringen"?

Die Frage ist nicht, ob er das kann, und sei es nur 'in unendlicher Annäherung'. Vielmehr gibt es keinen Grund, weshalb er das wollen sollte.

Vernünftig ist nicht ein Einzelner. Vernunft ist das Medium, in dem sich zwei verständigen können, anders "gibt es" sie nicht. Vernunft ist nur da, wo (mindestens) zwei sich verständigen können-müssen-wollen. Vernünftig ist dasjenige an den Individuen, was zur Verständigung taugt. Vernunft findet statt in unserer Welt. In meiner Welt ist sie Gegenstands-los. Das pragmatische Kriterium ist: Was sich symbolisieren lässt, kann zu einer Sache der Vernunft werden; was nicht, das nicht.

Die Wissenschaftslehre ist eine Anthropologie einschließlich Lebenslehre nur hintenrum; indem sie qua Kritikalle Erleuchtungen und Offenbarungen zunichte macht; positiv sird sie erst als das, was übrigbleibt.

*) System der Sittenlehre nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, SW Bd. IV, S. 192 
**) Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, SW I, S. 517f.



Was ist Geist?

Markus Kräft, pixelio.de

Geist überhaupt ist das, was man sonst auch produktive Einbildungskraft nennt.
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Von den Pflichten der Gelehrten, GA II/3, S. 316 





Intelligenz hat kein Sein.

aus dem Internet 

Der Idealismus erklärt [...] die Bestimmungen des Bewusstseyns aus dem Handeln der Intelligenz. Diese ist ihm nur thätig und absolut, nicht leidend; das letzte nicht, weil sie seinem Postulate zufolge erstes und höchstes ist, dem nichts vorhergeht, aus welchem ein Leiden desselben sich erklären liesse. 

Es kommt aus dem gleichen Grunde ihr auch kein eigentliches Seyn, kein Bestehen zu, weil dies das Resultat einer Wechselwirkung ist, und nichts da ist, noch angenommen wird, womit die Intelligenz in Wechselwirkung gesetzt werden könnte. Die Intelligenz ist dem Idealismus ein Thun, und absolut nichts weiter; nicht einmal einThätiges soll man sie nennen, weil durch diesen Ausdruck auf etwas bestehendes gedeutet wird, welchem die Thätigkeit beiwohne. 
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Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre, SW I, S. 440  




Eine erdichtete Einheit.

knipseline, pixelio.de  

Alles, was ich weiss, ist mein Bewusstseyn selbst. Jedes Bewusstseyn ist entweder ein unmittelbares, oder ein vermitteltes. Das erstere ist Selbstbewusstseyn, das zweite, Bewusstseyn dessen, was nicht ich selbst ist. Was ich Ich nenne, ist sonach schlechthin nichts Anderes, als eine gewisse Modification des Bewusstseyns, welche Modification Ich heisst, eben weil sie ein unmittelbares, ein in sich zurückgehendes, und nicht nach aussen gerichtetes Bewusstseyn ist. – 

Da alles Bewusstseyn nur unter Bedingung des unmittelbaren Bewusstseyns möglich ist, so versteht sich, dass das Bewusstseyn Ich alle meine Vorstellungen begleitet, in ihnen, wenn auch nicht immer von mir deutlich bemerkt, nothwendig liegt, und ich in jedem Momente meines Bewusstseyns sage: Ich, Ich, Ich, und immer Ich – nemlich Ich, und nicht das bestimmte in diesem Momente gedachte Ding ausser mir. – Auf diese Weise würde mir das Ich in jedem Momente verschwinden und wieder neu werden; zu jeder neuen Vorstellung würde ein neues Ich entstehen; und Ich würde nie etwas Anderes bedeuten, als Nichtding. 

Dieses zerstreute Selbstbewusstseyn wird nun durch das Denken, durch das blosse Denken, sage ich, in der Einheit des – erdichteten Vermögens vorzustellen, zusammengefasst. Alle Vorstellungen, die von dem unmittelbaren Bewusstseyn meines Vorstellens begleitet werden, sollen, zufolge dieser Erdichtung, aus Einem und demselben Vermögen, das in Einem und demselben Wesen ruht, hervorgehen; und so erst entsteht mir der Gedanke von Identität und Persönlichkeit meines Ich und von einer wirkenden und reellen Kraft dieser Person; nothwendig eine blosse Erdichtung, da jenes Vermögen und jenes Wesen selbst nur erdichtet ist.
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Die Bestimmung des Menschen, SW II, S. 244






Alles nur Konstrukt.

Bauhaus Design

Du wolltest wissen von deinem Wissen. Wunderst du dich, dass du auf diesem Wege auch nichts weiter erfuhrst, als – wovon du wissen wolltest, von deinem Wissen selbst; und möchtest du, dass es anders sey? Was durch das Wissen, und aus dem Wissen entsteht, ist nur ein Wissen. Alles Wissen aber ist nur Abbildung, und es wird in ihm immer etwas gefordert, das dem Bilde entspreche. Diese Forderung kann durch kein Wissen befriedigt werden; und ein System des Wissens ist nothwendig ein System blosser Bilder, ohne alle Realität, Bedeutung und Zweck. Hast du etwas Anderes erwartet? Willst du das innere Wesen deines Geistes ändern, und deinem Wissen anmuthen mehr zu seyn, denn ein Wissen?

Die Realität, die du schon erblickt zu haben glaubtest, eine unabhängig von dir vorhandene Sinnenwelt, deren Sklav du zu werden fürchtetest, ist dir verschwunden; denn diese ganze Sinnenwelt entsteht nur durch das Wissen, und ist selbst unser Wissen; aber Wissen ist nicht Realität, eben darum, weil es Wissen ist. Du hast die Täuschung eingesehen, und kannst, / ohne deine bessere Einsicht zu verläugnen, dich nie derselben wieder hingeben. Und dies ist denn das einige Verdienst, das ich an dem Systeme, das wir soeben mit einander gefunden, rühme: es zerstört und vernichtet den Irrthum. Wahrheit geben kann es nicht; denn es ist in sich selbst absolut leer. Nun suchst du denn doch etwas, ausser dem blossen Bilde liegendes Reelles – mit deinem guten Rechte, wie ich wohl weiss – und eine andere Realität, als die soeben vernichtete, wie ich gleichfalls weiss. Aber du würdest dich vergebens bemühen, sie durch dein Wissen, und aus deinem Wissen zu erschaffen, und mit deiner Erkenntniss zu umfassen. Hast du kein anderes Organ, sie zu ergreifen, so wirst du sie nimmer finden.

Aber du hast ein solches Organ. Belebe es nur, und erwärme es; und du wirst zur vollkommensten Ruhe gelangen.
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Die Bestimmung des Menschen,  SW II, S. 246

Nota. - Logisch mag die Wissenschaftslehre den dogmatischen Systemen überlegen sein - sie erklärt, anders als jene, das, was sie erklären soll, nämlich wie ein Wissen möglich ist. Aber mit jenen teilt sie den entscheidenden Mangel: Man kann nach ihr sein Leben nicht führen; doch darum geht es in der Philosophie.
JE 




Proiectio.

Lothar Sauer 

Die Bestimmung des Menschen fährt fort: 

Diese [innere] Stimme also kündigt mir gerade das an, was ich suchte; ein ausser dem Wissen Liegendes, und seinem Seyn nach von ihm völlig Unabhängiges. 
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Die Bestimmung des Menschen,  SW II, S. 248

Nota. - Ist das der feste Punkt, an den er sich halten könnte? 

Ich ahne es schon: Es wird doch wieder nur etwas sein, das er sich, um in seiner Sprache zu bleiben, eingebildet hat. Denn was er wissen konnte, reichte ihm ja nicht aus. Es war nur ein Bild. Nur ein Nach bild.  Jetzt entwirft er sich ein Vor bild, aus freien Stücken. Und das wäre sicherer?

- Die Bestimmung des Menschen war, wie überhaupt die mit den Rückerinnerungen eingeleitete Wendung in Fichtes Philosophie, die Antwort auf Friedrich Heinrich Jacobis Beitrag zum 'Atheismusstreit', der 1799 unter dem Titel Jacobi an Fichte in Hamburg erschienen war. Und dessen entscheidender, schon einleitend ausgesprochener Vorwurf gegen die Wissenschaftslehre war eben der gewesen: sie verwandele alles Seiende in bloßes Wissen, ein bloßes Bild ohne alle Realität, in ein Schema ohne Wesen. Philosophisch hat er nichts dagegen einzuwenden, für ihn ist Fichte der radikaler Vollender des Vernunftsystems, das Kant unfertig gelassen hatte. Aber gegen dieses System wendet er ein, was Fichte gegen den 'Dogmatismus' (dessen einzig reine Form für ihn die Lehre Spinozas war) eingewendet hatte: Danach könne und wolle er nicht leben.

Jacobis Antwort ist der Sprung aus dem Wissen der Philosophen in den Glauben. 'Glauben' heißt auch, nach 'Zweifel' und 'Wissen', der dritte Abschnitt der Bestimmung des Menschen, in dem wir uns hier befinden.
JE 





Der Wille zur Geltung.

Guido Reni, Hercules auf dem Scheiterhaufen, 1617 

Ich habe das Organ gefunden, mit welchem ich diese Realität, und mit dieser zugleich wahrscheinlich alle andere Realität ergreife. Nicht das Wissen ist dieses Organ; kein Wissen kann sich selbst begründen und beweisen; jedes Wissen setzt ein noch Höheres voraus, als seinen Grund, und dieses Aufsteigen hat kein Ende. 

Der Glaube ist es; dieses freiwillige Beruhen bei der sich uns natürlich darbietenden Ansicht, weil wir nur bei dieser Ansicht unsere Bestimmung erfüllen können; er ist es, der dem Wissen erst Beifall giebt, und das, was ohne ihn blosse Täuschung seyn könnte, zur Gewissheit und Ueberzeugung erhebt. / 

Er ist kein Wissen, sondern ein Entschluss des Willens, das Wissen gelten zu lassen.
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Die Bestimmung des Menschen, SW II, S. 253f.


Nota. - Dies ist die Proiectio per hiatum irrationalem. So wie Jacobi es ihm vorgeschlagen hatte. Nur ist es ein Glaube nicht an die Offenbarung und ihre Buchstaben, sondern an das eigene Vermögen, 'aus Freiheit' dem Leben einen Zweck zuzugedenken.
JE




Es muss alles erst noch gemacht werden.

Rainer Sturm / pixelio.de 

Man hat, und ich selbst habe mich oft des Ausdruck bedient: Ordnung einer übersinnlichen Welt. Man versteht dies unrichtig – und man kann freilich nicht auf alle möglichen Mißverständnisse rechnen und ihnen vorbauen -, wenn man glaubt, die übersinnliche Welt sei, ehe sie geordnet worden, und die Ordnung sei erst ein Akzidens derselben. Nein: sie selbst wird Welt nur dadurch, daß sie geordnet wird. 
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Rückerinnerungen..., S. 166 

Nota. - Das war nicht unumgänglich, dass Fichte sich in Jacobis Falle begab. Die gegenläufige problematische, aktualistische Tendenz scheint immer wieder hervor. So wie es das Sittengesetz nicht 'gibt', sondern "selbstgemacht" werden muss, kann auch eine moralische Weltordnung - und etwas anderes könne die 'göttliche Weltregierung' ja nicht bedeuten - nicht als seiend vorausgesetzt, sondern nur als sein-sollend gesetzt werden. Und zwar nicht nur das Dass, sondern auch das Was.
JE




Das Wesen der Vernunft besteht in einem Akt; die Wissenschaftslehre zergliedert ihn.

E. Muybridge
Die Wissenschaftslehre sucht sonach den Grund von allem Denken, das für uns da ist, in dem innern Verfahren des endlichen Vernunftwesens überhaupt. Sie wird sich kurz so ausdrücken: Das Wesen der Vernunft besteht darin, dass ich mich selbst setze, aber das kann ich nicht, ohne mir eine / Welt, und zwar eine bestimmte Welt entgegenzusetzen, die im Raume ist und deren Erscheinungen in der Zeit aufeinanderfolgen; dies alles geschieht in einem ungeteilten Moment; da Eins geschieht, geschieht zugleich alles Übrige.

Aber die Philosophie und besonders die Wissenschaftslehre will diesen einen Akt genau kennen lernen, nun aber lernt man nichts genau kennen, wenn man es nicht zerlegt und zergliedert. So macht es also auch die Wissenschaftslehre mit dieser einen Handlung des Ich, und wir bekommen eine Reihe miteinander verbundener Handlungen des Ich – darum, weil wir die eine Handlung nicht auf einmal fassen können, weil der Philosoph ein Wesen ist, das in der Zeit denken muss. 
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 8f.


Nota. – Hier steht es unmissverständlich: Das Wesen der Vernunft besteht in einem Akt. Vorher war nichts, es kommt hernach nichts hinzu; keine Bedingung, keine Einschränkung, keine Erweiterung. Sollte er wirklich von allem Anfang an der Vernunft ein – immanentes oder ihr vorausgesetztes – Programm zu-gedacht haben, so müsste er es heimlich getan haben; gesagt hat er jedenfalls ausdrücklich das Gegenteil.
JE






Nur die Vernunft IST.

jürgen huefner

Jener ewige Wille ist also allerdings Weltschöpfer, so wie er es allein seyn kann, und wie es allein einer Schöpfung bedarf; in der endlichen Vernunft. Diejenigen, welche ihn aus einer ewigen trägen Materie eine Welt bauen lassen, die dann auch nur träge und leblos seyn könnte, wie durch menschliche Hände verfertigte Geräthe – und kein ewiger Fortgang, einer Entwickelung aus sich selbst, oder die es sich anmuthen, das Hervorgehen eines materiellen Etwas aus dem Nichts zu denken, kennen weder die Welt, noch Ihn. 

Es ist überall Nichts, wenn nur die Materie Etwas seyn soll, und es bleibt überall und in alle Ewigkeit Nichts. 

Nur die Vernunft ist; die unendliche an sich, die endliche in ihr und durch sie.
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Die Bestimmung des Menschen, SW II, S. 304


Nota. - Das ist nun wirklich ein Salto rückwärts. Aus einem praktischen Motiv postuliert er ein theoretisches Sein. Was Kant vorn herum "ein für allemal" aus dem Denken verbannt hatte, eine "konstruierende Metaphysik", führt er hintenrum wieder ein. Vernunft-Wille-Sein wird nachträglich der Wissenschaftslehre als ursprünglich Absoluteszu Grunde gelegt; aus der Transzendentalphilosophie wird ein dogmatischer Spiritualismus - ein umgekehrter Spinozismus, wie Jacobi* ihm auf den Kopf zugesagt hatte. In den späteren Darstellungen der Wissenschaftslehre wird er ihn ausführen.
JE

*) Jacobi an Fichte, Hamburg 1799, S. 4



Der Vernunftdogmatiker.

Katharina Wieland Müller  / pixelio.de   

...der Geist ist einer, und was durch das Wesen der Vernunft gesetzt ist, ist in allen vernünftigen Individuen dasselbe.
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Über Geist und Buchstab in der Philosophie
 [1794], SW VIII , S. 292


Nota.

Die dogmatische Wendung in der Bestimmung des Menschen ist Fichte nicht von Jacobi eingeflüstert worden. Sie war vorbereitet in seiner von Anbeginn schwankenden Haltung zur Idee der VernunftIst sie etwas erst noch zu Entwerfendes, oder ist sie ein fertiges Programm, das es allenfalls noch 'durchzuführen'  gilt? Jacobis Eingreifen hat ihn lediglich genötigt, seinem Schwanken ein Ende zu setzen.
JE







Ich muss etwas Dauerndes annehmen.



Ich kann – dies liegt in meinem Denken – von dem einen Prädikate zu dem andern nicht fortgehn, sie nicht zueinander zählen und sammeln, ohne etwas Daurendes, welchem diese Prädikate insgesamt zukommen, voraus zu setzen; es eben gerade durch dieses Denken zu erzeugen: ob ich [es] gleich, eben weil ich es dem Zusammenhange und den Gesetzen des Denkens nach mit Notwendigkeit erzeuge, nicht für mein Produkt ansehe. 

Das in der Mannigfaltigkeit und Entgegengesetztheit der Prädikate fortdauernde Denken ist selbst das Fortdauernde und Bestehende. Es sind eigentlich in diesem Akte zwei entgegengesetzte Bestimmungen meines Denkens, die durch den ganzen Akt fortdauern, neben einander liegen, auf einander sich beziehen, nur durch und vermittelst eins des andern möglich sind und nur beide vereint dieses Denken und einen Denkakt überhaupt ausmachen; ...
 ____________________________________ 
Rückerinnerungen, Antworten, Fragen. [S. 170] 



Nota. - 'Ich muss', wenn ich von einem Urteil zum nächsten übergehe, einen dauernden Urteilenden annehmen; ein Ich. Und wenn Ich ein Urteil ans andere knüpft und dabei derselbe bleiben soll, muss er annehmen, dass die Gründefür sein Urteilen die einzelnen Urteilsakte überdauern. Das ist eine Annahme, die ich voraussetze, sobald ich ans Urteilen gehe; ob ich mir dessen nun bewusst bin oder nicht.
JE



An sich ist die Vernunft bloß praktisch...

...und nur in der Reflexion erscheint sie als theoretisch begründet:

Rainer Sturm  / pixelio.de 

Das Ich setzt sich selbst, als beschränkt durch das Nicht-Ich. Von diesem  [Satz] lässt sich ein Gebrauch machen; und er muss angenommen werden als gewiss, denn er lässt sich aus dem [weiter] oben aufgestellten Satze ableiten.

Das Ich ist gesetzt zuvörderst als absolute, und dann als einschränkbare, einer Quantität fähige Realität, und zwar als einschränkbar durch das Nicht-Ich. Alles dies aber ist gesetzt durch das Ich; und dieses sind denn die Momente unseres Satzes. 


(Es wird sich zeigen, 

1) dass der letztere Satz den theoretischen Theil der Wissenschaftslehre begründe – jedoch erst nach Vollendung desselben, wie das beim synthetischen Vortrage nicht anders seyn kann.

2) Dass der erstere, bis jetzt problematische Satz den praktischen Theil der Wissenschaft begründe. Aber da er selbst problematisch ist, so bleibt die Möglichkeit eines solchen praktischen Theils gleichfalls problematisch. Hieraus geht nun

3) hervor, warum die Reflexion vom theoretischen Theile ausgehen müsse; ohngeachtet sich im Verfolg zeigen wird, dass nicht etwa das theoretische Vermögen das praktische, sondern dass umgekehrt das praktische Vermögen erst das theoretische möglich mache, (dass die Vernunft an sich bloss praktisch sey, und dass sie erst in der Anwendung ihrer Gesetze auf ein sie einschränkendes Nicht-Ich theoretisch werde). – Sie ist es darum, weil die Denkbarkeit des praktischen Grundsatzes sich auf die Denkbarkeit des theoretischen Grundsatzes gründet. Aber von der Denkbarkeit ist ja doch bei der Reflexion die Rede.

4) Geht daraus hervor, dass die Eintheilung der Wissenschaftslehre / in die theoretische und praktische, die wir hier gemacht haben, bloss problematisch ist; (aus welchem Grunde wir sie denn auch nur so im Vorbeigehen machen mussten, und die scharfe Grenzlinie, die noch nicht als solche bekannt ist, nicht ziehen konnten). Wir wissen noch gar nicht, ob wir den theoretischen Theil vollenden, oder ob wir nicht vielleicht auf einen Widerspruch stossen werden, der schlechthin unauslösbar ist; um soviel weniger können wir wissen, ob wir von dem theoretischen Theile aus in einen besonderen praktischen werden getrieben werden). 

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Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre,
SW Bd. I,S. 126f.
 


Nota. -  Und nie vergessen: Praktisch ist das, was durch Freiheit möglich ist.




Vernunft, hochgerechnet; oder: Sein wunder Punkt,  

nach stylen

So ist die Vernunft selbst bestimmend ihre Tätigkeit; aber eine Tätigkeit bestimmen oder praktisch sein ist ganz dasselbe. - In einem gewissen Sinne ist es von jeher der Vernunft zugestanden worden, dass sie praktisch sei; in dem Sinne, dass sie die Mittel für irgend einen außer ihr, etwa durch unser Naturbedürfnis oder unsere freie Willkür, gegebenen Zweck finden müsse. In dieser Bedeutung heißt sie technisch-praktisch. Von uns wird behauptet, dass die Vernunft schlechthin aus sich selbst und durch sich selbst einen Zweck aufstelle; und insofern ist sie schlechthin praktisch. Die praktische Dignität der Vernunft ist ihre Absolutheit selbst; ihre Unbestimmtheit durch irgend etwas außer ihr und vollkommene Bestimmung durch sich selbst. 

Wer diese Absolutheit nicht anerkennt - man kann sie nur in sich selbst durch Anschauung finden -, sondern die Vernunft für ein bloßes Räsonnier-Verfahren hält, welchem erst Objekte von außen gegeben werden müssten, ehe es sich in Tätigkeit versetzen könne, dem wird es immer unbegreiflich bleiben, wie sie schlechthin praktisch sein könnte, und er wird nie ablassen zu glauben, dass die Bedingungen der Ausführbarkeit des Gesetzes vorher erkannt sein müssten, ehe das Gesetz angenommen werden könne. ...

Das ganze System der Vernunft sonach, sowohl in Ansehung dessen, das da sein soll, und dessen, was infolge dieses Sollens als seiend schlechthin postuliert wird, nach der ersteren Gesetzgebung [die das Wollen und Wirken betrifft], als in Ansehung dessen, das als seyend unmittelbar gefunden wird, nach der letzteren Gesetzgebung [die das Vorstellen betrifft], ist durch die Vernunft selbst als notwendig im voraus bestimmt.
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System der Sittenlehre..., SW Bd. IV, S. 57f.


Nota. - Fichtes dogmatische Wendung beruhte nicht auf einem (theoretischen) Grund, sondern auf einem (praktischen) Motiv. Daran hatte Jacobi appelliert, nachdem er ihm seine philosophischen Gründe konzediert hatte. Den fruchtbaren Boden fand er in Fichtes ambivalenter Vorstellung von der Vernunft - in der ihrerseits zwei widerstreitende praktische Motive wirksam waren: hier das ewig nur sich selbst verantwortliche Ich, da die Unbedingtheit der sittlichen Pflicht.  

Und es war anzunehmen, dass sich die Schwierigkeit, diese beiden miteinander zu vereinen, in der Sittenlehre spezifizieren müsste. Das Sittengesetz selber gebietet immer nur konkret: hic et nunc und unmittelbar. Allgemeinplätze alias Gesetze sind ihm völlig fremd, woher hätten sie ihm kommen sollen? - Aber ein Maß soll es ja wohl haben. Hinter ihm kann es keines geben. Also muss es vor ihm liegen. Ein Begriff kann es nicht sein, denn das wäre ein Abstraktum. Es soll aber anschaulich sein, anders wäre es nicht unmittelbar. 

Die Lösung liegt "anschaulich"auf der Hand: Das Maß ist nicht logisch, sondern ästhetisch. Wenn das, was ich hier und jetzt tun soll, schlechterdings geschehen soll, dann unterliegt es keinem Anderen, Höheren. Es hat keinen Zweck, es ist sich selber Zweck genug; und so ist nur das Ästhetische.

Das aber war Fichte (noch) nicht genug, als er eine Sittenlehre schrieb (denn dann hätte er sie abgebrochen). Ich meine, früher oder später wäre ihm nichts anderes übriggeblieben - wäre nicht der Atheismusstreit dazwischen- gekommen. Da er einen Schöpfergott verworfen hatte, konnte er sich der Versuchung des Atheismus nur erwehren, wenn er wenigstens eine göttliche Weltregierung oder doch immerhein den vernünftigen Glauben daran postulierte.

Und da zeitigte nun die Sittenlehre einen bizarrer Einfall. Das Gewissen allein hat ihm als Garant eines sittlichen Lebens dann doch nicht gereicht, er muss ein schwereres Kaliber auffahren. Erst werden die gedachten - nicht die realisierten - Folgen der unendlichen Reihe aller je einzeln gebotenen pflichtgemäßen Taten hochgerechnet zu einem idealen Zustand vollendeter Sittlichkeit. Dann wird die kontingente Summe gesetzt als einiger realer Zweck aller wirklichen sittlichen Handlungen, und schließlich wieder heruntergerechnet auf die einzelnen Handlungen als deren - keinem Ich je bekannte - Einzelzwecke. Aus einer idealen Reihe wird ein reale, und die Vernunft, die real nur bestand als die vereinigte Vernünftigkeit einer Reihe vernünftiger Wesen, wird plötzlich, indem sie einen identischen Zweck erhält, zu einem eigenen Subjekt, die ihren Zweck so verfolgt, als habe sie ihn schon gehabt, bevor es die Reihe vernünftiger Wesen überhaupt gab. 'Aus unbewusst wird bewusst', könnte ein Spötter sagen; Hokuspokus, sagt der gesunde Menschenverstand.

Es ist nicht anzunehmen, dass ein scharfer Denker wie F. sich einen solchen Taschenspielertrick hätte durchgehen lassen, wenn die Motive nicht so unvergleichlich stärker gewesen wären als die Gründe. Die Sittenlehre war schon im Handel, als Friedrich Carl Forberg ihm seinen berüchtigten Aufsatz für das Philosophische Journal zukommen ließ, in dem er, von Hans Vaihinger später hochgelobt, die Religion als eine nützliche Veranstaltung zwecks Moralisierung der ungebildeten Masse darstellte. Als eine Art Disclaimer stellte ihm Fichte seinen Aufsatz Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung zur Seite, wo er die Notwendigkeit nicht eines Glaubens an einen persönlichen Gott, sondern eben: des Glaubens an eine göttliche Weltregierung darlegt; aber wohlbemerkt nicht: deren Realität. 

War das atheistisch? Ein frommer Mann würde sagen, ja. Ein Atheist würde sagen, nicht wirklich. Auf jeden Fall zwang der Atheismusstreit Fichte, sich endlich für eine seiner beiden Lesarten der Vernunft zu entscheiden. Er wählte, um nicht als Atheist dazustehen, die dogmatische. 
JE




Intellectus agens.

tirot, pixelio.de

Es ist, zeigt dieses System, der zwar zu keiner Zeit zu erreichende, jedoch unaufhörlich zu befördernde Zweck unseres ganzen Daseyns und alles unseres Handelns, dass das Vernunftwesen absolut und ganz frei, selbstständig und unabhängig werde von allem, das nicht selbst Vernunft ist. Die Vernunft soll ihr selbst genügen. 

Diese unsere Bestimmung kündigt sich uns eben an durch jenes Sehnen, das durch kein endliches Gut zu befriedigen ist. Diesen Zweck sollen wir schlechthin, müssen wir schlechthin, wenn wir uns selbst treu bleiben wollen, uns setzen. Was wir unseres Orts zu thun haben, um denselben zu befördern, und inwieweit seine Erreichung von uns abhängt, lehrt uns gleichfalls die unmittelbar gebietende, unaustilgbare und untrügliche innere Stimme des Gewissens. 

Das Gewissen ist es, das in jeder Lage des Lebens, wenn wir nur dasselbe befragen, uns entscheidend sagt, was in dieser Lage / unsere Pflicht sey, das heisst, was wir in derselben zur Beförderung jenes Zweckes aller Vernunft beizutragen haben. Wir müssen schlechthin jenen Zweck wollen, dies ist die einige unabänderliche Bestimmung unseres Willens; – die besondere, durch Zeit und Lage bestimmte Pflicht, ohnerachtet sie im gemeinen Bewusstseyn als etwas unmittelbares erscheint, wollen wir doch nur, wie sich bei einer gründlichen philosophischen Untersuchung des gesammten Bewusstseyns ergiebt, als Theil und als Mittel jenes Endzwecks.

...ohnerachtet ich freilich nicht begreife, auch nicht zu begreifen bedarf, wie und auf welche Weise jene pflichtmässige Gesinnung mich zu meinem nothwendigen /  Zwecke führen möge... 
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Appellation an das Publicum über die durch ein Churf. Sächs. Confiscationsrescript ihm beigemessenen atheistischen Aeusserungen, SW V, S. 204ff.



Nota. - In der Formel "wollen wir doch nur, wie sich bei einer gründlichen philosophischen Untersuchung des gesammten Bewusstseyns ergiebt, als Theil und als Mittel jenes Endzwecks", wird deutlich die Auffassung der Vernunft als einer überindividuellen Substanz, die lediglich durch die Individuen hindurch wie ein willensbegabtes Subjekt ihr eigenes Ziel verfolgt. - Das erinnert lebhaft an den intellectus agens der spezifisch an Averroes orientierten Spätscholastiker, der selber ewig ist und von außen in die Individuen hineinwirkt, wo er auf den bloß passiven intellectus possibilis trifft und sich so zum intellectus materialis bildet. (Ob A. es selber so gemeint hat, ist anscheinend umstritten.) - 

Allerdings war die auf Aristoteles zurückgehende Unterscheidung von wirkender und möglicher Vernunft im späten Mittelalter landläufig und findet sich ebensogut bei dem als Dominikaner eher Plato zugeneigten Meister Eckhart und bei seinen Schülern; wobei das wirkende Element stes von außen, womöglich von Gott selbst, hineingetragen wird.

Doch auch F.'s Auffassung von der Bestimmung des Gelehrten zum Volkslehrer und -führer erinnert an Averroes und an seine Lehre von den "zwei Wahrheiten", ebenso sein Geschichtsdeterminismus.

Gibt es Hinweise auf eine besondere Auseinandersetzung Fichtes mit den Scholastikern? Es mag sich überall nur um Reminiszenzen aus seinem Theologiestudium handeln, aber dann wäre es mit seinem Kritizismus nicht weit her.
JE



Ein Nec plus ultra der Kritik?

rachelgravesart 

Was ist wahr; was ist gut? – Die Beantwortung dieser Fragen, die jedes philosophische System beabsichtigen muss, ist auch das Ziel des meinigen. Dieses System behauptet zuvörderst gegen diejenigen, welche alles Gewisse in der menschlichen Erkenntniss läugnen, dass es etwas absolut wahres und gutes gebe. Es zeigt gegen diejenigen, welche unsere gesammte Erkenntniss aus der Beschaffenheit unabhängig von uns vorhandener Dinge erklären wollen, dass es nur insofern Dinge für uns giebt, als wir uns derselben bewusst sind, und wir sonach mit unserer Erklärung des Bewusstseyns zu den von uns unabhängig, vorhandenen Dingen nie gelangen können. 

Es behauptet – und darin besteht sein Wesen, – dass durch den Grundcharakter und die ursprüngliche Anlage der Menschheit überhaupt eine bestimmte Denkart festgesetzt sey, die zwar nicht nothwendig bei jedem einzelnen in der Wirklichkeit sich finde, auch sich ihm nicht andemonstriren lasse, wohl aber einem jeden schlechterdings angemuthet werden könne. Es gebe etwas den freien Flug des Denkens anhaltendes und bindendes, bei welchem jeder Mensch sich beruhigen müsse; welches in unserer eigenen Natur, aber freilich ausserhalb des Denkens selbst, liege; indem, was das letztere betrifft, dem Skepticismus die absolute Unaufhaltsamkeit der Speculation durch ihre eigenen Gesetze vollkommen zuzugeben sey.
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Appellation an das Publicum über die durch ein Churf. Sächs. Confiscationsrescript ihm beigemessenen atheistischen Aeusserungen, SW V, S. 202f. 


Nota. - Hier sagt er es buchstäblich: Die Frage nach dem Woher (und folglich dem Wozu) der Vernunft ist die Stelle, wo die kritische Analyse des Transzendentalphilosophen an ihr Ende kommt. Sich selbst kann die Vernunft eben doch nicht zum Gegenstand machen. Das war allerdings der Sinn und Zweck der Kritischen Philosophie gewesen. Fichte hat ihn sich schließlich von Jacobi ausreden lassen.
JE




Credo quia absurdum.

 Duchamp

Es dringt sich mir auf der unerschütterliche Glaube, dass es eine Regel und feste Ordnung gebe – ich Sterblicher bin wohl genöthiget, das Uebersinnliche durch Begriffe, die von der Sinnenwelt hergenommen sind, zu denken – dass es eine feste Ordnung gebe, nach welcher nothwendig die reine moralische Denkart selig mache, sowie die sinnliche und fleischliche unausbleiblich um alle Seligkeit bringe; eine Ordnung, welche mir unerklärlich ist, und der mir allein bekannten Ordnung in der Sinnenwelt geradezu entgegen, – indem in der letzten der Erfolg davon abhängt, was geschieht, in der ersteren davon, aus welcher Gesinnung es geschieht; eine Ordnung, in welcher alle sinnliche Wesen begriffen, auf die Moralität aller, und vermittelst derselben auf aller Seligkeit gerechnet ist; eine Ordnung, deren Glied ich selbst bin, und aus welcher hervorgeht, dass ich gerade an dieser Stelle in dem Systeme des Ganzen stehe, gerade in die Lage komme, in welcher es Pflicht wird, so oder so zu handeln, ohne Klügelei über die Folgen, indem gar nicht auf Folgen in der sichtbaren, sondern in der unsichtbaren und ewigen Welt gerechnet ist, welche, vermittelst jener Ordnung, zufolge des untrüglichen Ausspruchs in meinem Innern, nicht anders als selig seyn können.
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Appellation an das Publicum über die durch ein Churf. Sächs. Confiscationsrescript ihm beigemessenen atheistischen Aeusserungen, SW VS. 267





Der Grundsatz der Wissenschaftslehre.

 
J
ede mögliche / Wissenschaft hat einen Grundsatz, der in ihr nicht erwiesen werden kann, sondern vor ihr vorher gewiss seyn muss. Wo soll nun dieser Grundsatz erwiesen werden? Ohne Zweifel in derjenigen Wissenschaft, welche alle möglichen Wissenschaften zu begründen hat. – Die Wissenschaftslehre hätte in dieser Rücksicht zweierlei zu thun. Zuvörderst die Möglichkeit der Grundsätze überhaupt zu begründen; zu zeigen, wie, inwiefern, unter welchen Bedingungen, und vielleicht in welchen Graden etwas gewiss seyn könne, und überhaupt, was das heisse – gewiss seyn; dann hätte sie insbesondere die Grundsätze aller möglichen Wissenschaften zu erweisen, die in ihnen selbst nicht erwiesen werden können. ...

Die Wissenschaftslehre ist selbst eine Wissenschaft. Auch sie muss daher zuvörderst einen Grundsatz haben, der in ihr nicht erwiesen werden kann, sondern zum Behuf ihrer Möglichkeit als Wissenschaft vorausgesetzt wird. Aber dieser Grundsatz kann auch in keiner anderen höheren Wissenschaft erwiesen werden; denn dann wäre diese höhere Wissenschaft selbst die Wissenschaftslehre, und diejenige, deren Grundsatz erst erwiesen werden müsste, wäre es nicht. Dieser Grundsatz – der Wissenschaftslehre, und vermittelst ihrer aller Wissenschaften und alles Wissens – ist daher schlechterdings keines Beweises fähig, d.h. er ist auf keinen höheren / Satz zurück zu führen, aus dessen Verhältnisse zu ihm seine Gewissheit erhelle. 

Dennoch soll er die Grundlage aller Gewissheit abgeben; er muss daher doch gewiss und zwar in sich selbst, und um sein selbst willen, und durch sich selbst gewiss seyn. Alle anderen Sätze werden gewiss seyn, weil sich zeigen lässt, dass sie ihm in irgend einer Rücksicht gleich sind; dieser Satz muss gewiss seyn, bloss darum, weil er sich selbst gleich ist. Alle andere Sätze werden nur eine mittelbare und von ihm abgeleitete Gewissheit haben; er muss unmittelbar gewiss seyn. Auf ihn gründet sich alles Wissen, und ohne ihn wäre überhaupt kein Wissen möglich; er aber gründet sich auf kein anderes Wissen, sondern er ist der Satz des Wissens schlechthin. 

Dieser Satz ist schlechthin gewiss, d.h. er ist gewiss, weil er gewiss ist*. Er ist der Grund aller Gewissheit, d.h. alles was gewiss ist, ist gewiss, weil er gewiss ist; und es ist nichts gewiss, wenn er nicht gewiss ist. Er ist der Grund alles Wissens, d.h. man weiss, was er aussagt, weil man überhaupt weiss; man weiss es unmittelbar, so wie man irgend etwas weiss. Er begleitet alles Wissen, ist in allem Wissen enthalten, und alles Wissen setzt ihn voraus.

*) Man kann ohne Widerspruch nach keinem Grunde seiner Gewissheit fragen. handschr. Marginalie 
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Ueber den Begriff der WissenschaftslehreSW I, S. 46 ff.





Die absolute Prämisse.

Wissensagentur

Jede Philosophie setzt etwas voraus, erweist etwas nicht, und erklärt und erweist aus diesem alles andere, auch der Idealismus, dieser setzt die erwähnte freie Tätigkeit voraus als Prinzip, aus welchem alles erklärt werden muss, das aber selbst nicht weiter erklärt werden kann. 
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Wissenschaftslehre nova methodo, 2. Einleitung, Nachschrift K. Chr. Fr. Krause, Hamburg 1982, S. 17 Rechtschreibung modernisiert.






Vernunft ist schlechthin praktisch.

Daarom / pixelio.de

Die Vernunft ist nicht ein Ding, das da sei und bestehe, sondern sie ist Tun, lauteres, reines Tun. Die Vernunft schaut sich selbst an: dies kann sie und tut sie, eben weil sie Vernunft ist; aber sie kann sich nicht anders finden, denn sie ist: als ein Tun. 

Nun ist sie endliche Vernunft, und alles, was sie vorstellt, wird ihr, indem sie es vorstellt, endlich und bestimmt; sonach wird [ihr] auch, lediglich durch die Selbstanschauung und das Gesetz der Endlichkeit, an welches sie gebunden ist, ... ihr Tun ein bestimmtes. Aber Bestimmtheit eines reinen Tuns als solchen gibt kein Sein, sondern ein Sollen. So ist die Vernunft durch sich selbst bestimmend ihre Tätigkeit; aber - eine Tätigkeit bestimmen oder praktisch sein ist ganz dasselbe. - 

In einem gewissen Sinne ist es von jeher der Vernunft zugestanden worden, dass sie praktisch sei; in dem Sinne, dass sie die Mittel für irgend einen außer ihr, etwa durch unser Naturbedürfnis oder unsere freie Willkür gegebenen Zweck finden müsse. In dieser Bedeutung heißt sie technisch-praktisch. 

Von uns wird behauptet, dass die Vernunft schlechthin aus sich selbst und durch sich selbst diesen Zweckaufstelle, und insofern ist sie schlechthin praktisch.

Die praktische Dignität der Vernunft ist ihre Absolutheit selbst; ihre Unbestimmbarkeit durch irgend etwas außer ihr und vollkommene Bestimmtheit durch sich selbst. Wer diese Absolutheit nicht anerkennt - man kann sie nur in sich selbst durch Anschauung finden -, sondern die Vernunft für ein bloßes Räsonnier-Vermögen hält, welchem erst Objekte von außen gegeben sein müssten, ehe es sich in Tätigkeit versetzen könne, dem wird es immer unbegreiflich bleiben, wie sie schlechthin praktisch sein könne, und er wird nie ablassen zu glauben, dass die Bedingungen der Ausführbarkeit des Gesetzes vorher bekannt sein müssen, ehe das Gesetz angenommen werden könne. 
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System der Sittenlehre, SW Bd. IV, S. 57f.



Nota. - "Endliche" Vernunft! - 'Unendliche' Vernunft wäre eine bloße Idee'von der gar nicht vorgegeben wird, dass ihr in der wirklichen Welt außer uns irgendetwas entspräche'. Sie ist, wie Gott selbst, nur die idealisierte Luftspiegelung der Eigenschaft, die den realen Sterblichen an ihnen selbst die liebsten, oder doch immerhin die würdigsten sind. 
 
Ideen sind ihrer Natur nach nicht begründet noch begründbar, aber beliebig sind darum noch lange nicht. Sie können nämlich (fürs wirkliche Leben) etwas taugen oder nicht. Die Idee Gottes hat die Religionen möglich gemacht, und dass die in der Geschichte zu etwas getaugt haben, ist unstrittig; strittig ist allein, ob es das wert war. Und strittig ist, gottlob, ob es das heute noch ist.

Die Idee einer unendlichen Vernunft dagegen taugt zu nichts; denn dass Vernunft auf der Fiktion beruht - und gar selber diese Fiktion ist - , dass es für alle unsere Urteile ein gemeinsames Maß gäbe, gälte auch dann, wenn es keiner wahrhaben wollte.




JE

Naturvernunft.


Der gestrige Eintrag gehört unter die Rubrik Fichtes dogmatische Wendung; und zwar in dem Sinne, dass es sich nicht eigentlich um eine Umkehr handelte, sondern um das vom Eingreifen Jacobis in den Atheismusstreit veranlasste Überhandnehmen einer unkritischen, dogmatischen Unterströmung in Fichtes Vorstellung von 'Vernunft'.  

Bemerkenswert ist immerhin Fichtes beharrliche Weigerung, einen  Bruch oder eine Wendung in seiner intellektuellen Laufbahn zuzugeben: Er habe allezeit ein und dasselbe gelehrt. Nun muss man ja nur die Bücher aufschlagen, um zu sehen, dass das nicht stimmt, nämlich nach dem Wortlaut zu urteilen. Dass er sich dabei allezeit was anderes gedacht hat, wird ihm niemand widerlegen können. Aber man kann ihm nachweisen, dass er sich nicht ohne Widerspruch etwas anderes hat denken können.

Der "große Zweck" der Vernunft ist nach Fichte: Übereinstimmung herbeiführen; offenbar nicht erst Übereinstimmung der vernünftigen Wesen untereinander, sondern schon ihre Übereinstimmung mit... der Natur.  So jedenfalls beschreibt er es in seinem kuriosesten Text zu diesem Thema: Vernunft ist ursprünglich 'von Natur' schon immer dagewesen, am Anfang in einem mythischen "Normalvolk", das auf einer Insel der Seligen in einem Meer von Rohheit, Blindheit und Unvernunft im friedlich Einklang mit sich und seiner kleinen Welt gelebt hat, bis es eines Tages wie Wielands Abderiten auseinandergerissen und über die Erde verstreut wurde; wo es nun allenthalben, ein Jeder an seiner Stelle, die Keime zur Vernünftigkeit in die ganze Gattung tragen muss. Denn der Zweck der Menschheit - nota: den müsste doch jemand gesetzt haben? - sei nicht: vernünftig sein, sondern (aus Freiheit) vernünftig werden.

Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, aus denen diese Mythe stammt, erschienen 1806, und man mag ihm glauben, dass ihm diese Geschichte schon vorgeschwebt hätte, als er 1798 die Sittenlehre vortrug. Aber ausgesprochen hat er es damals nicht, denn noch meinte er, in der Wissenschaftslehre die Transzendentalphilosophie vollendet zu haben, indem er sie radikalisierte und Kant von seinen Halbheiten befreite. Die waren aber capita mortua der Leibniz'schen Tradition gewesen. Seine eigene Halbheit war dagegen ein Restbestand von Spinozas Deus sive Natura, und Jacobi tat nicht Unrecht, als er ihn an seine Herkunft erinnerte. Aber er hat nicht den gebotenen Schluss daraus gezogen.





Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.





Klotz am Bein.

freepik 

Die Vernunft bestimmt durch sich selbst ihr Handeln, weil sie sich selbst anschauend und endlich ist.

Dieser Satz hat eine doppelte Bedeutung, da das Handeln der Vernunft von zwei Seiten angesehen wird. In der Sittenlehre wird er nur auf das vorzugsweise so genannte Handeln bezogen, das vom Bewusstsein der Freiheit begleitet ist, und daher selbst auf dem gemeinen Gesichtspunkte für ein Handeln anerkannt wird; das Wollenund Wirken. Aber der Satz gilt ebensowohl von dem Handeln, welches man als ein solches nur auf dem transzendentalen Gesichtspunkte findet, dem Handeln in der Vorstellung. 

Das Gesetz, welches die Vernunft selbst für das erstere gibt, das Sittengesetz, wird von ihr selbst nicht notwendig befolgt, weil es sich an die Freiheit richtet; dasjenige, welches sie sich für das letztere gibt, das Denkgesetz, wird notwendig befolgt, weil die Intelligenz in Anwendung desselben, obwohl tätig, doch nicht frei tätig ist.

Das ganze System der Vernunft sonach, sowohl in Ansehung dessen, das da sein soll, und dessen, das zufolge dieses Sollens als seiend schlechthin postuliert wird, nach der ersteren Gesetzgebung; als in Ansehung dessen, das als seiend unmittelbar gefunden wird, nach der zweiten Gesetzgebung, ist durch die Vernunft selbst als notwendig im Voraus bestimmt. Was aber die Vernunft selbst nach ihren eigenen Gesetzen zusammengesetzt /hat, sollte sie ohne Zweifel nach denselben Gesetzen auch wieder auflösen können: oder die Vernunft erkennt notwendig sich selbst vollständig, und es ist eine Analyse ihres gesamtem Verfahrens, oder ein System der Vernunft möglich. 
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System der Sittenlehre, SW IV, S. 58f.

 
Nota. - 
Das Was des Sittengesetzes sei 'als notwendig im Voraus bestimmt', und dieses als vollbracht vorgestellt, wird 'als seiend schlechthin postuliert'. - Das Sittengestz richtet sich zwar an den Einzelnen - du sollst - und macht sich als Richtspruch des Gewissens vernehmlich; aber das Endresultat aller dieser einzelnen Pflichten zusammengenommen ergäbe nicht nur ein in sich stimmiges Ganzes, sondern 'die Vernunft' soll es sogar rückblickend als das von ihr vorweg Postulierte erkennen können?!

Das ist nur als prästabilierte Harmonie denkbar; nämlich wenn die Vernunft als eine außer- und überindividu- elle, Alles lenkende Substanz vorgestellt wird. Das käme für den Leser, der Fichte als den 'Begründer des Deutschen Idealismus' kannte, nicht überraschend. Wer aber Fichte vielmehr als Transzendentalphilosophen kennen gelernt hatte, wird vergeblich in seinem Werk nach der Stelle suchen, wo er diese Vorstellung von Vernunft 'vor unsern Augen hat entstehen lassen'. Aber nur, weil er diese Vorstellung von einem Vernunftsystemvon vorherein schon hatte, konnte ihm einfallen, ein 'System der Sittenlehre' darunter zu fassen.

So wie Kant das Ding an sich als Caput mortuum der Wolff-Baumgarten'schen Metaphysik mit sich geschleppt hat, hängt dem Kritizisten Fichte allezeit der scholastische intellectus agens am Bein - und sogar am Hals und würgt.
JE



Wir können aus dem Umkreis unserer Vernunft nicht hinaustreten.

mscheffer

Ist ein Mensch, so ist notwendig auch eine Welt, und bestimmt solch eine Welt, wie die unserige es ist, die vernunftlose Objekte und vernünftige Wesen in sich enthält. ...

Die Frage nach dem Grund der Realität der Objekte ist sonach beantwortet. Die Realität der Welt - es versteht sich, für uns, d. h. für alle endliche Vernunft - ist Bedingung des Selbstbewusstseins; denn wir können uns nicht selbst setzen, ohne etwas außer uns zu setzen, dem wir die gleichen Realität zuschreiben müssen, die wir uns selbst beilegen. 

Nach einer Realität zu fragen, die bleiben soll, nachdem von aller Vernunft abstrahiert worden ist, ist wider- sprechend; denn der Fragende hat doch wohl Vernunft; fragt, getrieben durch einen Vernunftgrund, und will eine vernünftige Antwort; er hat mithin von der Vernunft nicht abstrahieret. 

Wir können aus dem Umkreise unser Vernunft nicht hinausgehen.
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Grundlage der Naturrechts..., SW III, S. 40 





Soll es überhaupt ein vernünftiges Wesen geben, so müssen es mehrere sein.

Doisneau

Das / vernünftige Wesen kann sich nicht setzen als ein solches, es geschehe denn auf dasselbe eine Aufforde- rung zum freien Handeln. ... Geschieht aber eine solche Aufforderung zum Handeln auf dasselbe, so muss es notwendig ein vernünftiges Wesen außer sich setzen als die Ursache derselben, also überhaupt ein vernünftiges Wesen außer sich setzen ...

Der Mensch (so alle endlichen Wesen überhaupt) wird nur unter Menschen ein Mensch; und da er nichts anderes sein kann denn ein Mensch, und gar nicht sein würde, wenn er dies nicht wäre - sollen überhaupt Menschen sein, so müssen es mehrere sein.  

Dies ist nicht eine willkürlich angenommene, auf die bisherigen Erfahrungen oder auf andere Wahrscheinlich- keitsgründe aufgebaute Meinung, sondern es ist eine aus dem Begriff des Menschen streng zu erweisende Wahrheit. Sobald man diesen Begriff vollkommen bestimmt, wird man von dem Denken eines Einzelnen aus getrieben zur Annahme eines zweiten, um den ersten erklären zu können. Der Begriff des Menschen ist sonach gar nicht Begriff eines Einzelnen, sondern der einer Gattung.
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Grundlage der Naturrechts..., SW III, S. 38f.




Nota.

Die Zirkularität der Argumentation ist nicht zu übersehen. Der Begriff des vernünftigen Wesens muss (vorläufig) den Begriff des Menschen erklären, und der Begriff des Menschen muss das vernünftige Wesen erklären. 

Aber es handelt sich ja nicht um eine logische Konstruktion ex nihilo, von Definition zu Definition. Der Ausgangspunkt ist immer: Es gibt ja wirklich Menschen, und jenes Besondere an ihnen, das sie wirklich von andern Lebewesen unterscheidet, wollen wir (einstweilen) als Vernunft bezeichnen. Es ist ein genetischesVerfahren, kein logisches (dann wäre es tauto-logisch). Der Ausgangspunkt sind Vorstellungen, die wir wirklich haben, und die auf ihre Voraussetzungen und Implikationen untersucht werden. Und da kann tatsächlich nur das eine das andere erklären und das andere das eine. Näher kommt man dem, was wirklich da ist, nicht.
JE




DAS ist Vernunft!

massimo ampofo

Der Charakter der Vernünftigkeit besteht darin, dass der Handelnde und das Behandelte Eins sei und ebendasselbe; und durch diese Beschreibung ist der Umkreis der Vernunft als solcher erschöpft. - 

Der Sprachgebrauch hat diesen erhabenen Begriff für diejenigen, die desselben fähig sind, d. h. diejenigen, die der Abstraktion von ihrem eigenen Ich fähig sind, in dem Wort Ich niedergelegt; darum ist die Vernunft überhaupt durch die Ichheit chrakterisiert worden. Was für ein vernünftiges Wesen da ist, ist in ihm da; aber es ist nichts in ihm, außer infolge eines Handelns auf sich selbst: was es anschaut, schaut es in sich selbst an; aber es ist in ihm nichts anzuschauen, als sein Handeln: und das Ich ist nichts anderes, als sein Handeln auf sich selbst.*

*) Ich möchte nicht einmal sagen: ein Handelndes, um nicht die Vorstellung eines Substrats, in welchem die Kraft eingewickelt läge, zu veranlassen.- Man hat unter anderen [sic] gegen die Wissenschaftslehre so argumentiert, als ob sie ein Ich als ohne ein Zutun des Ich vorhandenes Substrat (ein Ding, als Ding an sich) der Philosophie zu Grunde legte. ... / Diese Leute können ohne Substrat einmal nichts anfangen, weil es ihnen unmöglich ist, sich von dem Gesichtspunkte der gemeinen Erfahrung auf den Gesichtspunkt der Philosophie zu erheben.
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Grundlage der Naturrechts... Einleitung, SW III, S. 1
f. 


Nota.

In den Einleitungen zum Naturrecht und zur Sittenlehre "nach Prinzipien der Wissenschaftslehre" gibt Fichte programmgemäß ein Darstellung... ebendieser Prinzipien der Wissenschaftslehre. Sie können und sollen natürlich auch nicht das Studium der Wissenschaftslehre ersetzen, denn was hier als Ergebnis der  Reflexion zusammengefasst ist, wird dort erst hervorgebracht. Wie gut oder schlecht diese Arbeit gelang, wird man beurteilen müssen, indem man sie selber mitvollzieht, und nicht danach, ob einem das Ergebnis zupass kommt oder nicht.

Ein Juwel sind diese Einleitung trotzdem, nämlich als Metatext: als Anleitung, wie es zu verstehen ist, wenn die Darstellung selbst im öffentlichen Urteil nicht so eindeutig erscheint, wie es dem Autor vorkam; und gelegentlich wird er verleitet, seinen Ausdruck zu größerer Klarheit zu verdeutlichen. Die Einleitungen mögen in der philosophische Debatte als Argument nicht gut taugen; aber als Interpretationsanleitung sind sie Gold wert.

Dies alles vorweg, um bloß zu sagen: Damit, dass der Handelnde und das Behandelte eins sind, ist der Umkreis der Vernunft erschöpft. Nicht ein bisschen, weitgehend, ziemlich, sondern - erschöpft. Indes ist zwar kein Träger oder Vehikel, aber doch immerhin eine "Kraft" mit vorausgesetzt. Aber die ist ohne alle Bestimmung, denn ihre Bestimmung wird es ja sein, sich selber zu bestimmen.

So hat er's gesagt und so hat er's geschrieben. Dass ihm dabei jederzeit noch diese oder jene Nebenvorstellungmit hineingespielt hat, mag ja sein; wäre aber eine Inkonsequenz, die er hätte ausräumen sollen. Stattdessen hat er darauf dann seine Rückwendung zum Dogmatismus gegründet.
JE




Ex sponte sua.


Das vernünftige Wesen ist lediglich, inwiefern es sich als seiend setzt. ...

Das vernünftige Wesen setzt notwendig sich selbst; es tut sonach notwendig alles dasjenige, was zu seinem Setzen durch sich selbst gehört, und [das] in dem Umfange der durch dieses Setzen ausgedrückten Handlung liegt.

Indem das vernünftige Wesen handelt, wird es sich seines Handelns nicht bewusst; denn es selbst ist ja sein Handeln und nichts anderes: Das aber, dessen es sich bewusst wird, soll außerhalb dessen liegen, das sich bewusst wird, also außerhalb des Handelns; es soll Objekt, d. h. Gegenstand des Handelns sein. 

Das Ich wird nur desjenigen sich bewusst, was ihm in diesem Handeln und durch dieses Handeln  (bloß und lediglich dadurch) entseht; und dieses ist das Objekt des Bewusstseins. Ein anderes Ding gibt es für ein vernünftiges Wesen nicht.
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Grundlage der Naturrechts... Einleitung, SW III, S. 2
f. 

Nota. - Nicht: weil es vernünftig ist, muss es sich mit Notwendigkeit selbst setzen; sondern: um ein vernünftiges zu sein, muss sich ein Wesen notwendig (als solches) selbst setzen. Vorher ist es nicht vernünftig; und vorher "gab es" keine Vernunft: Die wird erst, indem ein Wesen 'sich selber setzt' (indem sich nämlich einem Nichtich entgegensetzt...)
JE





Der Begriff der Individualität ist Bedingung der Vernünftigkeit.

Lothar Sauer

Der Begriff der Individualität ist aufgezeigtermaßen ein Wechselbegriff, d. i. ein solcher, der nur in Beziehung auf ein anderes Denken gedacht werden kann, und durch dasselbe, und zwar durch das gleiche Denken, der Form nach bedingt ist. Er ist in jedem Vernunftwesen nur insofern möglich, inwiefern er als durch ein anderes voll- endet gesetzt wird. Er ist demnach nie mein; sondern meinem eigenen Geständnis und dem Geständnis des Anderen nach mein und sein; sein und mein; ein gemeinschaftlicher Begriff, in welchem zwei Bewusstsein [sic]vereinigt werden in Eines.

Durch jeden meiner Begriffe wird der folgende in meinem Bewusstsein bestimmt. Durch den gegebenen Begriff ist eine Gemeinschaft bestimmt, und die weiteren Folgerungen hängen nicht bloß von mir, sondern auch von dem ab, der mit mir dadurch in Gemeinschaft getreten ist.

Nun ist der Begriff notwendig, und diese Notwendigkeit nötigt uns beide, über ihn und seine notwendigen Folgen zu halten [sic]: Wir sind beide durch unsere Existenz aneinander gebunden und einander verbunden. Es muss ein uns gemeinschaftliches und von uns gemeinschaftlich notwendig anzuerkennendes Gesetz geben, nach welchem wir gegenseitig über die Folgerungen halten, und dieses Gesetz muss in demselben Charakter liegen, nach welchem wir eben jene Gemeinschaft eingegangen: dies aber ist der Charakter der Vernünftigkeit, und ihr Gesetz über die Folgerung heißt Einstimmigkeit mit sich selbst oder Konsequenz und wird wissenschaftlich aufgestellt in der gemeinen Logik.
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Grundlage des Naturrechts..., SW III, S. 


Nota. - Hier sehen wir zu, wie aus der Individuation, die eines Anderen bedarf, die Folgerichtigkeit, die Logik und, als Übereinstimmung mit sich selbst, die Vernünftigkeit hervorgeht. Wie also könnte man sich denken, dass die Vernunft selbst schon vorher 'da' war - und wo?
JE






Vernunft ist eine Fundsache.

rp-online
Ich finde mich also als Objekt, bin mir gegeben.

Das Bestimmbare ist ein Reich vernünftiger Wesen außer mir. Aber vernünftige Wesen außer mir werden nur gedacht, um das Mannigfaltige zu erklären. Die Vernunft und den freien Willen anderer außer mir nehme ich nicht wahr, ich schließe nur darauf aus einer Erscheinung in der Sinnenwelt; sie gehören daher nicht in die Sinnen-, sondern in die intelligible Welt, in die der Noumene. 
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 150 


Nota. - Dass Vernunft sei, nehme ich nicht wahr in der Begegnung mit andern Wesen, die ich hinterher als vernünftig ansehen werde wie mich selber. Wahr nehme ich bloß, dass sie da sind neben mir. Aus diesem bloßen Umstand schließe ich - finde ich? postuliere ich? -, dass da ein Medium sein muss, in dem wir miteinander bestehen. 

Mit andern Worten, die 'vernünftigen Wesen' sind eher da - in meiner Vorstellung -, als die Idee der Vernunft. Ich finde, dass sie 'in gewisser Hinsicht' mir gleich sind, oder ich ihnen. Dieses Tertium will ich Vernunft nennen. Wie weit es reicht, wird man sehen; was es ist, muss man dann nicht wissen.
JE








Das Ich ist, wie die Vernunft, lediglich etwas Gedachtes.

 


Das Ich ist, wie es hier, in dem Hauptbegriffe der ursprünglichen Bestimmtheit, angesehen wird, etwas Intelligibles, ein Geistiges, es lässt sich bloß negativ bestimmen durch Abstraktion von der äußeren Anschauung. Die Form der äußeren Anschauung Raum und Zeit passt darauf gar nicht. 

Das Ich als ein Geistiges ist ein Bestimmtes, das Bestimmbare dazu muss auch rein geistig sein, eine Masse des rein Geistigen (sit venia verbo, es wird sich unten zeigen als Reich vernünftiger Wesen, das Ich ist ein bestimmter Teil dieser Masse; es wird sich unten zeigen, dass das Geistige sich teilen lasse. Das Ich ist Vernunft und bestimmte Vernunft.

Das Bestimmbare dazu ist alle Vernunft (Wesen meiner Gattung), das Bestimmte bin ich, (und das ich mir eine Sphäre des Vernünftigen entgegensetze) Ich als Individuum. 

Wir müssen hier das Bestimmbare und Bestimmte gegen einander halten; entgegengesetzt sind sie sich darin: das Bestimmte bin ich, das Bestimmbare bin ich nicht, ist Nichtich, gleich sind sie darin, dass sie beide gleich geistig sind (lediglich denkbarNoumene).
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 149 



Nota. - Vernunft ist vorausgesetzt durch die Begegnung mit vernünftigen Wesen, aber bestimmt ist sie nicht, nicht schon - jedenfalls nicht für mich - durch diese, sie ist vielmehr (für mich) bestimmbar durch mich, so wie jene. (Das Ich ist nur dazu da, die Vernünftigkeit zu erklären.)

Was immer er früher, zugleich oder später gesagt haben mag: Mit diesem Begriff von Vernunft war seine dogmatische Wendung nicht möglich. Er musste ihn wohl inzwischen aufgegeben haben.
JE






Genealogie der Vernunft.

Martina Herbst, pixelio.de
Die WL handelt nicht davon, wie ein Individuum zu seinem Bewusstsein kommt, sondern davon, wie Vernunft "zur Welt kommt" - wenn sie 'zur Welt' kommt. [wie das Ich 'sich setzt', indem es 'seine' Welt konstruiert - und mit 'unserer' Welt ins Benehmen setzt.] 

aus e. Sudelbuch, 2. 8. 04 

Die WL handelt vom Denken der empirischen Individuen [nur], insofern sie vernünftig sind. Vernunft ist nicht das, was sie als Individuen identifiziert und unterscheidet, sondern das, was ihnen als logischen Subjekten gemeinsam ist; nur darum kann sie es in einem allgemeinen Schema darstellen.

Die obige Formulierung 'wie das Ich sich setzt, indem es seine Welt konstruiert - und mit unserer Welt ins Benehmen setzt', ist falsch - weil sich in 'seiner Welt' kein Ich 'setzt', sondern lediglich ein empirisches Selbst vorfindet - denn davon, dass es seine Welt konstruiert hat, weiß es noch nichts. Das erfährt es erst in dem Moment, wo es reflektiert - und ipso facto in 'unsere' Welt übertritt.

Ich kann mich nun einfacher ausdrücken: 'Unsere' Welt ist das Reich, wo Vernunft an ihrem Platz ist. Zu 'meiner' Welt kommt die Vernunft nicht. 

Wissenschaftslehre ist die Genealogie der Vernunft; darum ist sie die pragmatische Geschichte des Geistes und nicht bloß eine Nacherzählung.

JE











Der Gegenstand der Wissenschaftslehre und ihre zwei Gänge.

Idrac, Merkur

Der unmittelbare Gegenstand der Wissenschaftslehre ist das gemeine Bewusstsein. Sie hat ihn nicht gewählt, er ist ihr als solcher gegeben.

Er ist gegeben als ein System von Begriffen. Als ein solches ist es Vernunft. Es ist eine Welt von Vorstellungen, die durch ihre Fassung in Begriffe mitteilbar ist, und allen Teilnehmern des Verunftverkehrs ist anzumuten, sie mit allen andern zu teilen. Die Teilnahme am Vernunftverkehr macht die Vernünftigkeit der Individuen aus; was anders als das Teilen von Vorstellungen könnte sinnvoller Weise Vernunft genannt werden? Dass sie es können, wissen wir, weil sie es tun.

Das ist die Gegebenheit.

Um zu verstehen, was sie ist, muss verstanden werden, woher sie kam – wie sie sich woraus entwickelt hat. Es gilt, die Entwicklung der Vorstellungen nach-zu-vollziehen, die von der Gemeinschaft der vernünftigen Wesen zu einem Begriffssystem gefasst wurden.

Nicht werden – etwa durch eidetische Reduktion – am Grunde der Begriffe die 'Wesen' geschaut, die in ihnen gefasst wurden. Vorstellungen sind nicht an-sich da. Sie können nur das Produkt einer Tätigkeit sein – des Vorstellens: einer stellt vor. Die Rekonstruktion ist eine genetische Konstruktion von einem ersten Akt aus – dem ersten Vorstellen.

Ich stelle vor.

Darin ist ein Etwas enthalten, das vorgestellt wird, und ein Jemand, der vorstellt. Woher das Etwas, woher der Jemand? Sie können dem ersten Akt nicht vorausgesetzt werden, denn dann  wäre er kein erster Akt. Etwas und Jemand müssen aus und in diesem Akt selbst entstehen.

'Das Ich setzt sich, indem es sich ein/em Nichtich entgegensetzt.'

Wo findet der Akt statt?

Diesen Ort wollen wir Einbildungskraft nennen; ein ursprünglich produktives Vermögen, das angenommen werden muss, wenn erklärt werden soll, was zu erklären ist – das Bewusstsein.

Woher stammt die?


Woher dieser?


Bis hierher führt der analytische Vor-Gang der Wissenschaftslehre. Weiter muss sie nicht führen. Es ist das wirkliche Bewusstsein wirklicher Menschen, das erklärt werden soll. Wo das alles sich abspielt, gehört zu den Gegebenheiten. Es ist ein animal. Wie aus den organischen Trieben eines Angehörigen der Familie Homo ein freies Wollen werden konnte, muss nicht mehr die Wissenschaftslehre erklären. Es wäre Sache der – so oder so zu bestimmenden – Anthropologie. Der Wissenschaftslehre reicht es zu zeigen, dass es geschehen sein muss,und wo.

An der Stelle beginnt nun der synthetische Gang der Wissenschaftslehre.

Wollen und Vorstellen bilden eine Art Doppelhelix. Eins kann nicht ohne das andre. Der Kern der neuerenDialektik ist dies. Das Wollen ist in diesem Wechselspiel das gewissermaßen Reale, das Vorstellen ist sein idealesGegenstück. Was das eine wirklich tut, 'stellt' das andere 'sich vor': Schaut es an. Im Anschauen erblickt es nicht nur das Getane, Produkt, sondern im Anschauen des Tuns erblickt es zugleich den Tuenden, Tätigen; "Ich".

*

Diese beiden Gänge reproduziert die Wissenschaftslehre auf Schritt und Tritt in ihrem reell-ideellen Fortgang: Das hat das Ich getan. - Was hat es getan, indem es...? - Das konnte es nur, wenn und sofern... 










Allgemeingültiges gegenseitiges Anerkennen nur im Handeln.

brive-tourisme  


Erst demzufolge, dass ich ihn gesetzt als ein mich als vernünftiges Wesen Behandelndes, setze ich ihn überhaupt als ein vernünftiges Wesen. Von mir und meiner Behandlung geht mein ganzes Urteil über ihn aus, wie es in einem Systeme, das das Ich zur Grundlage hat, nicht anders sein konnte. Aus dieser bestimmten Äußerung seiner Vernunft, und aus dieser allein schließe ich erst auf seine Vernünftigkeit überhaupt. 

Aber das Individuum C kann nicht auf die beschriebene Weise auf mich gehandelt haben, ohne wenigstens problematisch mich anerkannt zu haben; und ich kann es nicht als so handelnd setzen, ohne dies (dass es mich wenigstens problematisch anerkenne) zu setzen. 

Alles Problematische wird kategorisch, wenn die Bedingung hinzukömmt. Es ist teils überhaupt kategorisch, alsSatz; eine Bemerkung, die wichtig, aber dennoch oft übersehen wird; die Verbindung zwischen zwei Sätzen wird kategorisch behauptet; ist die Bedingung gegeben, so ist notwendig, das Bedingte anzunehmen. Die Bedingung war, dass ich den Anderen (für ihn und mich gültig) anerkennte, d. i. dass ich ihn als solches behandelte - denn nur Handeln ist ein solches allgemeingültiges Anerkennen.
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Grundlage des Naturrechts..., SW III, S. 46f.

Nota. Ich setze voraus, dass er voraussetzt, dass ich voraussetze... Es ist offenbar nicht an eine lineare Folge in der Zeit gedacht, die vor lauter Problematizität nie zu einem Anfang findet; sondern um ein prozessierendes Ge- schehen; nämlich an den Markt, auf den jeder unter der Voraussetzung tritt, dass alle anderen ihn, so wie er sie, usw. ...
JE






Wie die Vernunft historisch wurde.


Die WL erzählt die pragmatische Geschichte davon, wie die Vernunft in die Welt gekommen ist.

Was ist die Vernunft? Die intelligible Welt  –  Vernünftigkeit ist die Teilhabe daran. 

Nur als intelligible ist uns eine Welt 'gegeben': als Datum unserer Vorstellungen. – Die Daten, die unsere Sinneszellen als Gefühl vermelden, werden in der Anschauung zum Bild. Die Anleitung, wie dieses Bild in der Vorstellung ohne Beihilfe der Sinnlichkeit wiederherzustellen ist, ist der Begriff. Im Begriff werden die sinnli- chen Dinge intelligibel. Nichtsinnliche Begriffe sind Noumena, sie sind intelligibel apriori = Weil sie nur intel- ligibel sind, sind sie apriori. Nehme ich die intelligible Welt als gegeben und nicht als gemacht - das tut der Dogmatiker -, ist alles apriori.  

Die WL betrachtet die wirkliche Vorstellungstätigkeit der Menschen unter der Fragestellung, wie daraus eineWelt entstehen konnte, in der die Intelligenzen miteinander verkehren können: wie ein System von Begriffen möglich ist. Sie führt die vorstellende Tätigkeit auf ihren Ausgangspunkt ('Tathandlung') zurück, um von dort aus "vor unseren Augen" die intelligible Welt zu rekonstruieren. Sie ist die Vorgeschichte der Vernunft.


Das ist der transzendentale Teil der Wissenschaft = Philosophie.

Die reale Geschichte der Vernunft beginnt mit der intelligiblen Welt selbst: in dem Moment, wo historische Individuen zu Vernunftwesen werden. Dies geschieht erst in dem Akt ihrer Begegnung und ihrer wechselseitigen Anerkennung als Freie. Da sie es taten, muss man ihnen das Vermögen zusprechen, dass sie es konnten.

Die Versammlung einer 'Reihe vernünftiger Wesen', die Bildung einer intelligiblen Welt und die Entstehung der Vernunft sind dasselbe.






In flagranti.

Bosch

Das Handeln des freien Wesens außer mir, auf welches so geschlossen ist, verhält sich zu dem mir angemuteten Handeln, wie der angefangene Weg zu der Fortsetzung desselben. Es ist mit gegeben eine Reihe der Glieder, durch welche der Zweck bedingt ist, eine Reihe, die ich vollenden soll. Zuförderst ist sonach alles Handeln freier Wesen ein Hindurchgehen durch unendlich viele Mittelglieder, die bloß durch die Einbildungskraft gefasst werden, wie bei der Bewegung durch unendlich viele Punkte. Es fordert mich jemand auf heißt: Ich soll an eine gegebene Reihe des Handelns etwas anschließen; er fängt an und geht bis auf einen gewissen Punkt, von da soll ich anfangen.

Nun liegt hier ein unendlich Mannigfaltiges der Handlungsmöglichkeiten, welche bloß durch Einbildungskraft zusammengefasst werden. Denn das Handeln mehrerer Vernunftwesen ist eine einzige durch Freiheit bestimmte Kette. Die ganze Vernunft hat nur ein einziges Handeln; ein Individuum fängt an, ein anderes greift ein und s. f., und so wird der ganze Vernunftzweck durch unendlich viele bearbeitet und ist das Resultat von der Einwirkung aller. Es ist dieses keine Kette physischer Notwendigkeiten, weil von Vernunftwesen die Rede ist. Die Kette geht immer in Sprüngen, das Folgende ist immer durchs Vorher-/gehende bedingt, aber dadurch nicht bestimmt und wirklich gemacht. (vide Sittenlehre.) Die Freiheit besteht darin, dass aus allen möglichen nur ein Teil an die Kette angeschlossen werde.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 232f.


Nota. -  Das ist ja nun ein fauler Trick. Erinnern wir uns, dass noch an keiner Stelle des Vortrags bis jetzt deduziert wurde, 'was Vernunft ist' - außer der nominellen Bestimmung, sie sei 'das Handeln freier Wesen', mit allenfalls der Umkehrung: Wo freie Wesen unfrei - anders als aus selbstgesetztem Zweckbegriff - handeln, da handeln sie unvernünftig. Wir wissen außerdem, dass reelle Vernünftigkeit 'zustande kommt' durch gegenseitige Aufforderung. Eine über diese formalen Bestimmungen hinausgehende inhaltliche Füllung des Begriffs haben wir noch nicht. 

Nichts berechtigt insbesondere dazu, den Anteil der "unendlichen Mannigfaltigkeit der Handlungsmöglichkeiten", der bis dato schon realisiert wurde, als einen Zweck zu identifizieren; einstweilen handelt es sich erst um eine endliche Mannigfaltigkeit von Handlungen. Machen wir's kurz: Dass Vernunft ihrem Gehalt nach durch einen Zweck und durch einen Zweck bestimmt wäre, hat er schlichtweg unterschoben. Denn wenn der Vernunft ein solcher vorgegeben wäre, wäre sie nicht frei und wäre keine Vernunft.

Wir finden im Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierungder an dieser Stelle der WL nova methodo längst vorlag, die merkwürdige Extrapolation eines vernünftigen Endzustandes, der nachträglich der endlichen Mannigfaltigkeit reell gewählter Handlungsmöglichkeiten als deren gemeinsamer Bestimmungsgrund zugerechnet wird. Das wäre aber die Absurdität einer vollendeten Unendlichkeit. Aus allem bisher Vorgetragenen lässt sich 'herleiten' lediglich eine aktuale Vernünftigkeit der 'Reihe vernünftiger Wesen', die immer nur in ihrem jeweiligen Handeln 'da ist' und ihren Zweck in jedem gegebenen Augenblick in sich selber hat; weshalb ein Ende sie zu- nichte machen würde: Durch den ihnen gemeinsamen Einen Zweck wäre die 'Reihe vernünftiger Wesen' zu einem Subjekt und wäre ihre mannigfaltige Vernünftigkeit zu einer Vernunft geworden; nur hätten sie ipso facto aufgehört, vernünftig zu sein. Es wäre eine Reductio ad absurdum.




Doch ein Vernunftdogmatiker?

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...der Geist ist einer, und was durch das Wesen der Vernunft gesetzt ist, ist in allen vernünftigen Individuen dasselbe.
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Über Geist und Buchstab in der Philosophie
[1794], SW VIII , S. 292


Nota I. - Die dogmatische Wendung in der Bestimmung des Menschen ist Fichte nicht von Jacobi eingeflüstert wor- den. Sie war vorbereitet in seiner von Anbeginn schwankenden Haltung zur Idee der Vernunft: Ist sie etwas erst noch zu Entwerfendes, oder ist sie ein fertiges Programm, das es allenfalls noch 'durchzuführen' gilt? Jacobis Eingreifen hat ihn lediglich genötigt, seinem Schwanken ein Ende zu setzen.
23. 5. 14

Nota II. - Zuvor hatte es geheißen, Geist sei lediglich schaffende Einbildungskraft, eine "ursprüngliche prädika- tive Qualität". Dann hieß es auch, die intelligible Welt - das ist alles, was im Geist vorkommt, und dazu gehört das Ich - sei Noumenon. Und dann noch: das Intelligible entstehe überhaupt erst aus dem Versuch des Begreifens. Nehme ich den Geist als Noumenon, darf ich wohl noch sagen, er sei einer. Doch dann darf ich noch nicht von dem reden, was in ihm gesetzt sei, denn das stünde noch aus, und ipso facto hörte der Geist auf, einer zu sein, und würde zu einer Mannigfaltigkeit von Intelligenzen. 

Zu Grunde liegt ihnen eine unbestimmte ursprüngliche prädikative Qualität, aus der heraus ein Ich sich (durch Ent- gegensetzen) bildet - im Versuch des Begreifens. Woher da Einheit kommen könnte, bleibt im Dunkel.

*

Ich räume ein: Die Rede vom Wesen der Vernunft ist irreführend - nämlich als ob es ein solches geben könnte vor und unabhängig von der Tätigkeit der Vernunft; ihr Wesen sei eins, doch sobald sie tätig wird, unterschieden sich ihre Werke als mannigfaltige. 

Kurz zuvor (aaO, S. 288) hatte Fichte gesagt, wir müssten mit der Erfahrung unser Leben anfangen - bevor wir durch den ästhetischen Sinn zur Betrachtung um ihrer selbst willen verführt werden -, und als Bedingungen aller Erfahrung zählt Kant seine zwölf Kategorien und zwei Anschauungsformen auf. Es handelt sich da um die empi- rischen Grundlagen der Vernünftigkeit, und die sind für alle endlichen Intelligenzen dieselben. Doch dass sie "durch das Wesen der Vernunft gesetzt" seien, wäre eine sehr schiefe Formulierung. Doch hier steht er noch am Anfang seiner Lehrtätigkeit.
JE
 



Fichte als Mystiker und Romantiker.

 
Die produktive Einbildungskraft erneuert nicht: Sie ist, wenigstens für das empirische Bewusstsein, völlige Schöpferin, und Schöpferin aus dem Nichts. ...

Die produktive Einbildungskraft, sage ich, schafft den Stoff der Vorstellung, sie ist die ein[z]ige Bildnerin des- sen, was in unserm empirischen Bewusstsein vorkommt, die ist Schöpferin dieses Bewusstseins. Aber die Ein- bildungskraft, auch in dieser ihrer / produktiven Macht, ist doch kein Ding an sich, sondern ein Vermögen des einzigen uns unmittelbar gegebnen Dinges an sich, des Ich. Also muss selbst ihre Schöpfermacht einen höhern Grund im Ich haben; d. h. auf eine andere und für unsere Untersuchuung bequemere Art ausgedrückt, mag doch die produktive Einbildungskraft für das Bewusstsein Schöpferin sein, so kann sie für das Ich überhaupt nur Bildnerin sein, und das, woraus sie bildet, muss im Ich liegen. 


Und so ist es denn auch wirklich.

Im Gefühl liegt, was die Einbildungskraft bildet und dem Bewusstsein vorhält. Das Gefühl, welches ich hier nicht weiter erklären kann noch soll, ist der Stoff alles Vorgestellten, und der Geist überhaupt oder die pro- duktive Einbildungskraft lässt sich also beschreiben als Vermögen, Gefühle zum Bewusstsein zu erheben. ...

Aber unter den Gefühlen selbst ist ein großer Unterschied; einige beziehen sich auf doß animalische Leben des Menschen. Diese liegen nicht so tief und werden am leichtesten, gewissesten und notwendigsten - zwar nicht als Gefühle, davon ist hier nicht die Rede - aber als Vorstellungen zum Bewusstswein erhoben. Diesen auf die bloße Vorstellunjg einer sinnlichen, unter Naturgesetzen stehenden Welt der Erscheinungen sich beziehenden Gefühlen liegen wieder andere Gefühle zum Grunde, die sich nicht auf das bloß animalische Lebend des Men- schen, sondern auf ein vernünftiges und geistiges, nicht auf die bloße Ordnung der Erscheinungen unter Natur- gesetzen, sondern die Unterordnung derselben und aller vernünftigen Geister unter die Gesetze des sittlichen Ordnung, der geistigen Harmonie, der Vereinigung aller zu einem Reiche der Wahrheit und der Tugend bezie- hen.  

Diese liegen, daß ich mich so ausdrücke, um eine Region tiefer in unserm Geiste, sie liegen in einem geheimen Heiligtume; man muss erst durch die Welt der Erscheinungen hindurch, muss der Sinnlickeit erst absterben, um zu diesem höhern geistigen Leben zu gelangen. Bezeichnen und umfassen die Gefühle von der ersteren Art das Gebiet der Begriffe, so begründen die der letztern Art das Feld der Ideen und der Ideale. ...

Folgendes sind die allgemeinsten Formen der Ideen, in deren Vorstellung sich der Geist zeigt. Über die notwen- digen Formen der Körper im Raume erhebt sich der Geist zur freien Begrenzung des Urschönen, dem nichts in dieser Sinnenwelt gleicht, über den Wechsel der Empfindungen in der Zeit zur freien Begrenzung des Ergöt- zenden, wo Empfindungen Empfindungen drängen, ohne dass sie verändert scheinen; über die Begrenzung al- les Empfundenen in Zeit und Raum schwingt er über Zeit und Raum sich weg zum Anstaunen des Urerhabenen, über den Wechsel seiner Über- zeugungen zum Gefühl einer ewigen Wahrheit, über allen Einfluss des Sinnlichen hinweg zur erhabenen Idee, der völlig dargestellten sittlichen Vollkommenheit, oder der Gottheit. 
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Von den Pflichten des Gelehrten, Hamburg 1971, S. 58f.; 60; 61


Nota. - So bin ich nun also endlich auf Grund gestoßen! Und zwar gleich in dreierlei Hinsicht. Zuerst einmal, was das intellektuelle Gefühl angeht. Er hat es keineswegs erst später aus dem Hut gezogen, um den 'Denk- zwang' als Gefühl der sinnlichen Erfahrung gleichrangig zur Seite stellen zu können; sondern es lag seiner Philosophie von Anbeginn zu Grunde.

Zweitens, und das ist von Allem das Wesentliche, er erklärt die Vernunft keineswegs, wie es in seinen akademi- schen Vorträgen den Anschein hat, aus dem vorwärtsgerichteten - ad quem - Trieb zum Bestimmen, sondern - a quo - als Strom aus einem Quell. Er mag immer sagen: Der Geist nimmt die Regel von innen aus sich selbst; er bedarf kei- nes Gesetzes, sondern er ist sich selbst ein Gesetz ebd. S. 64 - der Satz ist vorab kassiert durch die Prämisse Alle Vernunft- gesetze sind im Wesen unseres Geistes begründet. ebd. S. 22 

Und drittens schließlich bestimmt er als wahrer Romantiker das Wesen der Vernunft zwar nicht aus ihrem Fluchtpunkt, wohl aber aus ihrer Herkunft als ästhetisch. Da treten das Urschöne auf, das Ergötzende, das An- staunen des Erhabenen, und noch die ewige Wahrheit ist erhaben in ihrer Vollkommenheit.

*

Die Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten hat Fichte teils vor, teils am Anfang seiner akademi- schen Vorträge für die Öffentlichkeit gehalten. Die ersten fünf erschienen noch 1794 als Broschüre; den Schlussteil hat er später unter dem Titel Über Geist und Buchstab in der Philosophie für Schillers Horen umgearbeitet, wo sie allerdings nicht erschienen. Die oben zitierten Passagen sind zu Fichtes Lebzeiten nicht gedruckt worden.

In den Vorträgen werden die Grundideen der Wissenschaftslehre umrissen, aber nicht entwickelt. Es sind po- puläre und keine wissenschaftlichen Texte. Und vor allem trägt F. die Wissenschaftslehre vor, bevor er sie noch für sich selbst ausgearbeitet hat - streckenweise auf bloßen Verdacht und Vorahnung. 

Umso ungezwungener ist er in der Darstellung seines Ausgangspunkts. Und da gibt er sich als mystischer Schwärmer zu erkennen. Nicht, dass er schließlich vor Jacobi eingeknickt ist, bedarf einer Erklärung, sondern wie er es zuvor in der Transzendentalphilosophie so weit hat bringen können. Er war eben wie die andern Jenaer Romantiker auch ein ungestümer Freigeist. Das lässt ihn bis heute überdauern.
JE



Quintessenz

Die WL erklärt nicht, wie das Bewusstsein entsteht, sondern entwirft einen Kanon der Vernünftigkeit.




Die Wissenschaftslehre beschreibt nicht, wie ein Mensch tatsächlich zu Bewusstsein kommt, sondern postuliert, welche Weise des bewusst-Seins als vernünftig gelten soll. Die Vorstellungswelt des Wahnsinnigen ist, welche Beiwörter man ihm sonst wohl anheften mag, auch ein Bewusstsein. Die Wissenschaftslehre entwirft nun ein Schema, und wenn einer so handelt, dass es im Sinne dieses Schemas gedeutet werden kann, soll es vernünftig heißen. 

Diese Postulat ist jedoch nicht aus freier Laune erwachsen. Es ist gewissermaßen 'aufgefunden'. Denn die Untersuchung nahm ihren Ausgang an einem, das wirklich ist: 'Es gibt' in der bürgerlichen Gesellschaft ein Normalbewusstsein, das sich selbst als vernünftig auffasst. Dieses wird analytisch (phänomenologisch) auf seine Voraussetzungen geprüft. Die aufgefundene Erste Voraussetzung, ohne die alles Weitere grundlos wäre, ist das Ich, das 'sich setzt, indem es sich ein(em) Nichtich entgegensetzt'.

Ob dieser Gründungsakt wissentlich geschah oder nicht, spielt keine Rolle, denn 'mit Bewusstsein' konnte er doch wohl nicht geschehen, da er dem Bewusstsein ja zu Grunde liegen soll – sofern es vernünftig wurde

In der Philosophie kommen Fakten nicht vor, sagt Fichte. Das Schema stellt, was geschehen soll, nicht als historischen Vorgang, sondern als System dar: Doch im System ist die Zeit untergegangen. Das System kann man nur zeitlos, ideal, 'logisch' darstellen. Das System ist 'auf einmal und mit einem Schlag' da.

"Aber das, was nicht im Gebiete der Erfahrung liegt, hat keine Wirklichkeit im eigentlichen Sinn, es darf nicht in Raum und Zeit betrachtet werden, es muss betrachtet werden als etwas notwendig Denkbares, als etwas Ideales."*



Seine Rekonstruktion kann nicht historisch geschehen, sondern nur genetisch. Auch nicht logisch im Sinne von diskursiv: Da müsste auch ein Schritt auf den anderen folgen, und die Schritte sind im diskursiven Verfahren als Begriffe vorgegeben – deren Entstehen soll aber erst erklärt werden. Auf Begriffe muss also noch verzichtet werden, man muss dem Vorstellen selbst zuschauen. Aber eben nicht im (historischen) Individuum, sondern im zeitlosen Modell.

Wann und wo sollte es in der Geschichte denn passiert sein, dass ein 'Ich sich selbst setzt, indem es sich ein(em) Nichtich entgegensetzt'? In der Geschichte nie, aber heute jederzeit immer und immer wieder. Es ist ein Erklärungsgrund und kein reell (nach Raum und Zeit) identifizierbares Ereignis. Wenn es aber nicht alswirklich stattgefunden vorausgesetzt würde, ließe sich das Wissen (Vorstellung, Bewusstsein, Denken, Begriff...) nicht erklären. Alles, was historisch (empirisch) geschehen ist, muss im zeitlosen System irgendwo wieder vorkommen, wenigstens als Funktion – freilich nicht am selben Ortund nicht unterm selben Namen. Und umgekehrt: Phantasiegebilde, denen in Raum und Zeit gar nichts entspricht, gehören nicht in die Transzendentalphilosophie.

*

Indem sie also einen Kanon der Vernünftigkeit aufstellt, definiert sie zugleich die Welt als das Feld ihrer Geltung: Sie ist keine begrenzte Gegend, sondern ein Horizont, der so weit reicht, wie die mögliche Wirksamkeit vernünftiger Wesen. Das ist nicht 'überall, wo Menschen sind'. Denn da, wo Vernünftigkeit nicht hin reicht, ist nicht mehr Welt, jedenfalls nicht unsere Welt, in der wir als Vernünftige zusammen wirken; sondern immer nur je 'meine' Welt, wo Menschen wohl auch sind, aber wo die Vernunft nichts mehr zu sagen hat.

*) WL nova methodo, S. 23

**) Orte gibt es im System so wenig wie die Zeit. Sie erscheinen erst in der diskursiven Darstellung, die die Vorstellungen nach einander ordnet, weil sie sie durch einander nicht veranschaulichen kann.



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