Freitag, 31. Mai 2019

Synthetisch einbilden, analytisch urteilen.

putz

Wo gehe ich an, und wo mein Machen? Ich finde mich nur als das Bestimmte. Dieses setzt ein Bestimmbares voraus, das uns die Einbildungskraft liefert. Mein Machen setzt immer diese und ihr Produkt vorheraus, und daher kommts, dass uns immer etwas als gegeben erscheint; daher eine Objektivität der Welt.

So erscheint uns die Einbildungskraft notwendig als ein Gegebenes. Das Objekt der Einbildungskraft ist teilbar ins Unendliche. Diese Teilbarkeit ruht nicht als immanente Eigenschaft in dem Bestimmbaren als an sich, denn dieses ist meine Einbildungskraft selbst, welche bloß zusammenfasst. Es heißt also bloß: Das durch die Einbil- dungskraft Gelieferte wird wird hinterher geteilt durch die Urteilskraft; jedenfalls wird sie [=die Teilung] gesetzt als vorzunehmend. 

Eigentlich ist also eine Wechselwirkung zwischen Einbildungskraft und Urteilskraft. Beide sind nur durch ein- ander zu beschreiben. Man könnte daher sage: Die Einbildungskraft ist Vermögen absoluter Ganzen [sic], die Urteilskraft das Vermögen des Einfachen, beides steht in Wechselwirkung. Kein Einfaches ohne Ganze[s], kein Ganzes ohne unendliches Einfache. Man erinnert sich an den alten Sorites. Wenn man sagt, die Einbildungskraft fasst zusammen etwas unendlich Teilbares, so heißt das: teilbar für die Urteilskraft. Es heißt also: Für denselben Geist ist dasselbe ein Ganzes, Eins, was für denselben Geist auch bloße Sammlung des Teilbaren ins Unendli- che ist.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 203 


Nota. - Das erste Ursprüngliche ist das Gefühl, und weil es fließend ist, liefert es mir nur Mannigfaltiges. Es aus dem Fluss als eins und dasselbe - nicht nur Eines, sondern ein Ganzes - herauszuheben ist eine Leistung meiner Einbildungskraft. Das Ganze ist gewissermaßen das mit-sich-selbst Einige, das Eine ist aber das von allen andern Unterschiedene. Beides ist real, nämlich im ersten Vorstellen=Anschauen, dasselbe, erst in der Reflexion, für die ideale Tätigkeit, treten sie auseinander. Real ist es dieselbe Tätigkeit, doch ideal zerfällt sie in Synthese und Analy- se.
JE


Donnerstag, 30. Mai 2019

Die Stelle, wo die Wissenschaftslehre in die Sinnenwelt übertritt.

 
Die WL erzählt die pragmatische Geschichte davon, wie die Vernunft in die Welt gekommen ist.

Was ist die Vernunft? Die intelligible Welt - Vernünftigkeit ist die Teilhabe daran. 

Nur als intelligible ist uns eine Welt 'gegeben': als Datum unserer Vorstellungen. – Die Daten, die unsere Sinneszellen als Gefühl vermelden, werden in der Anschauung zum Bild. Die Anleitung, wie dieses Bild in der Vorstellung ohne Beihilfe der Sinnlichkeit wiederherzustellen ist, ist der Begriff. Im Begriff werden die sinnli- chen Dinge intelligibel. Nichtsinnliche Begriffe sind Noumena, sie sind intelligibel apriori = Weil sie nur intel- ligibel sind, sind sie apriori. Nehme ich die intelligible Welt als gegeben und nicht als gemacht - das tut der Dogmatiker -, ist alles apriori.  

Die WL betrachtet die wirkliche Vorstellungstätigkeit der Menschen unter der Fragestellung, wie daraus eine Welt entstehen konnte, in der die Intelligenzen miteinander verkehren können: wie ein System von Begriffen möglich ist. Sie führt die vorstellende Tätigkeit auf ihren Ausgangspunkt ('Tathandlung') zurück, um von dort aus "vor unseren Augen" die intelligible Welt zu rekonstruieren. Sie ist die Vorgeschichte der Vernunft.

Das ist der transzendentale Teil der Wissenschaft = Philosophie.

Die reale Geschichte der Vernunft beginnt mit der intelligiblen Welt selbst: in dem Moment, wo historische Individuen zu Vernunftwesen werden. Dies geschieht erst in dem Akt ihrer Begegnung und ihrer wechselseitigen Anerkennung als Freie. Da sie es taten, muss man ihnen das Vermögen zusprechen, dass sie es konnten.

Die Versammlung einer 'Reihe vernünftiger Wesen', die Bildung einer intelligiblen Welt und die Entstehung der Vernunft sind dasselbe.

24. 7. 15 


Dass die Vernunft historisch wurde, bedeutet nichts anderes, als dass sie real wurde. Dass die Reihe vernünftiger Wesen real wurde, bedeutet nichts anderes, als dass sie historisch geworden sind. 

Die Stelle, an der in der Wissenschaftslehre an das bis dahin lediglich vorstellend 'real-tätige' Ich seitens der Reihe vernünftiger Wesen die pp. Aufforderung ergeht, gleich ihnen reale Zwecke zu setzen, ist der Punkt, wo in das Sys- tem die Sinnenwelt hineinkommt.

Man möchte sagen, bis dahin hätten sich die Fortschritte des bestimmenden Vermögens lediglich im intelligiblen Reich zugetragen; aber das wäre schief, denn eine solche Unterscheidung war bislang noch gar nicht zu treffen. Das Gefühl, das dem soeben sich setzenden Ich die Gegenständlichkeit des NichtIch verbürgt, wird in der An- schauung - der ursprünglichsten Reflexion und ergo idealen Tätigkeit - bestimmt als der auf eine primäre reale Tä- tigkeit des Ich erfolgende Widerstand. Doch erst noch ist von Tätigkeit-überhaupt die Rede, unbestimmter Tätig- keit, die als unbestimmte unmöglich sinnlich sein kann - doch darum noch lange nicht als intelligibel bestimmt ist.

Man kann es gar nicht dick genug unterstreichen: Mit der Aufforderung durch die Reihe vernünftiger Wesen tritt die Wissenschaftslehre über in die historisch gegebene Welt von Raum und Zeit.
JE



Mittwoch, 29. Mai 2019

Die individuelle Vernunft lässt sich aus sich selbst nicht erklären.


Dies ist eine Erkenntnis, wie wir sie suchten, in welcher das Wollen gleich drinnen läge; mit ihrer Erkenntnis ist ein Wille begleitet. Sinnlich betrachtet ist es so: Entweder ich handle nach dem Willen oder nicht; habe ich die Aufforderung verstanden, so entschließe ich mich doch durch Selbstbestimmung, nicht zu handeln, der Auffor- derung zu widerstreben, und handele durch Nichthandeln.

Freilich muss die Aufforderung verstanden sein, dann muss man aber handeln, auch wenn man ihr nicht gehor- chet; in jedem Falle äußere ich meine Freiheit. So müssten wirs uns jetzt denken. Aber kann man höher fragen: Welches ist der transzendentale Grund für diese Behauptung? Der Zweck wird uns mit der Aufforderung gege- ben, also: Die individuelle Vernunft lässt sich aus sich selbst nicht erklären - ist das wichtigste Resultat, es be- steht nur im Ganzen durchs Ganze und als Teil des Ganzen; denn wie soll sonst Kenntnis eines Vernunftwe- sens außer ihm zu erklären sein, wenn in ihm kein Mangel ist? 

Dies ist so dargetan worden: Wir haben uns Mühe gegeben, den Zweckbegriff zu erklären, da kamen wir in einen Zirkel. Nun aber ist sie beantwortet, denn im Fortlaufe der Vernunft ists damit nicht schwer, es ist nur darum zu tun, den ersten Zweckbegriff dar-/zulegen: Den ersten bekommen wir, doch wird uns der Zweck nicht als Be- stimmtes, sondern überhaupt der From nach gegeben, etwas, woraus wir wählen können (vide in der Rechtslehre Folgerungen daraus). Kein Idividuum kann sich aus sich selbst erklären. Wenn man also auf ein erstes Individu- um kommt, worauf man kommen muss, so muss man auch ein noch höheres unbegreifliches Wesen annehmen.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 175f.
   


 
Nota I. - Das ist nunmal ein dicker Hund. Lange schwankt er, ob die Vernunft gedachte Summe wirklicher Vernünftigkeit sein soll, oder vielmehr wirkliche Vernünftigkeit nur die Individuation eines unbegreiflichen vorgegebenen Ganzen. An dieser Stelle nun sieht er der Frage direkt ins Auge - und entscheidet sich für die dogmatische Antwort.

Wobei ihm den Obersatz niemand abstreiten kann: Vernunft 'gibt es' nur als die Gesamtheit vernünftiger Wesen. Ein isoliert lebendes Individuum muss nicht nur nicht, sondern kann auch gar nicht vernünftig sein, denn Ver- nünftigkeit ist kein Verhältnis, das er zu sich selbst, sondern eines, das er zu Anderen hat. Seine Vernünftigkeit be- steht aber in nichts als der Suche nach den Zwecken, über die er mit Anderen übereinstimmt; Fortschreiten im gemeinsamen Bestimmen des Bestimmbaren. 

Dann mag man immer das Terrain des gemeinsam Bestimmten als (seiende) 'Vernunft' bezeichnen; es bleibt aber das vorläufige Resultat eines aktualen Bestimmens, das anders als unendlich gar nicht vorgestellt werden kann.
 

10. 2. 17 


Nota II. - Ein 'höheres unbegreifliches Wesen' als erstes Individuum muss er annehmen, weil er einen Gründungsakt annehmen muss, und den kann er sich nicht als Abstraktion von einem systemischen historischen Geschehen vorstellen, weil ihm erstens systemisches Denken noch fremd ist, aber vor allem, weil er zweitens alles Histori- sche aus dem Gang der Wissenschaftslehre ausgeschieden wissen will. Ersatzweise schiebt er einen Schöpfergott ex machina ein, den er anderswo nicht her deduzieren, auf den er an dieser Stelle aber nicht verzichten kann.

Rationell ist die Aufforderung zum eigenen Zwecksetzen, die an das zur Vernunft bestimmte individuelle Ich aus der Reihe vernünftiger Wesen ergeht, nichts anderes als die historische Gegebenheit der bürgerlichen Gesell- schaft zu verstehen, in die ein Mensch hineingeboren wird. Aus der eigenen Vorstellungsabeit des einzelnen Ich, die er reale Tätigkeit nennt, konnte ihm die wirkliche Zwecksetzung (gedacht als eine Auswahl aus der Mannigfal- tigkeit aller möglichen Zwecke) nicht eingefallen sein; wenn sie aber doch in reale Tätigkeit eingehen soll, muss sie ihre Realität von Hause aus mitbringen. Sie muss realiter stattfinden, und das heißt: historisch.

Dass die historische Generatio aequivoca der bürgerlichen Gesellschaft nicht genetisch darlegen konnte, wird man Fichte kaum zum Vorwurf machen wollen.
JE



Dienstag, 28. Mai 2019

Das Aufmerken verbindet sinnliche und intelligible Welt.

W. Busch

Diese Vorstellung vom inneren Wirken kommt im Bewusst-/sein vor als etwas zwischen Gefühl und Ge- danken Schwebendes, man könnte es nennen ein intelligibles Gefühl. Wenn die Einbildungskraft sich selbst überlassen bleibt, so schweift sie herum, und es kostet innere Anstrengung, sie zu binden. 

Dieses Aktes, des Bindens, werde ich mir unmittelbar bewusst, indem ich ihn vollziehe, und hierdurch lässt sich die intelligible Welt an die Welt der Erscheinungen anknüpfen. Was in diesem Gefühle vorkommt, ist die erste innere Kraft, man könnte sie reine Kraft, Kraft auf sich selbst nennen. Sie ist Wirkung des Vernunftwesens auf sich selbst. 
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 126f.


Nota I. - Das ist eine der wichtigsten Stellen in der ganzen Wissenschaftslehre.

Wenn man von dem metaphysischen Dogma von den zwei Substanzen, einer res extensa und einer res cogitans ausginge, wäre das ein atemberaubendes Kunststück: Wie stellt es die res extensa an,  in die res cogitans vor- zudringen? Doch in der Wissenschaftslehre, die den Gang des Bewusstseins zuerst rein phänomenal verfolgt, wurde eine solche Voraussetzung nicht gemacht. (Ihr Gegenstand ist die Vorstellung, und dortkam sie bislang nicht vor.)

Das Faktum der Konzentration unserer Aufmerksamkeit - denn davon ist hier die Rede - lässst sich nicht leug- nen, ob man es nun erklären kann oder nicht. Aufmerken ist reflektieren und abstrahieren in Einem. Der ele- mentarste Bewusstseinsakt ist: auf mein Gefühl achtgeben. Es ist die Stelle, wo ein empirisches Selbst zu einem vernünftigen Ich wird.

Nota II. -  Dass er im Moment akuter Gefahr alle Aufmerksamkeit darauf konzentriert und selbst Schmerzen unter Umständen gar nicht 'merkt', unterscheidet den Menschen nicht vom Tier: Dem geht's nicht anders; sondern dass er sein Aufmerken will kürlich richten kann. Das ist die Grundform von Wollen, und Wollen ist die Substanz von Geist. (Geist sieht nicht auf Dinge ab, sondern auf Probleme.)

Nota III. - Sagen wir genauer: Im Aufmerken entstehen sinnliche und intelligible Welt. Vor dem Aufmerken ist nichts, nämlich nichts für das Bewusstsein, denn ohne Aufmerken ist kein Bewusstsein. Im Aufmerken entste- hen gleichermaßen das und was?. Aufmerken ist fragen. Der Mensch ist nicht, wie das Tier, eins mit seiner na- türlichen Umwelt, sondern steht fragend in einer fremden Welt, die er, indem er in sie wirkt, sich fortschreitend ent fremdet und intelligibel macht. 

Das ist ein anthropologischer Befund, der den Ausgangspunkt der Wissenschaftslehre ausmacht.
JE
 

Montag, 27. Mai 2019

Die Vernunft außer mir ist nur ein Noumen; und doch soll ich sie wahrnehmen.

Duchamp

Man unterscheide sorgfältig Anschauen und reines Denken, wie oben gelehrt wurde. Ich bin ja nur Produkt meines reinen Denkens. Nun ist gesagt, ich greife mich heraus aus einer Vernunft außer mir. Nun würde es aussehen, als ob ich eine Freiheit außer mir nur dächte. Aber dies ist nicht der Fall, sondern es ist die Rede von einer Wahrnehmung der Freiheit und Vernünftigkeit außer mir, und dies muss deduziert werden.

Es ist zwar wahr, dass die Vernunft außer uns nur ein Noumen ist. Ich halte jeden für vernünftig und frei, aber niemand verlangt von mir, dass ich seine Vernünftigkeit hören und sehen solle oder durch einen äußeren Sinn wahrnehmen solle; aber wohl, dass ich aus gewissen Phänomenen dies schließen soll. Aber es muss in der Sin- nenwelt Erscheinungen geben, auf welche ganz allein wir genötigt sind, den Gedanken der Vernunft überzutra- gen, auf welche allein uns dies möglich wird. Sie müssten mit jenem reinen Denken zusammenhängen; sie zu deduzieren ist hier unsere Aufgabe.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 228 



Nota I. - Nur in der transzendentalphilosophischen Rekonstruktion erscheint es ja so, als habe das Individuum - noch bevor es zu einem solchen wurde - sich eine Ichheit zugedacht, von deren Vernünftigkeit es hernach auf die Vernünftigkeit gewisser 'Wesen außer ihm' geschlossen hat. Tatsächlich ist es aber so, dass es sich in einer 'Reihe ver- nünftiger Wesen' vorgefunden hat, von der die Aufforderung zu Ichheit und Vernunft an es ergangen war, bevor es noch 'zu sich selbst gekommen' ist.

Das war der Sinn der ganzen Rekonstruktion aus reinem Ich und Wille-überhaupt: wenn auch aufhaltsam, so doch auf geradem Weg zur Wirklichkeit der Vernunft als einer Tatsache zu führen - und auf Schritt und Tritt dar- zulegen, wie dieser Weg zwar aus seiner Prämisse folgerichtig war, aber auf Schritt und Tritt doch aus Freiheit getan wurde.
 

29. 5. 17


Nota II. - Die Aufforderung durch ein Reihe vernünftiger Wesen folgt nicht aus der bestimmenden Tätigkeit des sich-selbst-gesetzt habenden Ich. Sie kommt von außerhalb der Reihe als eine zusätzliche Bedingung hinzu. Es ist wahr, da war eine Lücke im Begründungszusammenhang. Die Aufforderung muss sie füllen - muss, weil anders das sachlich vorgebene Resultat, das tatsächliche Übergehen des Ich zum Setzen eines wirklichen Zwecks, nicht schlüssig rekonstruiert werden könnte.

Die Aufforderung soll eingreifen in das Fortschreiten der realen Tätigkeit des Ich, ins wirkliche Vorstellen, nicht als ideale, nicht als bloße Reflexion auf die Vorstellung. Realität muss sie also haben, und da sie nicht aus der realen Tätigkeit des Ich hervorgegangen ist, muss sie eine eigene Realität von außen mitgebracht haben. Mit einfachen Wor- ten: Sie muss als wirklich stattgefunden gedacht werden. 

Nur ein Noumen kann die 'Vernunft außer mir' also nicht sein, denn dann wäre sie - bloßes Reflexionsprodukt, und eine wirkliche Aufforderung wäre nicht denkbar. So streng immer Fichte aus dem Entwicklungsgang der Wis- senschaftslehre alles Historische fernhalten will - hier geht es nicht, weil es reale und ideale Tätigkeit vermengen würde.

Und tatsächlich ist die Voraussetzung eine historische. Sie verhält sich logisch zur intelligiblen Welt wie die ur- sprüngliche Akkumulation zur Ausbildung der bürgerlichen Gesellschaft.
JE

Sonntag, 26. Mai 2019

Das gesamte Bewusstsein ist aus dem reinen Wollen abgeleitet.



Reelle Wirksamkeit ist nur möglich nach einem Zweckbegriffe, und der Zweckbegriff ist nur unter der Bedin- gung einer Erkenntnis, und diese unter der Bedingung einer reellen Wirksamkeit möglich; und das Bewusstsein würde durch einen Zirkel, und sonach gar nicht erklärt. Es muss daher etwas geben, das Objekt der Erkenntnis und Wirksamkeit zugleich sei.

Alle diese Merkmale sind nur in einem allem empirischen Wollen und aller empirischen Erkenntnis vorauszu- setzenden reinen Willen vereinigt. Dieser reine Wille ist etwas bloß Intelligibles, wird aber, in wiefern es sich in einem Gefühl des Sollens äußert und zufolge dessen gedacht wird, aufgenommen in die Form des Denkens überhaupt als ein Bestimmtes im Gegensatze eines Bestimmbaren, dadurch werde ich das Subjekt dieses Wil- lens, ein Individuum, und als Bestimmbares dazu wird mir ein Reich intelligibler Wesen.

Aus diesem reinen Begriffe lässt sich ableiten und muss abgeleitet werden das gesamte Bewusstsein. _________________________________________
Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 152


Nota. - Reelle Wirksamkeit in der Sinnenwelt ist nur möglich nach einem Zweckbegriff. Den Zweckbegriff kann ich nur fassen aufgrund einer Erkenntnis; doch die Erkenntnis war erst möglich aufgrund einer reellen Wirksam- keit, denn Erfahruung ist nicht anders machbar. Die Katze beißt sich in den Schwanz.

Es muss also etwas geben - muss, denn Bewusstsein gibt es: Das war der Ausgangspunkt -, das selber Wirksam- keit, aber zugleich Gegenstand von Erkenntnis ist. Eine Wirksamkeit, die sich selbst anschaut, eine Anschauung zweiten Grades; nicht schon ein wirkliches Wollen, sondern 'erst' sein Schema. Ein Bild vom Bild eines wirkli- chen Wollens.

Daraus wäre abzuleiten 'das gesamte Bewusstsein', und das ist, nicht zu vergessen, Vernunft. Ihr Schema ist die Wissenschaftslehre.
JE 


Samstag, 25. Mai 2019

Wissenschaftslehre ist keine Entwicklungspsychologie.



Die Wissenschaftslehre soll nicht sein, wie Hegels Phänomenologie des Geistes, eine reale Entwicklungsgeschichte des Bewusstseins oder der Vernunft; sondern ein abstraktes Modell der Bedingungen ihrer Möglichkeit. Die müssen sämtlich im selben Momet da sei, wenn vernünftiges Bewusstsein werden soll.

Wie aber individuelles Bewusstsein in der Zeit wirklich entsteht, ist eine Frage an die empirische Forschung. Die Wissenschaft, die sich damit befasst, ist die Psychologie.


28. 9. 16


Die Bedingungen ihrer Möglichkeit: Das ist eine treffende Formulierung. Die Bedingung für die Realisierung ihrer Möglichkeit ist immer das mit freiem Willen begabte X, der Verständigung halber Ich genannt; aber so zu denken, als müsse es zu den als gegeben anzunehmenden Bedingungen als Meta-Bedingung aktiv hinzustoßen, um das Mögliche wirklich werden zu lassen.

Die Bedingungen der Möglichkeit sind das Schema, das durch wirkliche Tätigkeit belebt werden musste, damit Vernunft stattfand. 

So allerdings nur für die Reflexion, die von vollendeten Tatsachen ausgehen muss. Das System der Vernunft ist uns historisch gegeben. Wir müssen annehmen, dass es aus Tätigkeit geworden ist. Ziehen wir die Tätigkeit von der Vernunft ab, bleibt übrig ihr Schema



 

Freitag, 24. Mai 2019

Anschauung zweiten Grades.

faszinationmensch

2) Also der hier zu untersuchende Satz ist der: Ich schaue mein eignes Tun an als etwas, das ich vollziehen kann oder nicht. Mein Tun ist logisches Subjekt für das Prädikat der Freiheit. Es ist also mein Tun qualis talis selbst Objekt der Anschauung im weitesten Sinn des Worts, es erhält den Charakter des Objekts als etwas der idealen Tätigkeit Vorschwebendes.

Wie wird nun mein tun als Objekt der Anschauung vorkommen? Kant nennt ein Tun z. B nach dem Gesetze der Kausalität pp. ganz richtig ein Schema, um zu bezeichnen, dass es nicht Wirkliches, sondern etwas durch ideale Tätigkeit zum Behuf der Anschauung zu Entwerfendes sein soll.

Schema ist ein bloßes Tun, und zwar mein notwendiges Tun in der Anschauung.

Also unsere Frage ist, welches ist das Schema des Tuns überhaupt, oder wie fällt ein Tun dadurch, dass es Objekt der Anschauung wird, aus? Hier ist das Objekt aus der Anschauung hergeleitet worden, und das Beweisen aus Begriffen hat hier ein Ende.

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Wissenschaftslehre nova methodo,
 Hamburg 1982, S. 110


 
Nota I. - Nur ein jenseits von Raum und Zeit gedachtes Tun ist als ein Schema darzustellen; und dies zum Zweck der Anschauung : In der Wirklichkeit lässt sich immer nur dieses oder jenes Tun anschauen; wenn ich aber Tun-überhaupt anschauen will, muss ich die Bestimmungen von Raum und Zeit fortlassen - alles, was eine Wirklichkeit als eine solche erst ausmacht.

29. 10. 16



Das Übersinnliche ist Schema des Handelns.



[Kant] sagt, dass unseren sinnlichen Vorstellungen etwas zu Grunde liege, dass es Noumene gäbe; er hat sich nicht ausdrücklich darüber erklart; er nennt es etwas, es ist aber nicht etwas, das Sein hat, sondern Handeln.


Er hat sich nicht auf das Schema für übersinnliche Gedanken eingelassen. Man kann das Übersinnliche nicht erkennen, aber da sie [sic] doch für uns da sind, so müssen sie sich doch erklären lassen. Das Schema fürs Übersinnliche ist das Handeln. [S. 113]


Kant nennt ein Tun z. B. nach dem Gesetze der Kausalität pp* ganz richtig ein Schema, um dadurch zu bezeichnen, dass es nicht Wirkliches, sondern etwas durch ideale Tätigkeit zum Behuf der Anschauung zu Entwerfendes sein soll.


Schema ist ein bloßes Tun, und zwar mein notwendiges Tun in der Anschauung. ...


Die Aufgabe ist: nicht einem bestimmten Tun, z. B. Denken, Anschauen pp, sondern einem Tun überhaupt zuzusehen. Die Aufforderung ist: eine Agilität zu beschreiben; diese kann man nur anschauen als eine Linie, die ich ziehe. Also innere Agilität ist ein Linie-Ziehen. Nun aber ist hier nicht die Rede von einer Agilität, die geschieht, sondern von einer Agilität überhaupt; von einem bestimmbaren, aber nicht bestimmten Vermögen der inneren Selbsttätigkeit und Agilität. So eine Linie ist aber bestimmt der Direktion nach. In dem Vermögen aber müssen alle Linien liegen, das Schema des Tuns muss ein nach allen möglichen Direktionen mögliches Linienziehen sein; dies ist der Raum, und zwar leerer Raum, aber leerer Raum kommt nie vor, es wird immer etwas hineingesetzt. Warum, wird sich zeigen. Hier ist nur vom Tun die Rede, aber auch das bloße reine Tun ist nichts Erscheinendes. [S. 110]
*) für perge perge: und so weiter

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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 113; 110 


Nota II. - Gr. schêma heißt Haltung, Gestalt, Figur. F. übernimmt den Begriff von Kant, aber er bestimmt ihn anders, oder richtiger: Er bestimmt ihn, wenn auch so allgemein wie denkbar möglich, während jener ihn ganz unerklärt als bloßen Namen gebraucht für die 'Methode, einem gewissen Begriffe gemäß etwas in einem Bilde vorzustellen'. Immerhin stimmen sie darin überein, dass das Schema ein Bild ist, aber kein von der Einbildungs- kraft angeschautes, sondern ein im Denken vorgestelltes Bild; eine Art Anschauung zweiter Ordnung. Dieses ist das Geheimnis der Noumena, der Dinge-an-sich, des Übersinnlichen überhaupt. Es ist das Geheimnis des dialekti- schen Scheins, wie Kant selber ihn nennt: der Vorstellung, dass den Begriffen eigene Realität zukommt. 

4. 7. 15


Das Schema für das Übersinnliche ist das Handeln (Noumena bei Kant).
s p dass q

Dieser Punkt ist in der Kantischen Darstellung nicht ganz richtig behandelt und hat Veranlassung zu einem System gegeben, wo zwar der Raum apriori sein soll, in welchen aber die Objekte aposteriori hineinkommen sollen. 

Kant behauptet auch, dass die Objekte apriori im Raum sein sollen; er schließt aber indirekt. Der ´Raum ist ihm apriori, er ist ideal, sonach müssen auch die Objekte ideal sein: Kant wollte alles aus Begriffen dartun, drum wird auch seine transzendentale Ästhetik so kurz. Das geht aber nicht, das Vernunftwesen ist nicht nur begreifend, sondern auch anschauend. Er bewies seine Darstellung vom Raum durch Induktion. Kant sagt nicht, dass der Raum gegeben werde; er sagt, dass unseren sinnlichen Vorstellungen etwas zu Grunde liege; dass es Noumene gäbe; er hat sich n icht deutlich darüber erklärt. Er nennt es etwas, es ist aber nicht etwas, das Sein hat, sondern Handeln.

Er hat sich nicht auf das Schema für übersinnliche Gedanken eingelassen. Man kann das Übersinnliche nicht erkennen, aber da sie doch für uns da sind, so müssen sie sich doch erklären lassen: Das Schema für das Übersinnliche ist das Handeln.
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Wissenschaftslehre nova methodo,
 Hamburg 1982, S. 113 


 

Nota III. - 'Übersinnliche Gedanken' sind solche, die sich auf nicht-sinnliche Gegenstände beziehen: auf Vor- stellungen. Vorstellen ist - abgesehen von dem, was vorgestellt wird - Schema des Handelns. Noumena sind Schemata des Schemas des Handelns.

5. 11. 16

Nota IV. - Anschauung von etwas, das nur gedacht wird? Aber es ist der Gedanke von etwas, das tatsächlich angeschaut wurde. Es ist eine Abstraktion; aber nicht die Abstraktion von einer Abstraktion - nicht von einer 'Tätigkeit, die als Ruhe vorgestellt wird', sondern von einer Tätigkeit, die als tätig vorgestellt wird: ein Schema. Eine 'intellektuelle' Anschauung sozusagen.
JE



Donnerstag, 16. Mai 2019

"Menschengestalt ist dem Menschen notwendig heilig."

Potsdam, Sanssouci

Der Mund, den die Natur zum niedrigsten und selbstigsten Geschäfte, zur Ernährung bestimmte, wird durch Selbstbildung der Ausdruck aller gesellschaftlichen Empfindungen, sowie er das Organ der Mitteilung ist. Wie das Individuum oder, da hier von festen Teilen die Rede ist, die Rasse noch tierischer und selbstsüchtiger ist, drängt er sich hervor; wie sie edler wird, tritt er zurück unter den Bogen der denkenden Stirn. 

Alles dies, das ganze ausdrückende Gesicht ist, wie wir aus den Händen der Natur kommen, nichts; es ist eine weiche, ineinander fließende Masse, in der man höchstens finden kann, was aus ihr werden soll, und nur da- durch, dass man seine eigene Bildung in der Vorstellung darauf überträgt, findet; - und eben durch diesen Man- gel an Vollendung ist der Mensch der Bildsamkeit fähig.

Dieses alles, nicht einzeln, wie es durch den Philosophen zersplittert wird, sondern in einer überraschenden und in einem Momente aufgefassten Verbindung, in der es sich dem Sinne gibt, ist es, was jeden, der mensch- liches Angesicht trägt, nötigt, die menschliche Gestalt überall, sie sei nun bloß angedeutet und werde erst durch ihn - abermals mit Notwendigkeit - darauf übertragen, oder sie stehe schon auf einer gewissen Stufe der Vollen- dung, anzuerkenn und zu / respektieren. Menschengestalt ist dem Menschen notwendig heilig.
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Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre,
SW Bd. III, S. 84f.



Nota. - Die historischen Fakten lieferten schon damals keine erfahrungsmäßige Evidenz für die Aussage, Men- schengestalt sei dem Menschen notwendig heilig. Zu oft hatte er sich dieser Notwendigkeit entwunden. Wie kommt so ein Satz an diese Stelle?

Die Transzendentalphilosophie hatte enthüllt, was auf dem Entwicklungsgang der Vernunft 'mit Notwendigkeit geschehen sein musste' - weil anders sie nie so, wie sie ist, hätte entstehen können. Wohl ist dieser Entwicklungs- gang aus Freiheit zurückgelegt worden; um aber zu diesem Ergebnis zurückgelegt werden zu können, hatte er so zu- rückgelegt werden müssen.

Die spekulative Rekonstruktion aus kritisch-analytisch bloßgelegten Prämissen ist überhaupt nur nötig gewesen, weil die Vernunft selber, die in möglich gewordener Erfahrung besteht, nicht darüber berichten kann, was gesche- hen sein mag, bevor sie gegeben war und - Erfahrungen machen konnte.

An dem Punkt, wo er die zunächst nur spekulative postulierte Reihe vernünftiger Wesen als im obigen Sinn be- dingt notwendig und im Rechtsverhältnis realisiert erwiesen hatte, war die Aufgabe der Transzendentalphiloso- phie ihrem Umfange nach - in die Tiefe wird sie unerschöpflich sein - erfüllt. Der Philosoph muss von nun an wie jeder andere von nachweislichen Tatsachen ausgehen.

Das hat Fichte ja offenkundig erkannt, denn ab besagtem Punkt argumentiert er mit Historisch-Faktischem. Nur dummerweise nicht mit Nachweislichem. Er argumentiert in Wahrheit gar nicht mehr, sondern versucht, seinen Leser mit blumiger Rhetorik in Stimmung zu setzen. Es ist ihm wohl klar, dass sein Räsonnement über Naturrecht schließlich auf Politik hinauslaufen wird, und das ist sein unverhohlener Zweck. Er will so tun, als sei die Heilig- keit der menschlichen Gestalt ein unmittelbarer, nicht weiterer Ableitung fähiger Satz der Vernunft selber.

Nicht, dass er eine löbliche Absicht verfolgt hat, steht in Frage. Aber philosophisch war es falsch und hat der Absicht selbst geschadet. Eine rationale Anthropologie hat den mühsamen Weg über die ersten Sozial- und Kulturbildungen der Menschen, die Weisen ihres Lebensmittelerwerbs und die Formen ihrer Arbeitsteilung zu gehen. Das fing zu Fichtes Zeit eben erst an, zu einem für die Vernunft brauchbaren Ergebnis ist es zuerst in Gestalt der Kritik der Politischen Ökonomie gelangt. Dazwischen lag die industrielle Revolution, davon konnte Fichte noch nichts ahnen. Aber inzwischen sind wir klüger.
JE

 

Mittwoch, 15. Mai 2019

Das geistige Auge.

 
d. Was den schon gebildeten Menschen am ausdrücklichsten charakterisiert, ist das geistige Auge und der die innersten Regungen des Herzens abbildende Mund. Ich rede nicht davon, dass das erstere durch die Muskeln, in denen es befestigt ist, frei herumschwebt und sein Blick dahin, dorthin geworfen werden kann; eine Beweg- lichkeit, die auch durch die aufgerichtete Stellung des Menschen erhöht, aber an sich mechanisch ist. Ich mache darauf aufmerksam, dass das Auge selbst und an sich dem Menschen nicht bloß ein toter, leidender Spiegel ist wie die Fläche eines ruhenden Wassers, / durch Kunst verfertigter Spiegel, oder das Tierauge. 

Es ist ein mächtiges Organ, das selbsttätig die Gestalt im Raume umläuft, abreißt, nachbildet; das selbsttätig die Figur, welche aus dem rohen Marmor hervorgehen soll, vorzeichnet, ehe der Meißel oder der Pinsel berührt ist; das selbsttätig für den willkürlich entworfenen geistigen Begriff ein Bild erschafft. Durch dieses Leben und We- ben der Teile untereinander ins Unendliche wird das, was sie Irdisches vom Stoffe an sich hatten, gleichsam ab- gestreift und ausgeworfen, das Auge verklärt sich selbst zum Lichte und wird eine sichtbare Seele. -

Daher, je mehr geistige Selbsttätigkeit jemand hat, desto geistreicher sein Auge; je weniger, desto mehr bleibt es ihm ein trüber, mit einem Nebelflor überzogener Spiegel.
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Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre,
SW Bd. III, S. 83f.
 



Nota. - Was weiß Fichte vom Auge des Tieres? Er stellt sich was vor. Kann er, muss er aber nicht. Die Transzen- dentalphilosophie sucht jedoch nach notwendigen Vorstellungen; notwendig auf Grund der ihnen vorangegangenen Vorstellungen. 

In einem Bereich, in dem wir Erfahrungen machen können, sind notwendig jedoch nur diejenigen Vorstellungen, die auf Anschauung beruhen. Die pathetische Rhetorik kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass er sein Konto bereits weit überzogen hat.
JE 




Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.
 

Dienstag, 14. Mai 2019

Wozu der Mensch aufrecht geht.


c. Jedes Tier hat, wie wir oben schon bemerkten, angeborene Bewegungsmöglichkeiten. Man denke an die Biber, die Biene u. s. f. Der Mensch hat nichts dergleichen, und sogar / seine Lage auf dem Rücken wird dem Kinde gegeben, um den künstigen Gang vorzubereiten. - Man hat gefragt. ob der Mensch bestimmt sei, auf vier Füßen zu gehen oder aufrecht? Ich glaube, er ist zu keinem von beiden bestimmt; es ist ihm als Gattung überlassen worden, seine Bewegungsweise sich selbst zu wählen. 

Ein menschlicher Leib kann auf vier Füßen laufen, und man hat unter Tierem aufgewachsenen Menschen ge- funden, die dies mit unglaublicher Schnelligkeit konnten. Die Gattung hat meines Erachtens frei sich vom Bo- den emporgehoben und sich dadurch das Vermögen erworben, ihr Auge rund um sich herumzuwerfen, um das halbe Universum am Himmel zu überblicken, indes das Auge des Tieres durch seine Stellung an den Boden ge- fesselt ist, welcher seine Nahrung trägt.

Durch diese Erhebung hat er der Natur zwei Werkzeuge abgewonnen, die beiden Arme, welche. aller animali- sche Verrichtungen entledigt, am Körper hängen, bloß um das Gebot des Willens zu erwarten, und lediglich zur Tauglichkeit für die Zwecke desselben ausgebildet werden. Durch diesen gewagten Gang, der ein immer fortdauernder Ausdruck ihrer Kühnheit und Geschicklichkeit ist in Beobachtung des Gleichgewichts, erhält sie ihre Freiheit und Vernunft stets in der Übung, bleibt immerfort im Werden, und drückt es aus. Durch diese Stellung versetzt sie ihr Leben in das Reich des Lichts und flieht immerfort die Erde, die sie mit dem kleinst- möglichen Teile ihrer selbst berührt. Dem Tier ist der Boden Bette und Tisch; der Mensch erhebt alles das über die Erde.
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Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre,
SW Bd. III, S. 82f.
 



Nota. - Er breitet reichlich Material aus für den Eingang in eine biologische Anthropologie, aber die liegt an dieser Stelle gar nicht in seiner Absicht. Er mutmaßt vielmehr in metaphysischer Weise über einen Plan der Natur, in dem die Freiheit der Menschen vorausberechnet liegt und für den sie in seiner Leibesgestalt die phy- sischen Bedingungen geschaffen hat. Und zwar nicht als ein heuristisches Prinzip der empirischen Forschung, sondern als konstitutive Basis einer positiven Lehre, aus der er in der Folge rechtliche und politische Folgerun- gen herleiten will. Nicht nur hat er Kritik und Transzendentalphilosophie hinter sich gelassen; er geht vielmehr direkt zu einer dogmatischen Predigt über.
JE

Sonntag, 12. Mai 2019

Fingerspitzengefühl.


b. Der Mensch wird nackt geboren, die Tiere bekleidet. In ihrer Bildung hat die Natur ihr Werk beendigt und das Siegel der Vollendung darauf gedrückt; sie hat die feinere Organisation durch eine rohere Decke vor dem Einflusse der gröberen Materie geschützt. Im Menschen wurde das erste und wichtigste Organ, das des Beta- stens, das durch die ganze Haut sich verbreitet, geradezu der Einwirkung derselben bloßgestellt: nicht aus Nachlässigkeit der Natur, sondern aus Achtung derselben für uns. Jenes Organ war bestimmt, die Materie un- mittelbar zu berühren, um sie auf das Genaueste unseren Zwecken angemessen zu machen: 

Aber die Natur stellte es uns frei, in welchen Teil unseres Leibes wir unser Bildungsvermögen vorzüglich ver- legen, und welchen wir als bloße Masse betrachten wollen. Wir haben es in die Fingerspitzen gelegt, aus einem Grunde, der sich bald zeigen wird. Es ist daselbst, weil wir es gewollt haben. Wir hätten jedem Teile unseres Leibes dasselbe feine Gefühl geben können, wenn wir es gewollt hätten; das beweisen diejenigen Menschen, die mit den Zehen nähen und schreiben, die mit dem Bauche sprechen u. s. f.
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Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre,
SW Bd. III, S. 82 



Nota. - Leute, die "mit dem Bauche sprechen"... Wer hat ihn geheißen, eine biologische Anthropologie aus dem Begriff der Vernunft abzuleiten? Er hätte es andersrum anpacken können, doch dazu hätte er den Evolutions- gedanken benötigt, den er noch nicht kannte. Das wäre eine historische Herleitung der Vernunft geworden, und wenn sie ihm selbst gelungen wäre, hätte sie mit der Transzendentalphilosphie nichts zu tun gehabt: Er hätte keinen Punkt gehabt, an dem er anfangen konnte, aus dem er die... Vorstellung hätte entwickeln können.

Allein dass er die Natur als Protagonistin auftreten lässt, über deren intimsten Pläne er uns Auskunft gibt, macht diesen ganzen Abschnitt nicht nur transzendentalphilosophisch, sondern in jeder Hinsicht wissenschaftlich wertlos.

Dabei ist der Grundgedanke ja nicht falsch. Wäre der Mensch ganz zu Anfang an seine Umwelt so angepasst gewesen, wie jede Tiergattung es ist, hätte er keine Vernunft entwickeln müssen. Er hätte keine Verwendung für sie gehabt. Es ging um die Kompensation eines Mangels, und auch die Ahnung, dass die spezifisch menschliche Plastizität seines Körperbaus aus diesem Mangel herrührt, ist richtig. Sie hat nur in der Philosophie überhaupt nichts zu suchen. Was immer er vorhat - auf diesem Weg wird er nicht weit kommen.
JE 











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