Mittwoch, 31. Oktober 2018

Das Selbstbewusstsein eines gedachten Gottes.


Man denke, das Ich würde nicht begrenzt, sein Trieb würde Tätigkeit, so wäre das Ich ein sich-selbst-Affizieren und weiter nichts, das Ich wäre nicht gebunden, es wäre sonach keine ideale Tätigkeit da, ideale und reale Tätig- keit fielen zusammen, so etwas können wir uns nicht denken, es wäre das Selbstbewusstsein eines gedachten Gottes. 
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982,  S. 67  


Nota I. – Zunächst ist zu bedenken, dass für einen Christen – als solchen verstand sich Fichte – Gott nicht ge- dacht, sondern nur geglaubt werden kann. Und, zweitens, dass nicht zu verstehen wäre, wie einem solchen ungebundenen Selbstbewusstsein je ein Gegenständliches, ein Objektives erwachsen sollte und wie es folglich überhaupt zu einem Bewusstsein käme. – Kurz, dieser Satz besagt nur: Gott kann nicht Gegenstand der Philo-sophie werden.


25. 12. 15


Nota II. - Das Eine bei Plotin, Deus sive natura bei Spinoza sind solche ungebremsten Trieb-Tätigkeiten, und in beiden 'emanatistischen' Systemen bleibt ganz unklar, wie und weshalb sich irgendwann eine gegenständliche Wirklichkeit herauskristallisieren kann. Plotin redet unumwunden in Bildern und sein Urbild ist der Kreis - am Scheitelpunkt ist das Eine ausgefranst in tausend Mannigfaltigkeiten und prallt von dort aus gewissermaßen in den Einen Ursprung zurück. Das ist poetisch gedacht und will durch Schönheit überzeugen. Das kann jeder selbst entscheiden, ob ihm das gefällt.

Spinoza dagegen ist ein Rationalist, der sein System more geometrico demonstrieren will. Die Begriffe reihen sich dort stramm aneinandere wie eine Kompanie Soldaten. Bei ihm gibt es kein Zurück, bei ihm verliert sich Alles im Mannigfaltigen. Nicht nur ist das System deterministisch; es endet überdies in gleich-gültiger Ödnis.

Fichte war, bis er sich von Kant aus seinem dogmatischen Schlummer reißen ließ, ein Anhänger Spinozas gewe- sen, doch das fatalistische Dogma drückte ihn nieder. Die unendliche Agilität in Spinozas System wird ihn wohl eingenommen haben, aber sie ist bei ihm nicht Wille, der zur Gestaltung wird, sondern blinder Trieb in eine un- bestimmte Mannigfaltigkeit. 

Spinoza gibt eine Erklärung, aber die gibt keinen Sinn: Der Mensch kommt nur als passives Objekt vor; das heißt: eigentlich gar nicht. Ohne die Opposition gegen Spinoza bliebe Fichtes Werdegang unverständlich; ein "umgekehrter Spinozismus" sei die Wissenschaftslehre, sollte Jacobi später sagen. Die unendliche Agilität des reinen Wollens kann sich zum wirklichen Wollen lebendiger Individuen nur dann konkretisieren, wenn ihr ein Drang zur Wendung gegen sich selbst von Anbeginn eingepflanzt ist. Die Entzweiung von realer und idealer Tätigkeit muss als Vorstellung dem Gedanken eines Wollens-an-sich vorangegangen sein.
JE


 

Dienstag, 30. Oktober 2018

Die alte und die neue Darstellung der Wissenschaftslehre.

Life magazine
 
Ideales und Reales liegt nebeneinander und bleiben immer abgesondert. Im Buche* ist zuförderst das erste be- stimmt und das zweite von ihm abgeleitet. Hier** wird umgekehrt mit dem Praktischen angefangen und dies wird abgesondert, so lange es abgesondert ist und nicht mit dem Theoretischen in Beziehung steht. Sobald aber beide zusammenfallen, werden sie beide miteinander abgehandelt. Somit fällt die im Buche* in den theoretischen und den praktischen Teil gemachte Einteilung hier weg. 

In beiden Darstellungen wird ausgegangen von einer Wechselbestimmuung des Ich und NichtIch.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 72

*) Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre
**) Wissenschaftslehre nova methodo

 
Nota I. - Dies betrifft lediglich die Art des Vortrags. Der Sache nach ist auch in der Grundlage die praktische Tä- tigkeit Bedingung der idealen, welche sich auf jene bezieht; andersrum geht's ja nicht.

16. 9. 15 

Nota II. - Die Unstimmigkeit der Darstellung mit dem Dargestellten in der Grundlage fällt auch dem unvoreinge- nommenen Leser noch heute auf und wurde schon damals beanstandet. Sie also war es, die Fichte in seiner 'neuen Darstellung' beheben wollte. 

Die 'alte' Darstellung begann, wie er sagt, beim 'Idealen', und ging erst von dort aus auf das Praktische zurück. 'Das Ideale' - das konnte, wenn er es an den Anfang stellte, nur ein Begriff sein. Wenn er die Darstellung korri- gierte und mit dem Praktischen, 'Realen' begann, konnte es nicht mehr - d. h. noch nicht! - ein Begriff sein: Zu den Begriffen geht er erst im Theoretischen über. Und das ist die Stelle, wo der Unterschied in der Darstellung auch einen Unterschied in der Sache ausmacht:  Die Nova methodo knüpft nicht mehr Begriffe an einander, sondern ent- wickelt Vorstellungen aus einander. 

Das gibt der Darstellung - nein: dem Dargestellten - eine ganz neue Kohärenz. Es ist eigenartig, dass Fichte selbst diese Neuerung stets nur beiläufig und am Rande erwähnt. Denn indem die Darstellung technisch ge- wissermaßen geglättet wurde, wird das Dargestellte erst recht schwer verständlich.
JE


Montag, 29. Oktober 2018

Die Frage nach dem System stellt sich beim Philosophieren von allein.

M. Großmann, pixelio.de

Subjektiv betrachtet, fängt die Philosophie doch immer in der Mitte an, wie das epische Gedicht. 
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Friedrich Schlegel, Athenaeum, Ersten Bandes Zweytes Stück. Berlin 1798 



Ein hübscher Aphorismus zum Thema philosophischer Systematik.

Jeder Philosoph fängt mit seinem Philosophieren irgendwo mittendrin an. Ganz einfach, weil er vor dem Ent- schluss zu philosophieren schon allerlei gewusst und seinem gesunden Menschenverstand unterzogen haben muss. Das nimmt er naiv als Startkapital und fängt an zu wirtschaften. Erst nachträglich, in dem Maße nämlich, wie er auf unerwartete gedankliche Probleme stößt, denkt er daran, sein Kapital zu inventarisieren – ob es wirk- lich so reichlich war, wie er dachte, und wie große Risiken er sich damit leisten kann. Das ist Meta philosophie, und obwohl sie logisch an den Anfang gehörte, kommt sie immer erst hinterdrein.

Und dann, wenn er sich fragt, welches Risiko seinen Einsatz wert ist, taucht erstmals in klarer Kontur die Frage auf, worauf er überhaupt hinauswill. Und siehe da, das praktische Problem verhält sich auf einmal zum metaphiloso- phischen wie Kopf und Zahl. Unmöglich zu sagen, welches den Vorrang hat. Und nun erscheint auch all das, was er bisher schon geschafft hatte, geschafft zu haben meinte, als der theoretische Teil eines aufzustellenden Systems. Der hängt jetzt aber in der Luft, nämlich mitten zwischen den komplementären Vorbehalten des praktischen und des metaphilosophischen Teils. Eine Generalrevision ist nötig; eine Kritik des theoretischen Teils. Und wenn man schonmal so weit ist, wird sich in der Durchführung der Kritik erweisen, dass recht eigentlich sie selber den theo- retischen Teil ausmacht!

Nun aber erscheint sie als das Hauptstück, plat de résistance, des ganzen Systems. Weil nämlich nur durch sie Meta- philosophie und praktische Philosophie zusammengeführt werden konnten. Der praktische alias Meta-Teil ist zwar der, auf den es am Ende ankommt. Aber möglich wurde er erst durch die Kritik, als deren Klammer.

9. 9. 2014


Wieso ich diesen Eintrag heute erneut poste? Weil ich vorher die ganze WL nova methodo wiedergegeben und den Anfang der Grundlage gleich nachgetragen habe. Schließlich habe ich, um den Unterschied zu verdeutlichen, den Anfang des 'neuen' Vortrags der WL, wie Fichte ihn im Philosophischen Journal  vorgestellt hat, dazugetan. Es fällt auf: Die erste Darstellung in der Grundlage fängt in der Tat "mittendrin" an. Begriffe und Verfahren werden so benutzt, als sei deren Geltung längst festgestellt; wie und von wem wird nicht erörtert. 

Wie ein System dargestellt wird ist aber nicht ohne Inzidenz darauf, was für ein System es ist. Hierauf will ich hin- aus: Fichte ist tatsächlich erst mit der 'neuen Darstellung' von einer logischen zu einer genetischen Darstellung übergegangen, und das heißt: von einer Kostruktion aus Begriffen zu einer Entwicklung aus Vorstellungen. Be- merkenswert, dass er diesen Unterschied nur gelegentlich und nebenbei erwähnt, nie aber thematisch. Nie spricht er aber auch aus, dass er nicht, wie heute weitgehend angenommen, eine 'Bewusstseinsphilosophie' verfasst hat, sondern in specie eine Definition der Vernünftigkeit. Natürlich spricht er es nicht aus, denn Kritik der Vernunft war der zweck der Kantschen Philosophie, und dass er diese radikalisieren und vollenden musste, war ihm noch ganz selbstverständlich.

*

Die unterschiedlichen Anfänge der beiden Darstellungen im Besondern zu untersuchen ist eine Sache, die ich nicht übers Knie brechen werde. Aber irgendwann komme ich darauf zurück.
 
25. 6. 17 


Nun also zum dritten Mal. Erstens ist es wirklich so, dass Philosophie in einem spezifischen Sinn keinen Bestand hat, wenn sie nicht früher oder später auf ein System hinausläuft: einen Argumentationsbogen, in dem am Ende auf kohärente Weise die Frage beantwortet wird, die zu der ganzen Untersuchung den Anlass gab - und zugleich die Frage beantwortet, ob die Antwort den ganzen Aufwand wert war.

Zweitens hat die Postmoderne diesen Anspruch nachhaltig verunglimpft; nicht mit Gründen, sondern mit Re- densarten. Ihr Erbe haben die logischen Teilchenmechaniker der Analytischen Schule übernommen. Sie verdienen es redlich, indem sie es überspitzen: Um den Hohn vollzumachen, nennen ausgerechnet sie sich Systematiker.

Da muss man heut erstmal semantische Sauberkeit schaffen.



Sonntag, 28. Oktober 2018

In der Anschauung schwebt das Objekt vor mir.


Ich finde mich beschränkt im Gefühle, aber ich kann nicht fühlen, ohne anzuschauen, und unmittelbar für die Anschauung ist das Objekt da. Hinterher kommen dergleichen Bestimmungen vor, dass das Objekt betrachtet wird als etwas auf uns Einfließendes; aber diese Bestimmungen kommen erst vor, wenn das Objekt schon da ist. 

Das Etwas, welches dem Anschauenden vorschwebt, ist hier weder Bild noch Dinge, es ist ohne alle Beziehung auf uns. Weder Bild noch Dinge, sondern beides, es wird nachher in beide geschieden, es ist der Urstoff für beide, das unbegreifliche Etwas ohne Beziehung auf uns. Auch im gemeinen Bewusstsein behaupten wir, dass die Dinge unmittelbar da sind. 

Wir können hier die Anschauung noch nicht weiter charakterisieren, als dass sie sei etwas dem Ich Vorschwe- bendes und insofern NichtIch, wenn es nämlich auf das Anschauende bezogen werden könnte, nicht aber auf das ganze Ich, dass sie sei //84// etwas positiv Haltendes, dass ihr der Charakter des Seins zukomme, indem sie die gesamte Tätigkeit des Ich zur idealen macht.

Das Objekt wird nicht gefühlt, es ist bloß, indem ich anschauend bin, und im Anschauen fühle ich mich.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 83f.  



Nota I. - Da fällt mir zweierlei ein: zuerst Schillers ästhetischer Zustand, und dann, dass seit Plato das Staunen als Anfang der Philosophie gilt.
 

19. 9. 16

Nota II. - Das Staunen triff zu, aber der ästhetische Zustand nicht mehr. Denn aus dem Staunen vor dem Einen Ganzen wird sogleich die Suche nach den Merkmalen und das Unterscheiden von Mannigfaltigem an ihm. Würde sich das ursprüngliche Staunen der Nachfrage enthalten und auf das Bestimmen der Merkmale verzich- ten können und in bloßem Anschauen verharren, möchte ein ästhetisches Mit-Schweben dabei herauskommen. Aber das Staunen kann sich des Bestimmenwollens nicht enthalten, nicht gattungs- und nicht individualge- schichtlich, es muss fixieren und diffenrenzieren.

Ob es, nachdem es mit dem Reflektieren begonnen hat, rückblickend davon absehen und auf jedes Verhältnis der Mannigfaltigen verzichten kann, ist eine Frage der Kultur. Ästhetische Betrachtung muss ein Individuum in seiner gesellschaftlichen Situation sich erst einmal leisten können. Es braucht Muße und darf sich nicht von der Sorge ums täglich Brot getrieben fühlen. Das dürfte in den zwei Millionen Jahren, die unsere Vorfahren als Jä- ger und Sammler zugebracht haben, häufiger vorgekommen sein als in den zehntausend Jahren Arbeitsgesell- schaft, die eben hinter uns liegen.

Indessen liegt uns heute eine Fülle von Reflektiertem und Bestimmten vor Augen, von der wir absichtlich ab- sehen können, die unser Vorfahren nicht ahnten. Wir müssen uns nicht begnügen, das Ganze (die Ganzen!) lediglich anzustaunen, wir haben die Möglichkeit, jeweils Ganze im Verhältnis, als Verhältnis ihrer inneren Dif- ferenzierung anzuschauen - schwebend, als Rhythmus und als Proportion, als Gestalt; und nicht, wie im werktäti- gen Leben, als Funktion zu berechnen.
JE



Nota - Das obige Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und ihre Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Ihre Nachricht auf diesem Blog. JE

Samstag, 27. Oktober 2018

Die Annahme der Wirklichkeit der Welt ist denknotwendig.


Wird die reale Tätigkeit des Ich beschränkt, so entsteht notwendig, da die ideale Tätigkeit immer bleibt, eine //94// Anschauung, vor der Hand nur die des Beschränkenden. Dieses ist sonach ein ganz bestimmter Zustand des Ich. Von ihm aus kann eine genetische Einsicht in das jetzt Gesagte gegeben werden. 

An diesem Zustand soll eine Veränderung erfolgen, wie und woher wissen wir nicht, wir haben sie wirklich postuliert. Das Ich wird durch diese Veränderung in seiner Beschränkung beschränkt. Im ersten Zustand (voriger Paragraph) ist das Ich und ist es irgend etwas, es ist fixiert, gehalten; ein bestimmtes Streben in ihm, weil es beschränkt ist. Oder Tätigkeit ist in ihm negiert, welches der Charakter des Seins ist.

Das Ich ist aber noch nichts für sich; es ist auf jenem Gesichtspunkte keine Reflexion des Ich auf sich selbst abgeleitet. Es wird sich finden, dass das Ich zu diesem Anschauenden ein Sein für sich haben wird. Dieses Sein ists nun, welches durch diese Veränderung beschränkt wird, durch B im Gegenstatze zu A, wo nur ein Streben beschränkt wurde. Das Sein des Ich ist das Beschränkte. Das Gefühl B als Gefühl überhaupt ist auch Beschrän- kung des Strebens, hat dies mit A gemein; aber wir abstrahieren hier davon und sehen nur darauf, dass es das Gefühl B ist, wir sehen nur auf die Veränderung.

Ein Sein ist nur für die ideale Tätigkeit. Nun geht auf alles Sein des Ich noch nicht die ideale Tätigkeit, insofern kann also das Sein und die ideale Tätigkeit nicht beschränkt sein, aber die ideale Tätigkeit geht in der Anschau- ung Y auf das Sein von Y; wird nun, wie es dem Erwiesenen nach geschehen muss, das Sein des Ich beschränkt, so würde das Sein im Anschauen des Y beschränkt, verändert.

Aus der Beschränktheit und Veränderung meines Seins folgt auch die Beschränktheit und Veränderung des Seins außer mir. Zufolge der Beschränkung meiner realen Tätigkeit in A entsteht notwendig die Anschauung Y eines Beschränkten (voriger Paragraph); wird diese Beschränktheit A als Grund der Beschränkung Y wieder beschränkt, so folgt eine Beschränkung des Gegründeten [sic], dies gibt die Anschauung Y. Beschränktheit der realen Tätigkeit gibt Anschauung (voriger Paragraph).

Ein bestimmtes Quantum jener Beschränktheit gibt ein bestimmtes Quantum Anschauung. Wird der Grund be-//95//schränkt, so wird es auch das Begründete (Ich bin in der Anschauuung beschränkt heißt: Ich bin in der Vorstellung Y gebunden, das Mannigfaltige darin so zu ordnen und nicht anders; jede Beschränktheit erregt ein Gefühl, sonach auch die Beschränktheit der idealen Tätigkeit in der Anschauung Y.)

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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S.
93ff. 


Nota. - Was Fichte in den Rückerinnerungen mit spitzfinger Zurichtung der Philosophie gemeint haben mag - hier wird es deutlich. Der Sinn ist, die Beschränktheit der seienden Dinge außer mir zurückzuführen auf eine Beschränkt- heit im Sein des Ich: "Aus der Beschränktheit und Veränderung meines Seins folgt auch die Beschränktheit und Veränderung des Seins außer mir." Was eine 'beschränkte Beschränktheit' und eine 'Beschränkung des Seins' (in welchem bereits 'alle Tätigkeit negiert' war) sein soll, leuchtet mir nicht ein; und ich kann mir nicht einmal die Trivialität verkneifen, an der Verlässlichkeit des Protokollanten zu zweifeln

Der Zweck der Spitzfindigkeit ist aber immer noch, unsere Annahme der Realität der Dinge außer uns als denk- notwendig zu demonstrieren: "Ein bestimmtes Quantum jener Beschränktheit gibt ein bestimmtes Quantum An- schauung." Ob ihm das an dieser Stelle gelungen ist, ist diskutabel. Wer aber seine folgenden Ausführungen verfolgen will, muss vorläufig annehmen, dass.

PS. Ich glaube - mehr traue ich mich einstweilen nicht zu sagen -, dass die Annahme der Wirklichkeit der Welt nicht - positiv - denknotwendig ist, sondern dass - negativ - unter umgekehrter Annahme alles wirkliche Denken schlicht unmöglich wäre. Denn ohne Wirklichkeit der Welt gäbe es für ein Ich nicht einmal in der Vorstellung Platz.
 JE 





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Freitag, 26. Oktober 2018

Wahrheit ist Wahrhaftigkeit.


Ich muss das Objekt so oder so vorstellen, wenn ich es richtig vorstellen will: Indem ich das sage, meine ich, ich könnte es auch nicht-richtig vorstellen wollen, und die Notwendigkeit meines Denkens ist nur bedingt und hängt ab von meiner Freiheit. Was ist dies für eine Freiheit und wo kommt sie vor?

Ich bin beschränkt in A; die ideale Tätigkeit, die aus dieser Beschränktheit hervorgeht, ist auch beschränkt. Die- se beschränkte ideale Tätigkeit ist die Anschauung Y. Diese ist aber hier der Strenge nach nichts als eine von uns vorausgesetzte Idee, denn sie ist ja nicht für das Ich. Soll sie für das Ich etwas sein, so muss von neuem dar- auf reflektiert werden, das Ich muss von neuem sie setzen.

Man nehme an, diese neue Reflexion soll mit Freiheit geschehen.

Die praktische Tätigkeit lässt sich ganz unterdrücken, so dass gar keine mehr übrig wäre, sondern nur ein Stre- ben nach ihr. Aber der Charakter der idealen Teäigkeit ist, dass sie mir bleibe und nicht aufgehoben werden könne. Sie soll nur in //98// Y beschränkt sein, aber sie kann nicht aufgehoben werden; sie ist sonach nur zum Teil beschränkt und kann sich von dieser Beschränktheit losreißen; in der Anschauung Y ist die ideale Tätigkeit nur zum Teil beschränkt, sie kann sich losreißen mit Freiheit. Ob sie sich unbedingt losreißen müsse oder nicht, oder falls das letzte stattfinden sollte, unter welchen Bedingungen, werden wir sehen.

Das Ich soll gesetzt werden als das Anschauende, aber das Ich ist nur das Tätige und nichts anderes. Sonach muss die Anschauung als Produkt der freien Tätigkeit gesetzt werden, und nur dadurch wird sie es. Aber Tätig- keit lässt sich nach dem allgemeinen Gesetz der Anschauung nur setzen als ein Übergehen von Bestimmbarkeit zur Bestimmtheit. Ich soll mich tätig setzen heißt, ich soll meiner Tätigkeit zusehen. Dies ist aber ein Übergehen vom Unbestimmten zum Bestimmten. Soll die Anschauung also als frei gedacht werden, so muss sie auch in demselben Moment gebunden gesetzt werden. Freiheit ist nichts ohne Gebundenheit et vice versa. Das Losrei- ßen ist nicht möglich ohne etwas, wovon gerissen wird. Nur durch Gegensatz entsteht Bestimmtheit des Gesetz- ten.

Wie kann nun Freiheit und Beschränktheit der idealen Tätigkeit beisammen sein? So: Wird auf die Bestimmt- heit des praktischen (realen) Ich reflektiert, so muss auch Y notwendig so gesetzt werden, also nur die Synthesis ist notwendig. Oder: Soll die Vorstellung wahr sein, so muss ich den Gegenstand so vorstellen, ob aber diese Synthesis vorgenommen werde, dies hängt von der Freiheit des Vorstellenden ab, welches [sic] in sofern keinem Zwange unterworfen ist. 
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 97f.



Nota. - Der Eintrag schließt unmittelbar an den gestrigen an. Es ging darum, wie 'das Ding außer uns der Wahrheit gemäß dargestellt' werden kann. Ist nun etwa doch die Rede davon, was das Ding "an sich" sei? Wahrheit bezieht sich hier offenbar nicht auf das Ding, sondern auf die Vorstellung vom Ding. Es geht darum, dass in der Vorstellung sich schließlich nichts vorfindet, als was im Verlauf der vorstellenden Tärigkeit wirklich gesetzt und bestimmt worden ist; es geht um die Wahrhaftigkeit des Vorstellenden. Eine andere Wahrheit kann es für die Transzendentalphilosophie nicht geben. 



Als vernünftig soll gelten ein Denken, das dem Schema der Wissenschaftslehre folgt. Nach ihm konstituiert sich die Reihe vernünftiger Wesen. Jene ist die Vernunft in ihrer Wirklichkeit. So weit sie dem Schema folgen - so weit sie vernünftig denken -, müssen sie alle in der Darstellung der Dinge außer uns übereinstimmen: Das be- deutet Wahrheit. 

Sie müssen, sofern sie die Eingangsbedingung gewählt haben und ihr treu geblieben sind: Das Ich setzt sich, indem es sich ein/em Nichtich entgegensetzt - reale Tätigkeit - und bestimmt sich, indem es sich sich-selbst entgegen- setzt - ideale Tätigkeit; daraus folgt alles. Die Notwendigkeit dieses oder jenes Denkens, der Denkzwang tritt ein lediglich unter dieser Bedingung; sie wurde durch Freiheit gewählt und wird durch Freiheit erhalten. Jeder, der spinnen will, kann spinnen.
JE





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Donnerstag, 25. Oktober 2018

Wahrheit im Denkzwang?

 
Aber bin ich gezwungen, die Dinge so zu denken?

Ich kann von ihnen abstrahieren oder ich kann sie auch anders denken, also findet kein Denkzwang statt. Aber dann stelle ich das Ding nicht der Wahrheit gemäß dar; aber soll meine Vorstellung dem Dinge gemäß sein, so findet Denkzwang statt. Aber was ist denn das für eine Wahrheit, an die meine Vorstellung gehalten werden soll?


Es ist die Frage nach der Realität, die wir der Vorstellung zu Grunde legen. Unser eigenes Sein in praktischer Hinsicht ist die Wahrheit, es ist das unmittelbar Bestimmte, wovon sich weiter kein Grund angeben lässt. Die- ses unser eigenes Sein deuten wir durch ein Ding außer uns; dieses Ding außer uns ist seiner Wahrheit gemäß dargestellt, wenn es auf ein inneres Sein deutet. Aus einem Quantum Beschränktheit in mir folgt diese oder jene Beschränktheit außer mir.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 97

 

Nota. -  Was ist Wahrheit? Unser eigenes Sein - und zwar in praktischer Hinsicht - ist die Wahrheit. In prakti- scher Hinsicht heißt: in Bestimmung zu... Wozu ist mein Sein praktisch bestimmt? Zu unendlichem Übergehen vom Unbestimmten zum Bestimmten; bestimmt zu unendlichem Bestimmen. Nicht meine Bestimmtheit ist mit- hin die Wahrheit meines Seins, sondern das Übergehen. Das dürfte nun wohl als Kernsatz der Wissenschafts- lehre gelten - wenn nämlich einer so unklug wäre, sie lehren zu wollen.
 

In Hinblick auf das Gefühl - im folgenden Absatz kommt er darauf zurück - erhellt schonmal dies: Ein Denk- zwang und das entprechende Gefühl, genötigt zu sein, stellt sich nur ein, wenn ich den Vorsatz gefasst habe, 'wahr' zu denken. Aber den kann ich nur aus Freiheit fassen. Ein 'Leiden', ein Gefühl des Gezwungenseins kommt nur vor unter Bedingung eines vorausgegangenen Akts der Freiheit.  

Das ist nun ganz etwas anderes als das sinnliche Fühlen, von dem zuvor stets die Rede war. Er wird an Stelle der Anschauung des einzelnen Gefühls bei diesem bestimmten Denkakt den gesamten Zustand des ganzen artikulierten Organismus ins Spiel bringen müssen. Die Scheidung von sinnlich und intelligibel ginge verloren; nicht aber die von real und ideal.
JE 



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Mittwoch, 24. Oktober 2018

Denkgesetze und die Freiheit der Reflexion.

p0irebellehelene

Der Geist unserer Philosophie ist: Kein vorgebliches Ding an sich kann Objekt des Bewusstseins sein. Nur ich selbst bin mir Objekt; wie lässt sich unter dieser Voraussetzung das Bewusstsein konstruieren? 

Wir können nur nach unseren Denkgesetzen erklären, und nach diesen muss die Antwort auf unsere Frage aus- fallen. Unsere //167// Erklärung ist damit auch nicht an sich gültig; denn die Frage ist: Wie kann ein Vernunftwe- sen sein Bewusstsein erklären? 

Nun müssen wir zu Folge der Reflexionsgesetze zu allem Bestimmten ein Bestimmbares voraussetzen. Dies Gesetz haben wir bisher angewandt auf das Ich, welches Objekt der Philosophie ist. Nun aber ist der Philosoph auch ein Ich, folglich auch an dieses Gesetz gebunden. Das Ich ist sich selbst Objekt des Bewusstseins, sonach Subjekt und Objekt. Wir wollen beides auf einander beziehen. Zu diesem Behufe müssen wir beide auf einan- der beziehen als bestimmbar, sonach wird uns nach den Denkgesetzen das Ideale und Reale geschieden. Das Reale bedeutet nur das Objektive, das Ideale nur das Subjektive im Bewusstsein. 

Beides wird nun besonders betrachtet als bestimmbar, und dieses Denken gibt uns das bloß Intelligibele. Das Intelligible ist sonach nicht an sich, sondern etwas für die Möglichkeit unserer Erklärung nach den Denkgeset- zen Vorauszusetzenden. So behandelt es auch Kant, und jede andere Ansicht wäre transzendent. 

Das ursprünglich Reale ist der reine Wille, das Bestimmbare in unseren Bestimmungen. Das Ideale ist ein Re- flexionsvermögen, gebunden an verschiedene Gesetze, unter anderem auch an das Gesetz, dass nur Sukzessives aufgefasst und nur diskursiv gedacht werden kann. Das erste ist ein Vermögen, Objekt zu sein, das letztere ein Vermögen, Subjekt zu sein; das erste ist das Vermögen, rein, das zweite, empirisch zu sein.

Zu einer solchen Voraussetzung kommen wir durch die Denkgesetze. Nun fand sich die Schwierigkeit: Wie soll der reine Wille ein Mannigfaltiges für die Reflexion werden?  Es war die Antwort: Es wird dies lediglich durch seine Beziehung auf die Beschränktheit, welche gleichfalls ursprünglich ist. So ists auch im empirischen Bewusst- sein. Der Wille für sich betrachtet ist nur eins. Man unterscheidet den Willen nur durch die Objekte, auf die er geht, dies ist nun hier die Beschränktheit. Die ganze Reflexion besteht in der Vereinigung des Mannigfaltigen der Beschränktheit. Ihre Freiheit besteht //168// darin, dass der Wille darauf bezogen werden kann oder nicht; dass er auf dieses oder jenes bezogen werden kann.

Aber in wiefern ich beschränkt bin, bin ich irgend etwas nicht, was ich aber nicht bin, das ist für mich nicht da. Nun aber liegt die Beschränktheit außer mir; wie werde ich mir nun ihrer bewusst? Antwort: Sie liegt nur zum Teil außer mir. Äußerlich bin ich beschränkt, aber nicht innerlich, meine äußere Beschränktheit ahme ich inner- lich nach.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 166f.
 



Nota I. -  Zunächt einmal: 'Diskursiv', das heute in verschiedenster Bedeutung gebraucht wird, verwendet er als bestimmtes Korrelat zu 'sukzessiv'. Da wir kein Ganzes, sondern immer nur Teile auffassen können, und zwar eines nach dem andern, können wir sie nur denken, indem wir in unserer Vorstellung eines nach dem andern, in der Zeit, wieder aneinanderfügen.

Dies nennt er ein Denkgesetz.

Ein Denkgesetz sei auch, dass wir zu jedem Bestimmten ein Bestimmbares denken müssen. Ein 'Gesetz' soll das sein? Es ist lediglich eine Explizitierung dessen, was im Verb 'bestimmen' vorgestellt wurde. Das Vorgestellte ist als Ganzes Eins, ein Singulum, und als ein solches kann darüber keine Aussage gemacht werden (de singularibus non est scientia), man muss es in sich selbst unterscheiden, um es dar stellen zu können; die 'Teile' nach einander wieder zu- sammensetzen.

Das Vor gestellte ist das Gemeinte. Gemeint wird die Handlung des Bestimmens. Überhaupt jeder 'Begriff' ist le- diglich eine solche Handlung, die als Ruhe gedacht wird. Als Handlung 'hat' sie aber - denn das ist das im Bild der Handlung Gemeinte - wenigstens diese drei 'Teile': S p dass q.

'Gesetz' ist daran, dass man aus einem Gehalt nur herausholen kann, was er enthält - in transzendentalem Sinn: was man hineingetan hat. Es ist das Verhältnis von realer und idealer Tätigkeit.
 


28. 1. 17

Nota II. - Das ist wieder das kitzliche Thema Denkgesetz. Es ist das verbleibende Mysterium der Wissenschafts- lehre, nämlich das Paradox der Freiheit. Freiheit ist das Vermögen, absolut anzufangen. Doch kaum hat das Denken angefangen, erweist es sich als in allerlei Gesetze verfangen. Das wäre nur so zu verstehen, dass jeder Schritt, den es wirklich tut, von nun an in Ewigkeit gültig ist und auch von der absolut freien Reflexion im Nachhinein nicht revidiert werden kann. Und so würde Schritt für Schritt ein Denkgesetz aus dem andern hevorgehen.

Doch immer wieder finden sich bei Fichte Stellen, aus denen herausklingt, dass der letzte Zweck der Vernunft der vernünftigen Tätigkeit vorgegeben sei. Dies Schwanken hat seine Wurzel in einer vorwissenschaftlichen romantischen Grundanschauung, die gar nicht in die Philosophie gehört, sondern in Fichtes Lebensbeschrei- bung. Wer sich heute der Wissenschaftslehre zuwendet, lässt sie füglich außer Acht.

Damit ist das Schwanken behoben, nicht aber das Pardox: die fortschreitend sich fesselnde Freiheit - die aber doch eine unendliche bleiben soll.

Zurück auf Anfang: Die Wissenschaftslehre soll sein die Vollendung der Kant'schen Vernunftkritik; soll erhel- len, wie, nämlich aus welchem Rechtsgrund Vernunft im 18. Jahrhundert ihren Herrschaftsanspruch erhebt. So weit die Transzendentalphilosophie ihre Abstraktionen auch immer treibt: Ihr Gegenstand ist die historische Realität. Was bei Fichte die 'Reihe vernünftiger Wesen' ist, ist in der Wirklichkeit das Modell der bürgerlichen Gesellschaft, in der die Gelehrten den öffentlich Ton angeben. In der Wissenschaftslehre erscheint die Reihe vernünftiger Wesen an einer Stelle dem Ich vorgegeben, von ihnen geht die Aufforderung zur Selbstbestimmung alias Vernunft allererst aus. 

Was Vernunft in specie ist, nämlich nach welchen Regeln sie verfährt, finde ich als gegeben vor. Es ist (reell) eine lange Geschichte zweckmäßiger Wechselwirkungen. Vernünftig werde ich handeln, indem ich dieser pro- zessierenden Wechselwirkung beitrete, denn nur in der Welt der Reihe vernünftiger Wesen, der intelligiblen Welt, kann ich vernunftgemäß wirken. Vernunft ist selber keine Denkweise, sondern eine Weise des Handelns in der Welt.

Das Forstschreiten der Vernunft ist das Fortschreiten in der gemeinsamen Bestimmung des Unbestimmten, das Medium der Bestimmung ist der Zweckbegriff. Vernünftig ist eine Welt, in der die Zweckbegriffe fortschreitend vergemein- schaftet werden. Das geschieht reell nicht durch Deliberation, sondern praktisch durch gemeinsames Handeln. Allgemein geltend sind diejenigen Bestimmungen, die gemeinsames Handeln ermöglichen, und das ist eine Sache der Erfahrung und nicht (erst) der Reflexion. Erfahrung geschieht durch Widerstand; auch durch den Widerstand anderer vernünftiger Wesen.

Das gemeinsame Bestimmen der Zweckbegriffe ist zugleich die fortschreitende Selbstbestimmung der Reihe vernünftiger Wesen. Da die Bestimmung der Zwecke in der Welt ins unendliche geht, tut es die Selbstbestim- mung der Reihe vernünftiger Wesen. Sie ist die treibende Kraft. Ihr Treibstoff ist die Reflexion, die frei und unendlich ist. Zum Wesen der Vernunft gehört Kritik.
JE






Dienstag, 23. Oktober 2018

Jedes Einzelne in mir wird bestimmt durch das Übrige in mir.



Die reale Tätigkeit ist beschränkt durch unser Wollen, durch die Individualität, darüber können wir hinausden- ken, und denken vernünftige Wesen außer uns hinzu. Die ideale Tätigkeit ist beschränkt, und unser Zustand kann nur allmählich, und zwar in bestimmten Maßen aufgefasst werden. Durch die letzte werden wir etwas für uns, durch die erste bestimmen wir uns durch Vernunftwesen außer mir. Dieses in die äußere Anschauung auf- genommen, gibt uns die Sinnenwelt. Das Mannigfaltige in mir und das Mannigfaltige außer mir stehen in Wech- selwirkung.

Jedes Einzelne in mir wird bestimmt durch das Übrige in mir, und umgekehrt. Alles kommt aber aus dem ab- soluten Sein, und aus dem absoluten Beschränktsein im Auffassen dieses Seins. In realer Rücksicht bin ich nicht alles, in idealer kann ich, was ich bin, nicht auf einmal auffassen. ______________________________________________
Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 156

 
Nota I. - Das absolute Sein ist die als ein Sein aufgefasste Tätigkeit = Ich. Angeschaut wird aber stets nur eine bestimmte Tätigkeit = Handeln. Sie wird bestimmt, indem sie durch ihren Gegenstand beschränkt wird.

21. 11. 14

Nota II. - Indem das Ich sich setzt, bestimmt es sich durch seine Entgegensetzung zum Nicht-Ich. Als voraus- gegangen muss ich mir denken: ein Unbestimmtes, das sich - aus eigner Machtvollkommenheit - selbst bestimmt. Wie das möglich gewesen sein soll, ist einstweilen eine offene Frage, aber angenommen werde muss, dass es möglich war, denn es ist ja wirklich geschehen. Jedes Fortschreiten des Bestimmens der Nich-Iche durch das Ich ist seither zugleich sein Fortschreiten im sich-selbst-Bestimmen. Was immer bestimmt ist, ist es durch Vermittlung des Ich; und es selber ist (nichts als) vollständige Vermittlung aller Bestimmungen.

Daraus folgt zweierlei. Erstens, die transzendentale Herleitung des Ich dient dem Zweck, die Möglichkeit eines realen vernünftigen Ichs zu begründen. Dieses reale Ich - Individuum - muss daher selbst gedacht werden als ein Ganzes durch vollständige Vermittlung seiner Bestimmungen.

Zweitens, diesem ursprünglichen Unbestimmten muss doch hinzugedacht werden Spontaneität, nämlich eine ur- sprüngliche prädikative Qualität, und das ist das Vermögen, frei zu wollen.

Mit dieser nachzuschiebenden Voraussetzung steht und fällt das System der Wissenschaftslehre. 
JE




Montag, 22. Oktober 2018

Das Apriori der Wissenschaftslehre.


Das Wollen ist das einzige Apriori der Wissenschaftslehre.

Kann etwas apriori sein, das nicht zuvor aposteriori war? fragt Fichte.

Im Verlauf der vorstellenden Tätigkeit beobachtet, in der eine Welt entsteht, ist Alles zunächst einmal aposte- riori. Von meinem Wissen von der fertigen Welt aus betrachtet, erscheint alles, was vorkommt, als apriori.

Das Wollen ist im reellen Gang des Vorstellens nur apriori. Allein der erste, analytische Gang der Transzenden- talphilosophie findet es aposteriori als anzunehmende Voraussetzung auf; nicht aber das reale Wissen in seinem Bestand.

Dem theoretischen Philosophieren mag es als Ansich vorkommen. Für die Anthropologie wie für alle prakti- sche Philosophie ist es ursprüngliches Postulat.

31. 5. 15


Um Etwas zu wollen, bedarf es der Einbildungskraft alias eines poietischen Vermögens.

Um etwas zu wollen, müsste offenbar noch etwas hinzukommen.

Fichte hat die Reihenfolge umgekehrt. Er nimmt das Wollen als sein Apriori. Es ist die Bestimmung des Men- schen: "So soll er werden!"  -   Hinzukommen muss vielmehr noch ein Etwas.

Wer bestimmt, wie er werden soll? Es ist längst bestimmt: Dieses Apriori ist - es würde ihn nicht überrascht haben - ein Aposteriori. Es ist das autonome Subjekt, die selbstbestimmte Person der bürgerlichen Gesellschaft.


3. 6. 15


Und immer wieder: Die Wissenschaftslehre konstruiert nicht aus gedachten Voraussetzungen die Welt, sei's wie sie ist, sei's wie sie werden soll. Vielmehr findet sie eine Welt vor, in der die Auffassung um sich greift,* dass Ver- nunft herrschen soll. Was Vernunft sei und unter welchen Voraussetzungen sie herrschen kann, war Gegenstand der Kantschen Kritik. Sie blieb unvollendet im Apriori stecken. Aufgabe der Wissenschaftslehre ist, die Vernunft- kritik zu ihrem Absschluss zu bringen.

So weit die historische, faktische Voraussetzung der Aufgabe. Sie besteht im Aufsuchen der Bedingungen der Möglichkeit von Vernunft. Das geschieht im fort-, d. h. rückschreitenden Auflösen der auseinander entwickel- ten tatsächlichen Bestimmungen: Die Bedingungen werden zurückgeführt auf das sie Bedingende. Es ist am letz- ten Grund ein an sich selber unbestimmtes Bestimmendes; eine prädikative Qualität

Zur Probe ihrer Richtigkeit muss es gelingen, wie bei einer Rechenaufgabe die Operation umzukehren, und an ihrem Ende muss stehen - die 'Reihe vernünftiger Wesen', nämlich derer, die übereingekommen sind, dass in der Welt "Vernunft herrschen soll"; welches der Ausgangspunkt war. Was in der Analyse erst Ergebnis war, ist in der synthetischen Re konstruktion das Vorauszusetzende: a priori.
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*) seit dem Westfälischen Frieden 1648