Meine Emendation der Wissenschaftslehre.
Der letzte Grund, auf den die Wissenschaftslehre in ihrem ersten, analytischen Teil stößt, ist das Noumenon des Wollens-überhaupt. Aus dieser Triebkraft allein ist der wirkliche Gang der Intelligenz zu erklären (=der zweite, synthetische Gang der Wissenschaftslehre).
Wollen ist aber stets Wollen von Etwas, wollen setzt einen Zweck, an dem es sich bestimmen kann. Dem Nou-menon des Wollens-überhaupt steht daher das Noumenon eines Zwecks-überhaupt gegenüber. Sowenig wie jenes ist er aber bestimmt; er ist bestimmbar, und dieses unendlich. Zweck-überhaupt ist die nicht erschöpfba-re Idee des Absoluten, und der Gang der Intelligenz wäre ohne sie ohne Richtung und könnte eine Vernunft nie ergeben.
Fichte bastelt vorübergehend an dem Paradox eines irgendwie-doch-schon-bestimmten Absoluten. Daraus kann nichts werden. Da trifft ihn der Offene Brief Jacobis. Prompt geht er ihm auf den Leim und bekehrt sich zu einem re-alen Absoluten.* Ab da werden seine Darstellungen der Wissenschaftslehre zu dogmatisch konstruierender Me-taphysik.
Meine Verbesserung ist nur ein kleine, aber eine entscheidende. Das Noumenon des Absoluten ist eine Idee, und da es diejenige Idee ist, die alles Werten überhaupt erst möglich macht, ist es eine ästhetische Idee.
Dies zum einen.
Zum andern ist Vernunft in ihrer tätigen Form als Vernünftigkeit nicht die endliche Summe von soundsoviel individuellen Leistungen, sondern ein gegebener – vorgefundener – Zustand: das Verhältnis einer "Reihe ver-nünftiger Wesen" untereinander. Als ein solches ist es den individuellen Intelligenzen und ihren Erfahrungen 'a priori' vorausgesetzt als Bedingung ihrer Möglichkeit.
Mit andern Worten, Vernünftigkeit ist keine Privatsache, sondern das Verhältnis zwischen einem 'Ich' und einer 'Welt'.
Doch nicht alles, was mir vorkommt, berührt 'das Ich'. Es juckt die Nase, kribbelt im Fuß, denkt an den letzten Sommer. Das widerfährt mir persönlich, das Ich als das Prinzip meiner Vernünftigkeit wird davon nicht berührt. Der eine findet Charlie Chaplin komischer, der andere Buster Keaton. Einen fasziniert Michael Jackson, einen andern David Bowie: Das ist Sache des Geschmacks, und der urteilt einzeln und immer ad hoc. So ist es mit der Moralität. Ihre Ratschlüsse geschehen und gelten hic et nunc. Abstraktionen sind ihr nicht bloß fremd, sondern zuwider.
Das sind Sachen, die mich persönlich berühren – also nicht 'mein Ich'; die 'in der Welt' vorkommen, aber nur in meiner Welt und nicht in unserer Welt. Das eine geht die 'Reihe vernünftiger Wesen' was an, das andre nicht. (Recht ist eins; Moral ist ganz was anderes.)
Das ist meine zweite Emendation.
Beide hängen aber miteinander zusammen, nämlich in der regulativen Idee eines Absoluten; und in specie darin, dass es unbestimm- und nicht erschöpfbar ist
_________________
*) – das zwar nicht bestimmt, aber vorgängig immer schon sich-selbst-bestimmend war.
Das Schema der Vernunft; oder Die Anthropologie der bürgerlichen Existenz.
Fichte will gar nicht erklären, auf welchem Weg ein individuelles Ich zu seinem so oder anders gearteten Bewusstsein kommt. Er will erklären, warum, wie und inwiefern Vernunft in einer Gesellschaft, sei es als Realität, sei es als Postulat, zur Herrschaft kommt.
"Aufforderung" zur Vernüftigkeit ist deren Bedingung; nicht historisch und kausal, indem 1. das Ich sich setzt, 2. sich ein Nichtich entgegensetzt, um sich 3. diesem entgegenzusetzen, und dann immer so weiter bis an den Punkt, wo dann die Aufforderung geschieht; sondern logisch und systemisch: 1., 2., 3. und alle weiteren Schritte fänden gar nicht erst statt, wenn die Aufforderung nicht erginge. –
Denn die Aufforderung ergeht nicht individuell von dir an mich. Die Aufforderung ergeht durch die Begeg-nung mit einer "Reihe vernünftiger Wesen", in die ich hineingeboren wurde. Vernunft als herrschender Zustand ist den individuellen Ichs vorausgesetzt. Sie muss nicht mehr entstehen durch den verallgemeinernden Verkehr der sich verständigenden Individuen, sondern ist als apriorische 'Systemeigenschaft' der bürgerlichen Welt schon gegeben. (Erst) das bürgerliche Individuum ist a priori Anteilnehmer einer Gesellschaft. Daraus folgt alles Weitereauf einen Schlag und lässt sich eo ipso nur als System, als zeitloses "Schema" darstellen.
Die Wissenschaftslehre ist die Vollendung der Kant'schen Vernunftkritik. Der geschichtliche Bericht, wie es zu diesem herrschenden Zustand gekommen ist, fällt nicht in ihre Verantwortung, er ist eine Sache der historischen Realwissenschaften.
Die WL erklärt nicht, wie das Bewusstsein entsteht, sondern entwirft einen Kanon der Vernünftigkeit.
Die Wissenschaftslehre beschreibt nicht, wie ein Mensch tatsächlich zu Bewusstsein kommt, sondern postuliert, welche Weise des bewusst-Seins als vernünftig gelten soll. Die Vorstellungswelt des Wahnsinnigen ist, welche Beiwörter man ihm sonst wohl anheften mag, auch ein Bewusstsein. Die Wissenschaftslehre entwirft nun ein Schema, und wenn einer so handelt, dass es im Sinne dieses Schemas gedeutet werden kann, soll es vernünftig heißen.
Diese Postulat ist jedoch nicht aus freier Laune erwachsen. Es ist gewissermaßen 'aufgefunden'. Denn die Untersuchung nahm ihren Ausgang an einem, das wirklich ist: 'Es gibt' in der bürgerlichen Gesellschaft ein Normalbewusstsein, das sich selbst als vernünftig auffasst. Dieses wird analytisch (phänomenologisch) auf seine Voraussetzungen geprüft. Die aufgefundene Erste Voraussetzung, ohne die alles Weitere grundlos wäre, ist das Ich, das 'sich setzt, indem es sich ein(em) Nichtich entgegensetzt'.
Ob dieser Gründungsakt wissentlich geschah oder nicht, spielt keine Rolle, denn 'mit Bewusstsein' konnte er doch wohl nicht geschehen, da er dem Bewusstsein ja zu Grunde liegen soll – sofern es vernünftig wurde.
In der Philosophie kommen Fakten nicht vor, sagt Fichte. Das Schema stellt, was geschehen soll, nicht als historischen Vorgang, sondern als System dar: Doch im System ist die Zeit untergegangen. Das System kann man nur zeitlos, ideal, 'logisch' darstellen. Das System ist 'auf einmal und mit einem Schlag' da.
"Aber das, was nicht im Gebiete der Erfahrung liegt, hat keine Wirklichkeit im eigentlichen Sinn, es darf nicht in Raum und Zeit betrachtet werden, es muss betrachtet werden als etwas notwendig Denkbares, als etwas Ideales."*
Seine Rekonstruktion kann nicht historisch geschehen, sondern nur genetisch. Auch nicht logisch im Sinne von diskursiv: Da müsste auch ein Schritt auf den anderen folgen, und die Schritte sind im diskursiven Verfahren als Begriffe vorgegeben – deren Entstehen soll aber erst erklärt werden. Auf Begriffe muss also noch verzichtet werden, man muss dem Vorstellen selbst zuschauen. Aber eben nicht im (historischen) Individuum, sondern im zeitlosen Modell.
Wann und wo sollte es in der Geschichte denn passiert sein, dass ein 'Ich sich selbst setzt, indem es sich ein(em) Nichtich entgegensetzt'? In der Geschichte nie, aber heute jederzeit immer und immer wieder. Es ist ein Erklärungsgrund und kein reell (nach Raum und Zeit) identifizierbares Ereignis. Wenn es aber nicht alswirklich stattgefunden vorausgesetzt würde, ließe sich das Wissen (Vorstellung, Bewusstsein, Denken, Begriff...) nicht erklären. Alles, was historisch (empirisch) geschehen ist, muss im zeitlosen System irgendwo wieder vorkommen, wenigstens als Funktion – freilich nicht am selben Ort* und nicht unterm selben Namen. Und umgekehrt: Phantasiegebilde, denen in Raum und Zeit gar nichts entspricht, gehören nicht in die Transzen-dentalphilosophie.
*
Indem sie also einen Kanon der Vernünftigkeit aufstellt, definiert sie zugleich die Welt als das Feld ihrer Geltung: Sie ist keine begrenzte Gegend, sondern ein Horizont, der so weit reicht, wie die mögliche Wirksamkeit vernünftiger Wesen. Das ist nicht 'überall, wo Menschen sind'. Denn da, wo Vernünftigkeit nicht hin reicht, ist nicht mehr Welt, jedenfalls nicht unsere Welt, in der wir als Vernünftige zusammen wirken; sondern immer nur je 'meine' Welt, wo Menschen wohl auch sind, aber wo die Vernunft nichts mehr zu sagen hat.
*) WL nova methodo, S. 23
**) Orte gibt es im System so wenig wie die Zeit. Sie erscheinen erst in der diskursiven Darstellung, die die Vorstellungen nach einander ordnet, weil sie sie durch einander nicht veranschaulichen kann.
Wann und wo sollte es in der Geschichte denn passiert sein, dass ein 'Ich sich selbst setzt, indem es sich ein(em) Nichtich entgegensetzt'? In der Geschichte nie, aber heute jederzeit immer und immer wieder. Es ist ein Erklärungsgrund und kein reell (nach Raum und Zeit) identifizierbares Ereignis. Wenn es aber nicht alswirklich stattgefunden vorausgesetzt würde, ließe sich das Wissen (Vorstellung, Bewusstsein, Denken, Begriff...) nicht erklären. Alles, was historisch (empirisch) geschehen ist, muss im zeitlosen System irgendwo wieder vorkommen, wenigstens als Funktion – freilich nicht am selben Ort* und nicht unterm selben Namen. Und umgekehrt: Phantasiegebilde, denen in Raum und Zeit gar nichts entspricht, gehören nicht in die Transzen-dentalphilosophie.
*
Indem sie also einen Kanon der Vernünftigkeit aufstellt, definiert sie zugleich die Welt als das Feld ihrer Geltung: Sie ist keine begrenzte Gegend, sondern ein Horizont, der so weit reicht, wie die mögliche Wirksamkeit vernünftiger Wesen. Das ist nicht 'überall, wo Menschen sind'. Denn da, wo Vernünftigkeit nicht hin reicht, ist nicht mehr Welt, jedenfalls nicht unsere Welt, in der wir als Vernünftige zusammen wirken; sondern immer nur je 'meine' Welt, wo Menschen wohl auch sind, aber wo die Vernunft nichts mehr zu sagen hat.
*) WL nova methodo, S. 23
**) Orte gibt es im System so wenig wie die Zeit. Sie erscheinen erst in der diskursiven Darstellung, die die Vorstellungen nach einander ordnet, weil sie sie durch einander nicht veranschaulichen kann.
Die Wissenschaftslehre ist die ganze Philosophie.
Ob die Philosophie ein Fach ist, mag ich gar nicht entscheiden. Das finge an mit einem Pfennigfuchsen darüber, was man alles dazu zählen will und was nicht, und da bisse sich die Katze in den Schwanz. In zweieinhalb Jahrtausenden hat sich in Europa – anderswo nicht – eine Tradition der kritischen Reflexion auf das, WAS wir wissen, und darauf, WIE wir wissen, ausgebildet. Da haben sich Einsichten angesammelt – selbst wenn man’s bloß kritisch nimmt –, die nur vielleicht liebenswerte, aber dummfreche Rotznasen ignorieren können, wenn sie sich denn diesen Dingen zuwenden wollen.
Daraus sind an den Universitäten Fakultäten und 'Fachbereiche' hervorgegangen. Dass es ein 'Fach' ist, behaupten sie gern, um das Monopol zu wahren, das sie seit 150 Jahren darüber haben. Als nichtakademischer Privatmann kann ich das eigentlich nicht gutheißen.
Ich verteidige also nicht die Selbstständigkeit 'der Philosophie'. Ich verteidige die Einzigkeit der Wissenschaftslehre (in meiner Emendation, versteht sich). Sie ist der harte Kern, der Prüfstein, die Kritik des Wissens, soweit es mehr sein soll als die Sammlung verwertbarer Fakten.
Das Sammeln verwertbarer Fakten dient dazu, das Leben einfacher, bequemer, befriedigender zu führen. Was immer über solche Fragen hinausgeht, läuft früher oder später auf die Eine Frage zu, wohin und wozu man sein Leben führen will. Das nennt man herkömmlich Praktische Philosophie. Um die Wörter geht es ja nicht, Philosophie ist kein eingetragenes Warenzeichen. Es geht darum, dass sie nicht wirklich wissenschaftlich, nämlich nicht wirklich kritisch sein können: denn sie wollen – und müssen, wenn sie was taugen sollen – positiv werden und Zwecke behaupten; wenn Sie so wollen, im weitesten Sinn 'politisch'. Das ist nicht Wissenschaft, sondern Meinungs-Kampf.
Gottseidank gibt es die Kritik und die Wissenschaftslehre als den Fels, auf dem sie baut! So haben die mannig-faltigen Meinungen immerhin etwas Gewisses, woran sie sich halten können; wenn schon nicht positiv, so doch negativ: was alles nicht geht.
Der springende Punkt ist aber: Die Wissenschaftslehre ist nicht der Bericht darüber, 'wie das Ich sich konstituiert', 'wie das Bewusstsein zustande kommt' und 'welches meine Pflichten sind'. Sie ist ein abstraktes Modell jenseits von Raum und Zeit – Schema, sagt Fichte immer wieder; "ohne alle Erfahrung" – von einem Bewusstsein, das vernünftig verfährt. Die Wissenschaftslehre ist das Schema der Vernünftigkeit.
*
Ist es also "rein formal"? "Bloße Methode"? – In der Wissenschaftslehre geht sowas gar nicht. Denkbar wäre es nur, wenn das Materiale – der Stoff oder die autarken Bedeutungspartikel – vorgegeben wäre und das Verfahren sich ganz auf deren Verknüpfung beschränken könnte. (So etwas hat Hegel an Schellings dialektischer Triade bemängelt: Das ginge klipp-klapp und ohne Inhalt; während bei ihm der Inhalt des Begriffs seine Bewegungvorausbestimmte...)
Mit andern Worten, wenn als Material der Begriff vorausgesetzt wird. Aber der Begriff ist ein Derivat. Ursprünglich war er Vorstellung, und die ist eine Abstraktion von der Tätigkeit 'vorstellen'. Eine Vorstellung 'gibt es', wenn und sofern einer sich etwas vorstellt; sonst nicht. Als Begriff ist sie aus der Tätigkeit herausgerissen und zu einem Dauernden mumifiziert.
Gegenstand der Wissenschaftslehre ist aber der Gang des Vorstellens selbst. Es ist der Gang vom Bestimmbaren, weil Unbestimmten oder wenig bestimmten, zum Bestimmteren. Das ist offenbar keine bloß formale Bestimmung. Das Bedeutungsfeld wird von Schritt zu Schritt enger, aber dichter. Es ist nicht Kombination, sondern Qualifizierung. Das Verfahren ist der Gehalt, aktual. Für andere darstellen, nämlich so, dass sie's nur nach-lesen müssten, lässt es sich nicht. Man muss schon das Vorstellen selber betreiben, um seiner gewärtig zu werden.
*
Ein pragmatischer Vernunftbegriff.
R. Doisneau
Seit Mitte des 17. Jahrhunderts – seit dem Ende des 30jährigen Krieges – waren sich, außer den Theologen jeder Konfession, alle einig, dass Vernunft es war, die von nun an zu herrschen hätte. In den philosophischen und juristischen Traktaten der folgenden anderthalb Jahrhunderte dürfte kein Begriff öfter vorgekommen sein. Merkwürdig nur: Zum Thema wurde Vernunft nie. Was sie sei, woher sie kommt, wodurch wir von ihr wissen, wurde nicht gefragt. Sie offenbarte sich, indem man sich ihrer befleißigte.
Denn wie sie zu verfahren hätte, lag inzwischen auf der Hand, nämlich nach dem Vorbild der Mathematik. Diesen galileischen Grundgedanken hatte Descartes in seinem Discours de la méthode kanonisiert: Clare et distiscte definierte Begriffe werden verknüpft nach den seit Aristoteles nicht wesentlich erweiterten Regeln der formalen Logik und ergeben Schlüsse von der Evidenz der Demonstrationen der Geometer. Vernünftigkeit war zuerst einmal eine Methode.
Descartes hatte ursprünglich kritisch argumentiert, gegen die Mannigfaltigkeit und Unentscheidbarkeit der rivalisierenden Meinungen: Geprüft werden sollten nicht erst die fertigen Resultate, sondern bereits die Wege des Denkens. Aber die dogmatische Falle lag schon im kritischen Grundprinzip verborgen. Indem das mathematische Modell zum Einheitsprinzip von denkender Seele und ausgedehnter Materie bestimmt wird, werden Natur und Geist in Parallele gesetzt: La Raison besteht in der Identifikation von realer Ursache – raison – mit dem logischen Grund: raison. Natur und Vernunft erklärten einander, die Begriffe vermittelten, das Verfahren füllte sich mit Stoff. Daraus entstanden die großen metaphysischen Systeme mit den beiden Polen Leibniz und Spinoza und manchem Malebranche dazwischen. Statt der Methode trat der Gehalt in den Vordergrund. Aus Vernunft wurde Rationalismus, aus kritischem Verfahren wurde ein Fetischismus der Begriffe.
*
Ihm galt Kants Versuch einer Vernunftkritik. Anstoß gab der Streit um den Kausalitätsbegriff, in dem empirische Ursachen und logische Gründe zusammenfallen. Begriffe, die nicht auf Erfahrung beruhen, sind leer, doch ohne Begriffe ist die Anschauung blind. Erfahrung beruht auf den Anschauungsformen Raum und Zeit und den zwölf kategorialen Begriffsfamilien als Bedingung ihrer Möglichkeit. Wie, woher, wodurch wir zu ihnen gelangt sind, ließ er offen; um, wie spitze Zungen meinen, Platz für den Glauben zu schaffen (mochten sie doch vom Himmel gefallen sein). Das Apriori wurde zur Zuflucht aller gewendeten Dogmatiker, die hier ein Asyl für das vertriebene Ding-an-sich gefunden hatten. Das war eine Halbheit, die Vernunftkritik drohte an den Orthodoxen Kantianern zu scheitern, dabei konnte es nicht bleiben.
Die Halbheit zu ergänzen war Zweck der Wissenschaftslehre: die Rückführung der Begriffe hinter die Grenzlinie des Apriori zurück auf die Tätigkeit des intellegierenden Subjekts, und das hieß: die Rückführung der festgestellten Begriffe auf die ihnen zu Grunde liegenden dynamischen Vorstellungen. Gegenstand der Wissenschaftslehre ist das Vorstellen selbst und nicht erst seine mannigfaltigen Produkte. Das Grundmodell: Die lebendige Intelligenz steht vor einem unendlichen Reich des Bestimmbaren – und gehört selber dazu, denn indem sie ihr jeweils Anderes bestimmt, bestimmt sie sich selber mit. Dabei kommt sie freilich nie zu einem Ende, weder bei der Bestimmung der Welt noch bei der Bestimmung ihrer selbst. Denn so weit der Weg auch sei, den sie beim Bestimmen schon zurückgelegt hat, so bleibt das Feld vor ihr doch so weit wie je: unendlich.
Vernünftig ist nun eine Intelligenz, die diesen Gang nimmt; nicht seine einzelnen Stufen, sondern das Vorgehen selber: ein stetiges Fortschreiten vom relativ Unbestimmten zum Bestimmteren. Es ist als solches ein unentwegtes Urteilen, doch nicht die Urteile machen die Vernünftigkeit aus, sondern der Urteilende: Wenn ich einen vernünftigen Tutor habe, dem ich vertraue, und übernehme seine Urteile, dann mögen die Urteile vernünftig sein, aber ich bin es nicht – weil sie nicht meine sind. Vernünftigkeit ist hier wieder ein Verfahren, aber es ist nicht formal vorbestimmt einerseits als 'Methode' und nicht andererseits material vorgegeben durch monadische 'Begriffe', sondern entwickelt selber seine Vorstellungen aus/einander. Es ist selber formal und material in Einem.
*
Wenn aber Vernunft in einem tätigen Verständnis von ihrem Ursprung an vom Subjekt selbstgemacht ist – wie kann es sein, dass auf ihrem Boden, und darauf kam es an, Verständigung möglich ist? In der Wirklichkeit sind die Subjekte keine unendlich bestimmbaren Iche, sondern sehr unterschiedliche, sehr endliche Individuen. Macht jedes seine Vernunft selber? Irgendwie muss sie ihrem je individuellen Tätigwerden doch schon vorausge-setzt sein, wie anders könnte sie sonst zum allgemeinen Medium taugen?
Das ist der Widerspruch der Wissenschaftslehre. Er manifestiert sich darin, dass Fichte von Anbeginn schwankt zwischen einem kritisch pragmatischen und einem dogmatisch substanziellen Vernunftbegriff.
Dabei hält er den Schlüssel schon in der Hand. "Dieser Begriff der Selbstheit der Person ist nicht möglich ohne Begriff von einer Vernunft außer uns; dieser Begriff wird also auch konstruiert durch Herausgreifen aus einer höheren, weiteren Sphäre. Die erste Vorstellung, die ich haben kann, ist sie Aufforderung meiner als Individuum zu einem freien Wollen."*
Schlechthin-tätig ist das Ich 'an sich', dazu bedarf es keiner Aufforderung. Zum Bestimmen muss es aufgefordert werden – vom Unbestimmten zum Bestimmten fortzuschreiten. Bestimmen heißt einer Sache einen Zweck zurechnen. "Der Zweck wird uns in der Aufforderung gegeben, also die individuelle Vernunft lässt sich aus sich selbst nicht erklären. ... Doch wird uns der Zweck nicht als Bestimmtes, sondern überhaupt der Form nach gegeben, etwas, woraus wir wählen können. ... Kein Individuum kann sich aus sich selbst erklären. Wenn man also auf ein erstes Individuum kommt, worauf man kommen muss, so muss man auch ein noch höheres unbegreifliches Wesen annehmen."**
Der Zweckbegriff ist die Grundform des Begriffs: Begreifen heißt die Sache einem Zweck zuordnen. Die Tätigkeiten der Subjekte durch Begriffe regulieren heißt Zwecke miteinander vereinbaren. So geschah es schon, als das Ich in die Welt trat, wo es eine 'Reihe vernünftiger Wesen' bereits vorfand; sie ist das unbegreifliche höhere Wesen. Die Aufforderung erging in dem Moment, als das Ich in die Reihe eintrat und sich damit zum Individuum bestimmte. Seine Teilhabe an der Vernünftigkeit ist von Anfang an vermittelt durch die der Andern. Sie ist selber Vermittlung. 'Vernunft' nennen wir einen Zustand, in dem das Handeln Aller vernünftig ist. Vernunft als Zu-stand ist keine Sache, sondern ein tätiges Verhältnis – die Verkehrsweise einer 'Reihe vernünftiger Wesen'; ist nicht bestimmt, sondern allezeit sich-selbst-bestimmend.
Aufgekommen ist sie gegen Mitte des 17. Jahrhunderts.
*) Nova Methodo, S. 177
**) ebd., S. 178
Seit Mitte des 17. Jahrhunderts – seit dem Ende des 30jährigen Krieges – waren sich, außer den Theologen jeder Konfession, alle einig, dass Vernunft es war, die von nun an zu herrschen hätte. In den philosophischen und juristischen Traktaten der folgenden anderthalb Jahrhunderte dürfte kein Begriff öfter vorgekommen sein. Merkwürdig nur: Zum Thema wurde Vernunft nie. Was sie sei, woher sie kommt, wodurch wir von ihr wissen, wurde nicht gefragt. Sie offenbarte sich, indem man sich ihrer befleißigte.
Denn wie sie zu verfahren hätte, lag inzwischen auf der Hand, nämlich nach dem Vorbild der Mathematik. Diesen galileischen Grundgedanken hatte Descartes in seinem Discours de la méthode kanonisiert: Clare et distiscte definierte Begriffe werden verknüpft nach den seit Aristoteles nicht wesentlich erweiterten Regeln der formalen Logik und ergeben Schlüsse von der Evidenz der Demonstrationen der Geometer. Vernünftigkeit war zuerst einmal eine Methode.
Descartes hatte ursprünglich kritisch argumentiert, gegen die Mannigfaltigkeit und Unentscheidbarkeit der rivalisierenden Meinungen: Geprüft werden sollten nicht erst die fertigen Resultate, sondern bereits die Wege des Denkens. Aber die dogmatische Falle lag schon im kritischen Grundprinzip verborgen. Indem das mathematische Modell zum Einheitsprinzip von denkender Seele und ausgedehnter Materie bestimmt wird, werden Natur und Geist in Parallele gesetzt: La Raison besteht in der Identifikation von realer Ursache – raison – mit dem logischen Grund: raison. Natur und Vernunft erklärten einander, die Begriffe vermittelten, das Verfahren füllte sich mit Stoff. Daraus entstanden die großen metaphysischen Systeme mit den beiden Polen Leibniz und Spinoza und manchem Malebranche dazwischen. Statt der Methode trat der Gehalt in den Vordergrund. Aus Vernunft wurde Rationalismus, aus kritischem Verfahren wurde ein Fetischismus der Begriffe.
*
Ihm galt Kants Versuch einer Vernunftkritik. Anstoß gab der Streit um den Kausalitätsbegriff, in dem empirische Ursachen und logische Gründe zusammenfallen. Begriffe, die nicht auf Erfahrung beruhen, sind leer, doch ohne Begriffe ist die Anschauung blind. Erfahrung beruht auf den Anschauungsformen Raum und Zeit und den zwölf kategorialen Begriffsfamilien als Bedingung ihrer Möglichkeit. Wie, woher, wodurch wir zu ihnen gelangt sind, ließ er offen; um, wie spitze Zungen meinen, Platz für den Glauben zu schaffen (mochten sie doch vom Himmel gefallen sein). Das Apriori wurde zur Zuflucht aller gewendeten Dogmatiker, die hier ein Asyl für das vertriebene Ding-an-sich gefunden hatten. Das war eine Halbheit, die Vernunftkritik drohte an den Orthodoxen Kantianern zu scheitern, dabei konnte es nicht bleiben.
Die Halbheit zu ergänzen war Zweck der Wissenschaftslehre: die Rückführung der Begriffe hinter die Grenzlinie des Apriori zurück auf die Tätigkeit des intellegierenden Subjekts, und das hieß: die Rückführung der festgestellten Begriffe auf die ihnen zu Grunde liegenden dynamischen Vorstellungen. Gegenstand der Wissenschaftslehre ist das Vorstellen selbst und nicht erst seine mannigfaltigen Produkte. Das Grundmodell: Die lebendige Intelligenz steht vor einem unendlichen Reich des Bestimmbaren – und gehört selber dazu, denn indem sie ihr jeweils Anderes bestimmt, bestimmt sie sich selber mit. Dabei kommt sie freilich nie zu einem Ende, weder bei der Bestimmung der Welt noch bei der Bestimmung ihrer selbst. Denn so weit der Weg auch sei, den sie beim Bestimmen schon zurückgelegt hat, so bleibt das Feld vor ihr doch so weit wie je: unendlich.
Vernünftig ist nun eine Intelligenz, die diesen Gang nimmt; nicht seine einzelnen Stufen, sondern das Vorgehen selber: ein stetiges Fortschreiten vom relativ Unbestimmten zum Bestimmteren. Es ist als solches ein unentwegtes Urteilen, doch nicht die Urteile machen die Vernünftigkeit aus, sondern der Urteilende: Wenn ich einen vernünftigen Tutor habe, dem ich vertraue, und übernehme seine Urteile, dann mögen die Urteile vernünftig sein, aber ich bin es nicht – weil sie nicht meine sind. Vernünftigkeit ist hier wieder ein Verfahren, aber es ist nicht formal vorbestimmt einerseits als 'Methode' und nicht andererseits material vorgegeben durch monadische 'Begriffe', sondern entwickelt selber seine Vorstellungen aus/einander. Es ist selber formal und material in Einem.
*
Wenn aber Vernunft in einem tätigen Verständnis von ihrem Ursprung an vom Subjekt selbstgemacht ist – wie kann es sein, dass auf ihrem Boden, und darauf kam es an, Verständigung möglich ist? In der Wirklichkeit sind die Subjekte keine unendlich bestimmbaren Iche, sondern sehr unterschiedliche, sehr endliche Individuen. Macht jedes seine Vernunft selber? Irgendwie muss sie ihrem je individuellen Tätigwerden doch schon vorausge-setzt sein, wie anders könnte sie sonst zum allgemeinen Medium taugen?
Das ist der Widerspruch der Wissenschaftslehre. Er manifestiert sich darin, dass Fichte von Anbeginn schwankt zwischen einem kritisch pragmatischen und einem dogmatisch substanziellen Vernunftbegriff.
Dabei hält er den Schlüssel schon in der Hand. "Dieser Begriff der Selbstheit der Person ist nicht möglich ohne Begriff von einer Vernunft außer uns; dieser Begriff wird also auch konstruiert durch Herausgreifen aus einer höheren, weiteren Sphäre. Die erste Vorstellung, die ich haben kann, ist sie Aufforderung meiner als Individuum zu einem freien Wollen."*
Schlechthin-tätig ist das Ich 'an sich', dazu bedarf es keiner Aufforderung. Zum Bestimmen muss es aufgefordert werden – vom Unbestimmten zum Bestimmten fortzuschreiten. Bestimmen heißt einer Sache einen Zweck zurechnen. "Der Zweck wird uns in der Aufforderung gegeben, also die individuelle Vernunft lässt sich aus sich selbst nicht erklären. ... Doch wird uns der Zweck nicht als Bestimmtes, sondern überhaupt der Form nach gegeben, etwas, woraus wir wählen können. ... Kein Individuum kann sich aus sich selbst erklären. Wenn man also auf ein erstes Individuum kommt, worauf man kommen muss, so muss man auch ein noch höheres unbegreifliches Wesen annehmen."**
Der Zweckbegriff ist die Grundform des Begriffs: Begreifen heißt die Sache einem Zweck zuordnen. Die Tätigkeiten der Subjekte durch Begriffe regulieren heißt Zwecke miteinander vereinbaren. So geschah es schon, als das Ich in die Welt trat, wo es eine 'Reihe vernünftiger Wesen' bereits vorfand; sie ist das unbegreifliche höhere Wesen. Die Aufforderung erging in dem Moment, als das Ich in die Reihe eintrat und sich damit zum Individuum bestimmte. Seine Teilhabe an der Vernünftigkeit ist von Anfang an vermittelt durch die der Andern. Sie ist selber Vermittlung. 'Vernunft' nennen wir einen Zustand, in dem das Handeln Aller vernünftig ist. Vernunft als Zu-stand ist keine Sache, sondern ein tätiges Verhältnis – die Verkehrsweise einer 'Reihe vernünftiger Wesen'; ist nicht bestimmt, sondern allezeit sich-selbst-bestimmend.
Aufgekommen ist sie gegen Mitte des 17. Jahrhunderts.
*) Nova Methodo, S. 177
**) ebd., S. 178
Heroischer Nihilismus.
F. Català-Roca
Nein, es war nicht der Vorwurf des Atheismus, der Fichte ins Bockshorn gejagt hat; den hatte er souverän und reinen Gewissens von sich gewiesen. Es war vielmehr Jacobis Einwand, dass die Wissenschaftslehre in Absicht der Lebensführung nur einen Nihilismus zeitigen könnte. Wenn die Philosophie in ihrer vernünftigsten Form – und als diese erkannte er die Wissenschaftslehre – zu dieser Konsequenz führe, dann sei die Philosophie – je-denfalls in ihrer vernünftigsten Form – zu verwerfen. Dem wusste Fichte nichts entgegenzusetzen, und er fing zu schlingern an.
Jacobi hatte Recht, aber mir macht er nicht bange. Wenn der Nihilismus ein heroisch-ästhetischer ist, sei er mir willkommen. Das Wahre ist an sich schön, es ist nicht darauf angewiesen, sich irgendwem nützlich zu machen.
Nota.- Die obigen Fotos gehören mir nicht. Wenn nicht anders angezeigt, habe ich sie im Internet gefunden. Sollten Sie einer der Eigentümer sein und deren Verwendung sn dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Mitteilung auf diesem Blog.
JE
Nein, es war nicht der Vorwurf des Atheismus, der Fichte ins Bockshorn gejagt hat; den hatte er souverän und reinen Gewissens von sich gewiesen. Es war vielmehr Jacobis Einwand, dass die Wissenschaftslehre in Absicht der Lebensführung nur einen Nihilismus zeitigen könnte. Wenn die Philosophie in ihrer vernünftigsten Form – und als diese erkannte er die Wissenschaftslehre – zu dieser Konsequenz führe, dann sei die Philosophie – je-denfalls in ihrer vernünftigsten Form – zu verwerfen. Dem wusste Fichte nichts entgegenzusetzen, und er fing zu schlingern an.
Jacobi hatte Recht, aber mir macht er nicht bange. Wenn der Nihilismus ein heroisch-ästhetischer ist, sei er mir willkommen. Das Wahre ist an sich schön, es ist nicht darauf angewiesen, sich irgendwem nützlich zu machen.
Nota.- Die obigen Fotos gehören mir nicht. Wenn nicht anders angezeigt, habe ich sie im Internet gefunden. Sollten Sie einer der Eigentümer sein und deren Verwendung sn dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Mitteilung auf diesem Blog.
JE
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen