Montag, 30. Juni 2014

Die Wissenschaftslehre ist realistisch.


Courbet, Zwei Ringer

Der letzte Grund aller Wirklichkeit für das Ich ist demnach nach der Wissenschaftslehre eine ursprüngliche Wechselwirkung zwischen dem Ich und irgend einem Etwas ausser demselben, von welchem sich weiter nichts sagen lässt, als dass es dem Ich völlig entgegengesetzt seyn muss. In dieser Wechselwirkung wird in das Ich nichts gebracht, nichts fremdartiges hineingetragen; alles was je bis in die Unendlichkeit hinaus in ihm sich entwickelt, entwickelt sich lediglich aus ihm selbst nach seinen eigenen Gesetzen; das Ich wird durch jenes Entgegengesetzte bloss in Bewegung gesetzt, um zu handeln, und ohne ein solches erstes bewegendes ausser ihm würde es nie gehandelt, und, da seine Existenz bloss im Handeln besteht, auch nicht existirt haben. Jenem bewegenden kommt aber auch nichts weiter zu, als dass es ein bewegendes sey, eine entgegengesetzte Kraft, die als solche auch nur gefühlt wird.

Das Ich ist demnach abhängig seinem Daseyn nach; aber es ist schlechthin unabhängig in den Bestimmungen dieses seines Daseyns. Es ist in ihm, kraft seines absoluten Seyns, ein für die Unendlichkeit gültiges Gesetz dieser Bestimmungen, und es ist in ihm ein Mittelvermögen, sein empirisches Daseyn nach jenem Gesetze zu bestimmen. Der Punct, auf welchem wir uns selbst finden, wenn wir zuerst jenes Mittelvermögens der Freiheit mächtig werden, hängt nicht von uns ab, die Reihe, die wir von diesem Puncte aus in alle Ewigkeit beschreiben werden, in ihrer ganzen Ausdehnung gedacht, hängt völlig von uns ab.

Die Wissenschaftslehre ist demnach realistisch. Sie zeigt, dass das Bewusstseyn endlicher Naturen sich schlechterdings nicht erklären lasse, wenn man nicht eine unabhängig von denselben vorhandene, ihnen völlig entgegengesetzte Kraft an nimmt, von der dieselben ihrem empirischen Daseyn nach selbst abhängig sind. Sie behaupte aber auch nichts weiter, als eine solche entgegengesetzte Kraft, die von dem endlichen Wesen bloss gefühlt, aber nicht erkannt wird. Alle mögliche Bestimmungen dieser Kraft, oder dieses Nicht-Ich, die in die Unendlichkeit hinaus in unserem Bewusstseyn vorkommen können, macht sie sich anheischig, aus dem bestimmenden Vermögen des Ich abzuleiten, und muss dieselbe, so gewiss sie Wissenschaftslehre ist, wirklich ableiten können.
 

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Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre,
SW Bd. I,
S. 279f.



 

Sonntag, 29. Juni 2014

Die Wissenschaftslehre gründet auf Erfahrung.


Charlotte Spiess  / pixelio.de

Nun sollte in unserer Voraussetzung das Ich ein Nicht-Ich setzen schlechthin und ohne allen Grund, d. i. es sollte sich selbst schlechthin und ohne allen Grund einschränken, zum Theil nicht setzen. Es müsste demnach den Grund sich nicht zu setzen, in sich selbst haben; es müsste in ihm seyn das Princip sich zu setzen, und das Princip sich auch nicht zu setzen. 

Mithin wäre das Ich in seinem Wesen sich selbst entgegengesetzt und widerstreitend; es wäre in ihm ein zwiefaches entgegengesetztes Princip, welche Annahme sich selbst widerspricht, denn dann wäre in ihm gar kein Princip. Das Ich wäre gar nichts, denn es höbe sich selbst auf. (Wir stehen hier auf einem Puncte, von welchem aus wir den wahren Sinn unseres zweiten Grundsatzes: dem Ich wird entgegengesetzt ein Nicht-Ich, und vermittelst desselben die wahre Bedeutung unserer ganzen Wissenschaftslehre deutlicher darstellen können, als wir es bis jetzt irgendwo konnten. 

Im zweiten Grundsatze ist nur einiges absolut; einiges aber setzt ein Factum voraus, das sich a priori gar nicht aufzeigen lässt, sondern lediglich in eines jeden eigener Erfahrung. Ausser dem Setzen des Ich durch sich selbst soll es noch ein Setzen geben. Dies ist a priori eine blosse Hypothese; dass es ein solches Setzen gebe, lässt sich durch nichts darthun, als durch ein Factum des Bewusstseyns, und jeder muss es sich selbst durch dieses Factum darthun; keiner kann es dem anderen durch Vernunftgründe beweisen. ...

/ ... Absolut aber und schlechthin im Wesen des Ich gegründet ist es, dass, wenn es ein solches Setzen giebt, dieses Setzen ein Entgegensetzen, und das Gesetzte ein Nicht-Ich seyn müsse. – Wie das Ich irgend etwas von sich selbst unterscheiden könne, dafür lässt kein höherer Grund der Möglichkeit irgend woher sich ableiten, sondern dieser Unterschied liegt aller Ableitung und aller Begründung selbst zum Grunde. Dass jedes Setzen, welches nicht ein Setzen des Ich ist, ein Gegensetzen seyn müsse, ist schlechthin gewiss: dass es ein solches Setzen gebe, kann jeder nur durch seine eigene Erfahrung sich darthun. Daher gilt die Argumentation der Wissenschaftslehre schlechthin a priori, sie stellt lediglich solche Sätze auf, die a priori gewiss sind; Realität aber erhält sie erst in der Erfahrung. Wer des postulirten Factums sich nicht bewusst seyn könnte – man kann sicher wissen, dass dies bei keinem endlichen vernünftigen Wesen der Fall seyn werde, – für den hätte die ganze Wissenschaft keinen Gehalt, sie wäre ihm leer; dennoch aber müsste er ihr die formale Richtigkeit zugestehen. 

Und so ist denn die Wissenschaftslehre a priori möglich, ob sie gleich auf Objecte gehen soll. Das Object ist nicht a priori, sondern es wird ihr erst in der Erfahrung gegeben; die objective Gültigkeit liefert jedem sein eigenes Bewusstseyn des Objects, welches Bewusstseyn sich a priori nur postuliren, nicht aber deduciren lässt. ...)

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Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre,
SW Bd. I,S.
252f.



Nota.
Ein solches Argument heißt eine vollständige Induktion.
JE


 

Samstag, 28. Juni 2014

An sich ist die Vernunft bloß praktisch...

...und nur in der Reflexion erscheint sie als theoretisch begründet:


Rainer Sturm  / pixelio.de

Das Ich setzt sich selbst, als beschränkt durch das Nicht-Ich. Von diesem  [Satz] lässt sich ein Gebrauch machen; und er muss angenommen werden als gewiss, denn er lässt sich aus dem [weiter] oben aufgestellten Satze ableiten.

Das Ich ist gesetzt zuvörderst als absolute, und dann als einschränkbare, einer Quantität fähige Realität, und zwar als einschränkbar durch das Nicht-Ich. Alles dies aber ist gesetzt durch das Ich; und dieses sind denn die Momente unseres Satzes. 


(Es wird sich zeigen, 

1) dass der letztere Satz den theoretischen Theil der Wissenschaftslehre begründe – jedoch erst nach Vollendung desselben, wie das beim synthetischen Vortrage nicht anders seyn kann.

2) Dass der erstere, bis jetzt problematische Satz den praktischen Theil der Wissenschaft begründe. Aber da er selbst problematisch ist, so bleibt die Möglichkeit eines solchen praktischen Theils gleichfalls problematisch. Hieraus geht nun

3) hervor, warum die Reflexion vom theoretischen Theile ausgehen müsse; ohngeachtet sich im Verfolg zeigen wird, dass nicht etwa das theoretische Vermögen das praktische, sondern dass umgekehrt das praktische Vermögen erst das theoretische möglich mache, (dass die Vernunft an sich bloss praktisch sey, und dass sie erst in der Anwendung ihrer Gesetze auf ein sie einschränkendes Nicht-Ich theoretisch werde). – Sie ist es darum, weil die Denkbarkeit des praktischen Grundsatzes sich auf die Denkbarkeit des theoretischen Grundsatzes gründet. Aber von der Denkbarkeit ist ja doch bei der Reflexion die Rede.

4) Geht daraus hervor, dass die Eintheilung der Wissenschaftslehre / in die theoretische und praktische, die wir hier gemacht haben, bloss problematisch ist; (aus welchem Grunde wir sie denn auch nur so im Vorbeigehen machen mussten, und die scharfe Grenzlinie, die noch nicht als solche bekannt ist, nicht ziehen konnten). Wir wissen noch gar nicht, ob wir den theoretischen Theil vollenden, oder ob wir nicht vielleicht auf einen Widerspruch stossen werden, der schlechthin unauslösbar ist; um soviel weniger können wir wissen, ob wir von dem theoretischen Theile aus in einen besonderen praktischen werden getrieben werden). 


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Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre,
SW Bd. I,S. 126f.
 


Nota
Und nie vergessen: Praktisch ist das, was durch Freiheit möglich ist.
JE

Freitag, 27. Juni 2014

Das Gefühl des Beifalls und des Missfallens.


J. Jordaens, Susanna und die Alten, Detail

Das Gefühl des Sehnens lässt sich nicht setzen ohne eine Befriedigung, auf die dasselbe ausgeht; und die Befriedigung nicht ohne Voraussetzung eines Sehnens, das befriedigt wird. Da wo das Sehnen aufhört und die Befriedigung angeht, da geht die Grenze.

6) Es fragt sich nur noch, wie die Befriedigung sich im Gefühl offenbare? – Das Sehnen entstand aus einer Unmöglichkeit des Bestimmens, weil es an der Begrenzung fehlte es war daher in ihm ideale Thätigkeit und Trieb nach Realität vereinigt. Sobald ein anderes Gefühl entsteht, wird 1) die geforderte Bestimmung, die vollkommene Begrenzung des X möglich, und geschieht wirklich, da der Trieb und / die Kraft dazu da ist; 2) eben daraus, dass sie geschieht, folgt, dass ein anderes Gefühl da sey. Im Gefühle an sich, als Begrenzung, ist gar kein Unterschied, und kann keiner seyn. Aber daraus, dass etwas möglich wird, was ohne Veränderung des Gefühls nicht möglich war, folgt, dass der Zustand des Fühlenden verändert worden. 3) Trieb und Handlung sind jetzt Eins und ebendasselbe; die Bestimmung, die der erstere verlangt, ist möglich, und geschieht. Das Ich reflectirt über dies Gefühl und sich selbst in demselben, als das bestimmende und bestimmte zugleich, als völlig einig mit sich selbst; und eine solche Bestimmung des Gefühls kann man nennen Beifall. Das Gefühl ist von Beifall begleitet.

7) Das Ich kann diese Uebereinstimmung des Triebes und der Handlung nicht setzen, ohne beide zu unterscheiden; es kann aber beide nicht unterscheiden, ohne etwas zu setzen, in welchem sie entgegengesetzt sind. Ein solches ist nun das vorhergegangene Gefühl, welches daher nothwendig mit einem Misfallen ( dem Gegentheile des Beifalls, der Aeusserung der Disharmonie zwischen dem Triebe und der Handlung) begleitet ist. – Nicht jedes Sehnen ist nothwendig von Misfallen begleitet, aber wenn dasselbe befriedigt wird, so entsteht Misfallen am vorigen; es wird schaal, abgeschmackt.

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Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre,
SW Bd. I, S. 324f.


 

Donnerstag, 26. Juni 2014

Setzen ist entgegensetzen.


 
Ich sagte dir: jetzt denke dich, und bemerke, dass dieses Denken ein Thun ist. Du musstest, um das verlangte zu vollziehen, dich losreissen von jener Ruhe der Contemplation, von jener Bestimmtheit deines Denkens, und dasselbe anders bestimmen; und nur inwiefern du dieses Losreissen und dieses Abändern der Bestimmtheit bemerktest, bemerktest du dich als thätig. Ich berufe mich hier lediglich auf deine eigene innere Anschauung; von aussen dir anzudemonstriren, was nur in dir selbst seyn kann, vermag ich nicht.

Das Resultat der gemachten Bemerkung wäre dieses: man / findet sich thätig, nur inwiefern man dieser Thätigkeit eine Ruhe (ein Anhallen und Fixirtseyn der inneren Kraft) entgegensetzt. (Der Satz, welches wir hier nur im Vorbeigehen erinnern, ist auch umgekehrt wahr: man wird sich einer Ruhe nicht bewusst, ohne eine Thätigkeit zu setzen. Thätigkeit ist nichts ohne Ruhe und umgekehrt. Ja, der Satz ist allgemein wahr, und wird im folgenden in dieser seiner allgemeinen Gültigkeit aufgestellt werden: Alle Bestimmung, was es nur sey, das bestimmt werde, geschieht durch Gegensatz. Hier sehen wir nur auf den vorliegenden einzelnen Fall.)

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Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, SW I, S. 531f. 





Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE     

Mittwoch, 25. Juni 2014

Sich hinwegreißen.


W. Busch

Du fandest im Vorstellen eines Objects, oder deiner selbst, dich thätig. Bemerke nochmals recht innig, was bei dieser Vorstellung der Thätigkeit in dir vorkam. – 

Thätigkeit ist Agilität, innere Bewegung; der Geist reisst sich selbst über absolut entgegengesetztes hinweg; – durch welche Beschreibung keinesweges etwa das unbegreifliche begreiflich gemacht, sondern nur an die in jedem nothwendig vorhandene Anschauung lebendiger erinnert werden soll. – 

Aber diese Agilität lässt sich nicht anders anschauen, und wird nicht anders angeschaut, denn als ein Losreissen der thätigen Kraft von einer Ruhe; und so hast du sie in der That angeschaut, wenn du nur wirklich vollzogen, was wir von dir verlangten.

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Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, SW I, S. 531 


Dienstag, 24. Juni 2014

Das Sittengesetz geben wir uns selber.


Karl-Heinz Laube, pixelio.de

...daß das Sittengesetz gar nicht so etwas ist, welches ohne alles Zutun in uns sei, sondern daß es erst durch uns selbst gemacht wird.  
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System der Sittenlehre nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, SW Bd. IV, S. 192



Nota.

Ein Kompass weist dir nicht den Weg. Er zeigt lediglich, wo Norden ist. Deinen Weg musst du schon selber finden.
JE

Montag, 23. Juni 2014

Übereinstimmung ist der Zweck der Vernunft.


Rainer Sturm  / pixelio.de

Religion zwar ist Angelegenheit aller Menschen, und jeder redet da mit Recht hinein und streitet: dies ist Bestimmung des Menschen und Anlage, um allmählich Übereinstimmung, den großen Zweck der Vernunft, hervorzubringen. 

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Rückerinnerungen, Antworten, Fragen [S. 136]
 


Nota I. 
Mit andern Worten - Vernunft ist immer da an ihrem Platz, wo Übereinstimmung angebracht ist. Alles andere liegt nicht in ihrem Zweck.

Nota II. 
Im sittlichen Bereich ist Übereinstimmung nicht nötig. Das Sittengesetz lautet: Tu das, was dein Gewissen dir gebietet, oder, mit andern Worten: Handle aus Freiheit. Aus Freiheit kann ich nicht handeln, wenn ich zuerst frage, was den andern ihr Gewissen gebiete, und mich mit ihnen darüber ins Benehmen setze. Es kommt auch gar nicht darauf an, ob es dasselbe gebiet, sondern darauf, dass es das Gewissen ist, das gebietet.
JE 


Sonntag, 22. Juni 2014

Der Begriff weist keinen Weg.


Siegfried Baier, pixelio.de

Er sagt: Ist das sittliche Gefühl von der Bildung der Vernunft nicht abhängig? /... Ich antworte ohne weiteres: So wie er die Begriffe nimmt, keineswegs. Die Vernunft, von der er hier redet, ist die theoretische, [die] des Erkenntnisvermögens. Dies sagt aus nur, daß und wie etwas sei: Von einem Handeln, einem Handelnsollen, einem Postulate liegt in ihr schlechterdings nichts, und ich möchte den Künstler sehen, der mir so etwas heraus- analysierte, wenn er es nicht erst hineinlegt.
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Rückerinnerungen, Antworten, Fragen [S. 140]



Samstag, 21. Juni 2014

Die Willensbestimmung ist stets das Gegenwärtige.


Hans Peter Dehn, pixelio.de

Die Willensbestimmung ist stets das Gegenwärtige, und sie ist unsre Sache. Es wird für die Möglichkeit ihrer selbst etwas vorausgesetzt, es wird in ihr etwas postuliert: Es wird mit ihr zugleich notwendig gedacht etwas schon geschehnes Vergangnes, und etwas erfolgen werdendes Zukünftiges.
 

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Die Bestimmung des Menschen, SW II, S. 167 



Nota.

Ganz richtig: Es wird postuliert eine Tat; ein Akt. Es wird postuliert, dass ich es, um meines selbstgesetzten Zweckes willen, drauf ankommen lasse. Und auf dem Drauf-ankommen-lassen liegt die Betonung, nicht auf dem, was dabei herauskommt. Meine Tat mag mir misslingen, aber darauf kommt es nicht an. Im Ernst versucht haben muss ich es.
JE

 

Freitag, 20. Juni 2014

Die einzige Grundkraft.


Urs Flükiger, pixelio.de 

Lediglich durch den Trieb ist der Mensch ein vorstellendes Wesen. Könnten wir ihm auch, wie einige Philosophen wollen, den Stoff seiner Vorstellungen durch die Objekte geben, die Bilder durch die Dinge von allen Seiten her auf ihn zuströmen lassen, so bedürfte es doch immer der Selbsttätigkeit, um dieselben aufzufassen und sie auszubilden zu einer Vorstellung. ... Es bedarf dieser Selbsttätigkeit, um diese Vorstellungen nach willkürlichen Gesichtspunkten zu ordnen: ... um sie wiederzuerkennen und von allen ähnlichen zu unterscheiden. ... Inwiefern der Trieb solchergestalt auf Erzeugung einer Erkenntnis ausgeht, in welcher Rücksicht wir ihn auch um der Deutlichkeit und der Kürze willen den Erkenntnistrieb nennen können, gleichsam, als ob er ein besonderer Grundtrieb wäre - welches er doch nicht ist; sondern er und alle besonderen Triebe und Kräfte, die wir noch so nennen dürfen, sind lediglich besondere Anwendungen der einzigen unteilbaren Grundkraft im Menschen... 
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Über Geist und Buchstab in der Philosophie. In einer Reihe von Briefen. in: SW VII, S. 278


Nota. - Fichtes Übereinstimmung in diesem Punkt ausgerechnet mit Herder dürfte dem einen so unerfreulich wie dem andern gewesen sein.
JE.




Donnerstag, 19. Juni 2014

Kein Begriff von meiner Pflicht.


Edwin Church, Meteor 1860

 ...ich kann sonach von dem, was ich sollte, keinen Begriff haben, ehe ich es wirklich tue.
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Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre, SW Bd. IV, S. 181


Nota.

Das kommt nun gar nicht überraschend. Denn meine Pflicht ist, frei zu handeln. Doch eben, wenn es aus Freiheit ist, kann ich es nicht begreifen; jedenfalls nicht vor dem Akt.
JE

 




Mittwoch, 18. Juni 2014

"Das Ensemble seiner gesellschaftlichen Verhältnisse..."



Es ist kein Mensch, der das Böse liebe, weil es böse ist; er liebt in ihm nur die Vortheile und Genüsse, die es ihm verheisset, und die es ihm in der gegenwärtigen Lage der Menschheit mehrentheils wirklich gewährt. So lange diese Lage fortdauert, so lange ein Preis auf das Laster gesetzt ist, ist eine gründliche Verbesserung der Menschen im Ganzen kaum zu hoffen. 

Aber in einer bürgerlichen Verfassung, wie sie seyn soll, wie sie durch die Vernunft gefordert wird, wie der Denker leicht sie beschreibt, ohnerachtet er bis jetzt sie nirgends findet, und wie sie sich unter dem ersten Volke, das sich wahrhaftig befreit, nothwendig bilden wird – in einer solchen Verfassung zeigt das Böse keine Vortheile, sondern vielmehr die sichersten Nachtheile, und durch die blosse Selbstliebe wird die Ausschweifung der Selbstliebe in ungerechte Handlungen unterdrückt.

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Die Bestimmung des Menschen, SW II, S. 276 


Nota.

"Die Umstände sind schuld" sagt er nicht direkt, den Einzelnen von seiner Verantwortung lossprechen lag nicht in seinem Sinn. Dass aber die sachlichen Bedingungen der Schlüssel zur Verbesserung der bürgerlichen Zustände sind und nicht die Erziehung der Einzelnen, war ihm, anders als Schiller, selbstverständlich. 

Dass die politische Verfassung einer Gesellschaft keine Sache der Moralität ist, war ihm ebenso klar; nur hat er es nicht immer so klar ausgesprochen.
JE



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Dienstag, 17. Juni 2014

Was an Tiefe verloren sein mag, wurde an Breite mehr als ausgeglichen.


 
Es ist die Bestimmung unseres Geschlechtes, sich zu einem einigen, in allen seinen Theilen durchgängig mit sich selbst bekannten, und allenthalben auf die gleiche Weise ausgebildeten Körper zu vereinigen. Die Natur, und selbst die Leidenschaften und Laster der Menschen haben von Anfang an gegen / dieses Ziel hingetrieben; es ist schon ein grosser Theil des Weges zu ihm zurückgelegt, und es lässt sich sicher darauf rechnen, dass dasselbe, die Bedingung der weiteren gemeinschaftlichen Fortschritte, zu seiner Zeit erreicht seyn werde. 

Befrage man doch die Geschichte nicht, ob die Menschen im Ganzen rein sittlicher geworden! Zu ausgedehnter, umfassender, gewaltiger Willkür sind sie herangewachsen; aber beinahe wurde es nothwendig durch ihre Lage, dass sie diese Willkür fast nur zum Bösen anwendeten. Befrage man sie ebensowenig, ob die auf einige wenige Puncte zusammengedrängte ästhetische Bildung und Verstandes-Cultur der Vorwelt nicht die der neueren Welt dem Grade nach übertroffen haben möchte! Es könnte kommen, dass man eine beschämende Antwort erhielte, und dass in dieser Rücksicht das Menschengeschlecht durch sein Alter nicht vorgerückt, sondern zurückgekommen zu seyn schiene. 

Aber befrage man sie, diese Geschichte, in welchem Zeitpuncte die vorhandene Bildung am weitesten ausgebreitet, und unter die mehrsten Einzelnen vertheilt gewesen; und man wird ohne Zweifel finden, dass vom Anfange der Geschichte an bis auf unsere Tage die wenigen lichten Puncte der Cultur sich von ihrem Mittelpuncte aus erweitert, und einen Einzelnen nach dem anderen, und ein Volk nach dem anderen ergriffen haben, und dass diese weitere Verbreitung der Bildung unter unseren Augen fortdauere.

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Die Bestimmung des Menschen, SW II, S. 270f.


Nota.

Es sei aber nicht verschwiegen, dass in der Sache Fichtes "a priori" entworfene Geschichtsmetaphysik manchen sehr viel moderneren Anschauungen beherzt vorgreift. Manchmal hat man den Eindruck, Karl Marx müsse Fichte aufmerksam studiert haben - was er mit Sicherheit nicht getan hat. Doch manche Themen, die Fichte angerissen hatte, sind anscheinend in der Luft - vielleicht auch nur der Luft der Berliner Universität - hängen-geblieben.
JE




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Montag, 16. Juni 2014

Aus dem Weltzweck deduziertes politisches Programm.


gabriele Planthaber, pixelio.de

Die Opfer, welche die unregelmässige Gewaltthätigkeit der Natur von der Vernunft zieht, müssen jene Gewaltthätigkeit wenigstens ermüden, ausfüllen, und versöhnen. Die Kraft, welche ausser der Regel geschadet hat, kann es auf diese Weise nicht mehr sollen, sie kann nicht bestimmt seyn, sich zu erneuern, sie muss durch Einen Ausbruch von nun an auf ewig verbraucht seyn. Alle jene Ausbrüche der rohen Gewalt, vor welchen die menschliche Macht in Nichts verschwindet, jene verwüstenden Orkane, jene Erdbeben, jene Vulkane können nichts Anderes seyn, denn das letzte Sträuben der wilden Masse gegen den gesetzmässig fortschreitenden, belebenden und zweckmässigen Gang, zu welchem sie ihrem eigenen Triebe zuwider gezwungen wird – nichts, denn die letzten erschütternden Striche der sich erst / vollendenden Ausbildung unseres Erdballes. 

Jener Widerstand muss allmählig schwächer, und endlich erschöpft werden, da in dem gesetzmässigen Gange nichts liegen kann, das seine Kraft erneuere; jene Ausbildung muss endlich vollendet, und das uns bestimmte Wohnhaus fertig werden. Die Natur muss allmählig in die Lage eintreten dass sich auf ihren gleichmässigen Schritt sicher rechnen und zählen lasse, und dass ihre Kraft unverrückt ein bestimmtes Verhältniss mit der Macht halte, die bestimmt ist, sie zu beherrschen, – mit der menschlichen. – 

Inwiefern dieses Verhältniss schon ist, und die zweckmässige Ausbildung der Natur schon festen Fuss gewonnen hat, soll das Menschenwerk selbst, durch sein blosses Daseyn, und durch seine, von der Absicht seines Werkmeisters unabhängigen Wirkungen wiederum in die Natur eingreifen, und ein neues belebendes Princip in ihr darstellen. Angebaute Länder sollen den trägen und feindseligen Dunstkreis der ewigen Wälder, der Wüsteneien, der Sümpfe beleben und mildern; geordneter und mannigfaltiger Anbau soll rund um sich her neuen Lebens- und Befruchtungs-Trieb in die Lüfte verbreiten, und die Sonne soll ihre belebendsten Strahlen in diejenige Atmosphäre ausströmen, in welcher ein gesundes, arbeitsames und kunstreiches Volk athmet. – 

Im Andrange der Noth zuerst geweckt, soll späterhin besonnener und ruhig die Wissenschaft eindringen in die unverrückbaren Gesetze der Natur, die ganze Gewalt dieser Natur übersehen, und ihre möglichen Entwicklungen berechnen lernen soll eine neue Natur im Begriffe sich bilden, und an die lebendige und thätige eng sich anschmiegen, und auf dem Fusse ihr folgen. Und jede Erkenntniss, welche die Vernunft der Natur abgerungen, soll aufbehalten werden im Laufe der Zeiten, und Grundlage neuer Erkenntniss werden für den gemeinsamen Verstand unseres Geschlechts. 

So soll uns die Natur immer durchschaubarer, und durchsichtiger werden bis in ihr geheimstes Innere, und die erleuchtete und durch ihre Erfindungen bewaffnete menschliche Kraft soll ohne Mühe dieselbe beherrschen, und die einmal gemachte Eroberung friedlich behaupten. Es soll allmählig keines grösseren Aufwandes an mechanischer Arbeit / bedürfen, als ihrer der menschliche Körper bedarf zu seiner Entwicklung, Ausbildung und Gesundheit, und diese Arbeit soll aufhören Last zu seyn; – denn das vernünftige Wesen ist nicht zum Lastträger bestimmt.

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Die Bestimmung des Menschen, SW II, S. 304


Nota.

Hier wird sichtbar, dass Fichtes Wendung im schlechtesten Sinn dogmatisch, im schlechtesten Sinn metaphysisch war. Aus bloßer Spekulation - dder Projektion eines einmal erreicht sein werdenden Vernunftzustands - werden praktische Konsequenzen für die gesellschaftliche Lebensführung gezogen; wird ein politisches Programm 'deduziert'. Das war für spätere Generationen ein ganz schlechtes Beispiel  - wie gut oder schlecht besagtes Programm ansonsten auch sein mag, und es ist eine faule Ausflucht, es lediglich "dem Zeitgeist" anzulasten. Die Prämisse war dogmatisch, wie soll die Konsequenz nicht dogmatisch sein?
JE

Sonntag, 15. Juni 2014

Ursprünglich ist nur Materie.


Harald Schottner, pixelio.de

…es ist nicht möglich, auf den Raum zu reflektieren, ohne auf das Objekt, das im Raume ist, zu reflektieren; denn der Raum ist die subjektive Bedingung des Objekts, und der Raum ist bedingt durch die Reflexion auf das Objekt. Es ist nicht möglich, auf das Objekt zu reflektieren, ohne auf den Raum, aber es gibt auch keinen Raum ohne Objekt, sonach sind beide im Bewusstsein notwendig vereinigt; ursprünglich ist kein Objekt und kein Raum gegeben allein, sondern zugleich. Objekt im Raum aber heißt Materie; folglich ist ursprünglich Materie.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Nachschrift K. Chr. Fr. Krause, Hamburg 1982, S. 112


Nota. - Dass der 'Raum' durch Materie (bzw. Energie) gebildet wird, ist eine moderne Auffassung.
JE 

Samstag, 14. Juni 2014

Vom transzendentalen Standpunkt.


André Kertész, 1929

Die soeben beschriebene... Philosophie steht auf dem transzendentalen Standpunkt und sieht von diesem auf den gemeinen Gesichtspunkt herab; das ist das Wesen der transzendentalen Philosophie, dass sie nicht will Denkart im Leben werden, sondern zusieht einem Ich, welches im Leben ein Denksystem zustandebringt, sie schafft selbst nichts. Dieses Ich steht auf dem gemeinen Standpunkt. ... 

Der Mensch kann sich auf den transzendentalen Standpunkt erheben nicht als Mensch, sondern als spekulativer Wissenschaftler. Es entsteht für die Philosophie selbst ein Anstoß, in ihr ihre eigene Möglichkeit zu erklären. Was gibts für einen Übergang zwischen beiden Gesichtspunkten; - Frage über die Möglichkeit der Philosophie. Beide Gesichtspunkte sind sich ja gerade entgegengesetztes. Gibts nicht ein Mittleres, so ist nach unsern eignen Grundsätzen kein Mittel, zu ihm über/zugehen. Es ist faktisch bewiesen, dass es so ein Mittleres gibt zwischen der transzendentalen und der gemeinen Ansicht: dieser Mittelpunkt ist die Ästhetik. Auf dem gemeinen Gesichtspunkt erscheint die Welt als gegeben, auf dem transzendentalen [als] gemacht (alles in mir), auf dem ästhetischen erscheint sie als gegeben so als ob wir sie gemacht hätten und wie wir selbst sie machen würden. 


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Wissenschaftslehre nova methodo, Nachschrift K. Chr. Fr. Krause, Hamburg 1982, S. 243f.






Freitag, 13. Juni 2014

Als ob ich die Welt selber gemacht hätte.



Franz Gertsch, Bromelia,Guadeloupe 2012 

Ich mache mich deutlicher. Auf dem transzendentalen / Gesichtspunkt wird die Welt gemacht, auf dem gemeinen ist sie gegeben: auf dem ästhetischen ist sie gegeben, aber nur nach der Ansicht, wie sie gemacht ist. Die Welt, die wirkliche Welt, die Natur, denn nur von ihr rede ich, - hat zwei Seiten: sie ist [1.] Produkt unserer Beschränkung; sie ist [2.] Produkt unseres freien, es versteht sich, idealen Handelns (nicht etwa unserer reellen Wirksamkeit). In der ersten Ansicht ist sie selbst allenthalben beschränkt, in der letzten selbst allenthalben frei. Die erste Ansicht ist gemein, die zweite ästhetisch. ... 


Wer der ersten Ansicht nachgeht, der sieht nur verzerrte, gepreßte, ängstliche Formen; er sieht die Häßlichkeit; wer der letzten nachgeht, der sieht kräftige Fülle der Natur, er sieht Leben und Aufstreben; er sieht die Schönheit. So bei dem Höchsten. Das Sittengesetz gebietet absolut, und drückt alle Naturneigung nieder. Wer es so sieht, verhält sich zu ihm als Sklav. Aber es [das Sittengesetz] ist zugleich das Ich selbst; es kommt aus der inneren Tiefe unseres eigenen Wesens, und wenn wir ihm gehorchen, gehorchen wir nur uns selbst. Wer es so ansieht, sieht es ästhetisch an. Der schöne Geist sieht alles von der schönen Seite; er sieht alles frei und lebendig. ...

 Wo ist die Welt des schönen Geistes? Innerlich in der Menschheit, und sonst nirgends. Also: die schöne Kunst führt den Menschen in sich selbst hinein, und macht ihn da einheimisch. Sie reißt ihn los von der gegebenen Natur, und stellt ihn selbständig und für sich allein hin. ... Ästhetischer Sinn ist nicht Tugend: denn das Sittengesetz fordert Selbständigkeit nach Begriffen, der erstere aber kommt ohne alle Begriffe von selbst. Aber er ist Vorbereitung zur Tugend, er bereitet ihr den Boden, und wenn die Moralität / eintritt, so findet sie die halbe Arbeit, die Befreiung aus den Banden der Sinnlichkeit, schon vollendet. Ästhetische Bildung hat sonach eine höchst wirksame Beziehung auf die Beförderung des Vernunftzwecks...

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Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre, SW Bd. IV, S. 353ff.


Donnerstag, 12. Juni 2014

Den gesunden Menschenverstand freisetzen.



Da werden sie sagen: dies lehrt ja der gesunde Menschenverstand schon. – Sie haben ganz recht. Das soll er auch. Es ist ja gar nicht die Frage, durch unsre Philosophie etwas neues hervorzubringen: den menschlichen Geist zu erweitern; wir wollen ihn ja nur befreien.
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Rückerinnerungen, Antworten, Fragen. [S. 184]



Mittwoch, 11. Juni 2014

Echter durchgeführter Kritizismus.


Günter Havlena  / pixelio.de 

Was mein System eigentlich sey, und unter welche Klasse man es bringen könne, ob ächter durchgeführter Kriticismus, wie ich glaube, oder wie man es sonst nennen wolle...
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Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre,
SW Bd. I, S. 89


…das Prinzip der reflektierenden Urteilskraft kann also kein andres sein, als dieses: das Mannigfaltige der empirischen Wahrnehmung so zu beurteilen, als ob es unter gewissen Sätzen der Einheit stehe, die ihm ein anderer Verstand in der Absicht gegeben habe, um eine zusammenhängende Erfahrung aus denselben für uns möglich zu machen. ...

Nun aber wird durch dieses Prinzip der Urteilskraft ein solcher Verstand so wenig vorausgesetzt, dass es vielmehr vor’s erste sehr denkbar ist, ein solches Verhältnis unter den Mannigfaltigen der empirischen Wahrnehmung sei gar nicht anzutreffen, und dass wenn etwas dergleichen angetroffen wird, es uns sehr zufällig scheint: die Urteilskraft setzt dadurch gar nichts über ein Objekt außer sich fest, sondern sie gibt durch dieses Prinzip nur sich selbst ein subjektives Gesetz von hypothetischer Gültigkeit; wie sie verfahren müsse, wenn sie dieses Mannigfaltige in eine systematische Erfahrung ordnen wolle, und wie dieses Mannigfaltige sich müsse betrachten lassen, wenn uns eine Erkenntnis desselben möglich sein solle. Sie setzt also keinen Zweck der Natur voraus, sondern sie macht es sich nur zur Bedingung der Möglichkeit einer zu erwerbenden Erfahrung, dass die Objekte der in der Natur sich als übereinstimmend mit derjenigen Beschaffenheit der Dinge müssen betrachten lassen, welche nur nach Zwecken möglich ist. 
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Versuch eines erklärenden Auszugs [aus der 'Kritik der Urteilskraft'] GA II/1, S. 333; Rechtschreibung angepasst



Nota. - Das ist das ursprüngliche Programm der Wissenschaftslehre: echter durchgeführter Kritizismus, der auch das Allerheiligste nicht auslässt - die Vernunft und ihre Herkunft. Und es ist ihm vor’s erste sehr denkbar, dass sich da manches gar nicht 'antreffen' ließe, sondern nur gedacht werden müsse als ob.

- Ich höre schon den Einwand: In dem Erklärenden Auszug ist von der theoretischen Annahme eines Vernunft- zwecks der Natur die Rede, die allerdings nur fiktional und 'regulativ' sein kann; bei der von mir beanstandeten dogmatischen Wendung gehe es aber um den Zweck der Vernunft selbst, und der liege im praktischen Feld, aus dem er auch herkommt. Aber das ist Haarspalterei. Denn jedesmal geht es um die Fiktion von einer Prämisse, "die ihm ein anderer Verstand in der Absicht gegeben habe"...; und dieser andere Verstand wäre hier die Vernunft selbst als handelndes Subjekt, intellectus agens, das sein Urteil 'an sich' schon immer gefällt hat und dessen Spruch die endlich-Vernünftigen nur noch vernehmen können. - Wie sehr diese Auslegung in Fichtes 'gewendetem' Sinne ist, erhellt aus den höchst zweideutigen Ausführungen zur Freiheit des Willens in den ersten beiden Vorlesungen An die deutsche Nation.
JE


Dienstag, 10. Juni 2014

Die unvollkommene Darstellung.


Dürer, Kopfmodell

Die Darstellung erkläre ich selbst für höchst unvollkommen und mangelhaft, theils weil sie für meine Zuhörer, wo ich durch den mündlichen Vortrag nachhelfen konnte, in einzelnen Bogen, so wie ich für meine Vorlesungen eines bedurfte, erscheinen musste; theils weil ich eine feste Terminologie – das bequemste Mittel für Buchstäbler, jedes System seines Geistes zu berauben, und es in ein trockenes Geripp zu verwandeln – so viel möglich zu vermeiden suchte. Ich werde dieser Maxime auch bei künftigen Bearbeitungen des Systems, bis zur endlichen vollendeten Darstellung desselben, treu bleiben. Ich will jetzt noch gar nicht zubauen, sondern möchte nur das Publicum veranlassen, mit mir den künftigen Bau zu überschlagen. Man wird aus dem Zusammenhange erklären, und sich erst eine Uebersicht des Ganzen verschaffen müssen, ehe man sich einen einzelnen Satz scharf bestimmt; eine Methode, die freilich den guten Willen voraussetzt, dem Systeme / Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, nicht die Absicht, nur Fehler an ihm zu finden. ...

Besonders halte ich für nöthig zu erinnern, dass ich nicht alles sagen, sondern meinem Leser auch etwas zum Denken überlassen wollte. Es sind mehrere Misverständnisse, die ich sicher voraussehe, und denen ich mit ein paar Worten hätte abhelfen können. Ich habe auch diese paar Worte nicht gesagt, weil ich das Selbstdenken unterstützen möchte. Die Wissenschaftslehre soll sich überhaupt nicht aufdringen, sondern sie soll Bedürfniss seyn, wie sie es ihrem Verfasser war. 

Die künftigen Beurtheiler dieser Schrift ersuche ich auf das Ganze einzugehen, und jeden einzelnen Gedanken aus dem Gesichtspuncte des Ganzen anzusehen. ...
 

Ich kann zu Folge der Erfahrung, dass ich beim dreimaligen Durcharbeiten dieses Systems meine Gedanken über einzelne Sätze desselben jedesmal anders modificirt gefunden, erwarten, dass sie bei fortgesetztem Nachdenken sich immer weiter verändern und bilden werden. Ich werde selbst am sorgfältigsten daran arbeiten, und jede brauchbare Erinnerung; von anderen wird mir willkommen seyn. – 

Ferner, so innig ich überzeugt bin, dass die Grundsätze, auf welchen dieses ganze System ruht, unumstösslich sind, und so stark ich auch hier und da diese Ueberzeugung mit meinem vollen Rechte geäussert habe, so wäre es doch eine mir bis jetzt freilich undenkbare Möglichkeit, dass sie dennoch umgestossen würden. Auch das würde mir willkommen seyn, weil die Wahrheit dadurch gewinnen würde. Man lasse sich nur ein auf dieselben, und versuche es, sie umzustossen. 

Was mein System eigentlich sey, und unter welche Klasse man es bringen könne, ob ächter durchgeführter Kriticismus, wie ich glaube, oder wie man es sonst nennen wolle, thut / nichts zur Sache. Ich zweifle nicht, dass man ihm mancherlei Namen finden, und es mehrerer einander gerade zuwiderlaufenden Ketzereien beschuldigen werde. Dies mag man; nur verweise man mich nicht an alte Widerlegungen, sondern widerlege selbst.   

Jena zur Ostermesse 1796.
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Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, SW Bd. I, S. 87f., S. 89f.

 
Nota. - Zur "endlichen vollendeten Darstellung" seines Systems ist Fichte nicht gekommen. Weil er nicht genügend Zeit hatte? Je mehr Zeit er gefunden hätte, umso klarer hätte ihm werden müssen: Je systematischer sein Denken insgesamt würde, umso unmöglicher würde ihm eine systematische Darstellung.
JE