Ästhetik.





...weil Sie die Ausdehnung dessen, was ich vorläufig ästhetischen Trieb genannt habe, 
nicht vermuten... 
Fichte an Schiller, 27. 6. 1795


Nur der Sinn für das Ästhetische ist es...


Sehen Sie in diesem Beispiele eine kurze Geschichte der Entwickelung unseres ganzen ästhetischen Vermögens. Während der ruhigen Betrachtung, die nicht mehr auf die Erkenntnis dessen, was längst erkannt ist, absieht, sondern die gleichsam nochmal zum Überflusse an den Gegenstand geht, - entwickelt, unter der Ruhe der Wissbegierde und des befriedigten Erkenntnistriebes, in der unbeschäftigten Seele sich der ästhetische Sinn. ...

Nur der Sinn für das Ästhetische ist es, der in unserem Innern uns den ersten festen Standpunkt gibt; das Genie kehrt darin ein, und deckt durch die Kunst, die dasselbe begleitet, auch uns anderen die verborgenen Tiefen desselben auf.
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Über Geist und Buchstab in der Philosophie. In einer Reihe von Briefen. 
in: SW VII, S. 290, 291




Im Anschauen fühle ich mich frei und tätig.

Lothar Sauer

In der Anschauung fühlt das Ich sich nur als tätig; das Leiden des Ich wird ausgeschlossen, und so wird ein Objekt möglich.

Ich fühle mich beschränkt; von dieser Beschränktheit reiße ich mich nun los. Das Fühlen und Losreißen vom Gefühl geschieht in demselben ungeteilten Moment. Die ideale Tätigkeit kann nicht beschränkt werden. Wenn nun die reale beschränkt wird, so bleibt die ideale allein. Dieses isolierte Handeln ist Anschauen.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 82




Die Ästhetik des reinen Wollens.

 
Fichtes reines Wollen ist bestimmt als zweckhaft ohne Zweck. So ist nach Kant das Schöne: zweckmäßig, ohne dass ein Zweck an ihm erkennbar ist.

Man könnte sagen: gewollt, ohne gewollt zu sein. Man sollte folgern: Das reine Wollen ist an sich ästhetisch - vor aller Bestimmung.


*

Phänomenal ausgedrückt: Die ästhetische Betrachtung ist der vergebliche Versuch, zu bestimmen, wo es nichts zu bestimmen gibt. 

JE




Ein ästhetischer Trieb.
Thomas Max Müller  / pixelio.de

Der Erkenntnistrieb zielt ab auf Erkenntnis, als solche, um der Erkenntnis willen. ... Der praktische Trieb geht auf die Beschaffenheit des Dinges selbst, um seiner Beschaffenheit willen. ...nur daß im ersten Falle [Erkenntnistrieb] die Vorstellung sich nach dem Dinge, und im zweiten [prakt. Trieb] das Ding sich nach der Vorstellung richten soll. Ganz anders verhält es sich mit dem Triebe, den wir eben den ästhetischen nannten. Er zielt auf Vorstellungen, und auf bestimmte Vorstellungen ledigleich um ihrer Bestimmung und um ihrer Bestimmung als bloßer Vorstellung willen. Auf dem Gebiete dieses Triebes ist die Vorstellung ihr eigner Zweck... Ohne alle Wechselbstimmung mit einem Objekte steht eine solche Vorstellung isoliert, als letztes Ziel des Triebes, da, und wird auf keine Ding bezogen, nach welchem sie, oder welches sich nach ihr richte. 
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Über Geist und Buchstab in der PhilosophieIn einer Reihe von Briefen. in: SW VII, S. 279




Die Kunst macht den transzendentalen Gesichtspunkt zu dem gemeinen.

 Joshua Reynolds, Selbstbildnis

Die schöne Kunst bildet nicht, wie der Gelehrte, nur den Verstand, oder wie der moralische Volkslehrer, nur das Herz; sondern sie bildet den ganzen vereinigten Menschen. Das, woran sie sich wendet, ist nicht der Verstand, noch ist es das Herz, sondern es ist das ganze Gemüt in Vereinigung seiner Vermögen; es ist ein drittes, aus beiden zusammengesetztes. Man kann das, was sie tut, vielleicht nicht besser ausdrücken, als wenn man sagt: sie macht den transzendentalen Gesichtspunkt zu dem gemeinen. - 

Der Philosoph erhebt sich und andere auf diesen Gesichtspunkt mit Arbeit, und nach einer Regel. Der schöne Geist steht darauf, ohne es bestimmt zu denken; er kennt keinen anderen, und er erhebt diejenigen, die sich seinem Einfluß überlassen, ebenso unvermerkt zu ihm, daß sie des Übergangs nicht bewußt werden. 
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System der Sittenlehre [1798] SW IV, S. 353




Ästhetische Philosophie.


Auf dem gemeinen Standpunkt erscheint die Welt als gegeben, auf dem transzendentalen [als] gemacht, (alles in mir), auf dem ästhetischen erscheint sie als gegeben, so als ob wir sie gemacht hätten und wie wir selbst sie machen würden. (vid. Sittenlehre von den Pflichten des ästhetischen Künstlers.)

Der Wille erscheint dem ästhetischen Sinne frei; dem gemeinen als Produkt des Zwangs, z. B. jede Begrenzung im Raume ist Resultat der Begrenztheit des Dinges durch andere, denn sie werden dabei gepresst; jede Ausbreitung ist auch Resultat des inneren Aufstrebens der Körper, allenthalben Fülle, Freiheit, ersterer ist unästhetisch, letzter ist der ästhetische.

Das ist der ästhetische Sinn, aber die Wissenschaft ist etwas anderes. Die Wissenschaft ist der Form nach transzendental, sie ist Philosophie, sie beschreibt die ästhetische Ansicht, in solcher Ästhetik muss nicht ein schöner Geist sein; die ästhetische Philosophie ist ein Hauptteil der Wissenschaft und ist der ganzen anderen Philosophie, die man die reelle nennen könnte, entgegengesetzt. 

Der Einteilungsgrund ist der Gesichtspunkt, welcher entgegengesetzt ist. In materialer Ansicht liegt sie zwischen theoretischer und praktischer Philosophie in der Mitte. Sie fällt nicht mit der Ethik zusammen, denn unserer Pflichten sollen wir uns bewusst werden; allein die ästhetische Ansicht ist natürlich und instinktmäßig und dependiert nicht von der Freiheit. 

Dieser Gesichtspunkt ist es, durch den man sich zum transzendentalen erhebt; so folgt, dass der Philosoph ästhetischen Sinn, d. h. Geist haben müsse; er ist deshalb nicht notwendig ein Dichter, Schönschreiber, Schönredner; aber derselbe Geist, durch dessen Ausbildung man ästhetisch wird, derselbe Geist muss den Philosophen beleben, und ohne diesen Geist wird man es in der Philosophie nie zu etwas bringen; sonst plagt man sich mit dem Buchstaben und dringt nicht in des Innere.

Finitum d. 14. März 1799
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 244



Nota. - Dieser zweite Vortrag der Wissenschaftslehre "nach neuer Methode" endete Mitte März 1799. Da war der Atheismusstreit längst in vollem Gange. Noch zu diesem fortgeschrittenen Zeitpunkt schließt Fichte die Darstellung seiner prima philosophia so, dass kein Zweifel bleibt: als nächstes ist die Ausarbeitung der "ästhetischen Philosophie" als ein "Hauptteil" seines spekulativen Geschäfts vorgesehen. Die von Giorgia Cecchinato* dazu zusammengetragenen philologischen Daten lassen wenig Raum für andere Deutungen. 

Wenige Tage nach Abschluss der Vorlesung reichten Fichte und Niethammer ihre jeweiligen "Verantwortungsschriften" gegen den Atheismus-Vorwurf beim weimarischen Ministerium ein. Dass die Angelegenheit bis zur Entfernung Fichtes von seinem Lehrstuhl führen würde, war noch nicht abzusehen. Die aber hat dann alle andern Pläne umgestoßen.

Ob Fichte bei der Ausarbeitung seiner Ästhetik zu dem Schluss gelangt wäre, die Ethik der Ästhetik als einen Spezialfall unterzuordnen, wie Herbart es später tat, steht in den Sternen. Es hätte seine Logik, und Herbart dürfte seine eigenen Ergebnisse aus der Auseinandersetzung mit Fichtes Sittenlehre gewonnen haben. 

Der entscheidende Punkt ist: Auch die Ethik gebietet, wie die Ästhetik, immer "einzeln und unmittelbar", und diesen Punkt hat nicht nur Herbart, sondern vor ihm schon Novalis aus Fichtes Vortrag herausgehört. Allgemeine Gesetze sind der Moralität sowohl für Herbart als für Novalis direkt entgegengesetzt. Was anders als diese kann Fichte aber gemeint haben, wenn er oben sagt: "unserer Pflichten sollen wir uns bewusst werden"? Denn dass ich mir im gegebenen Moment dessen, was ich unmittelbar soll, 'bewusst' werde und mir 'einen Begriff davon' mache, liegt ja auf der Hand, aber das ist beim Ästhetischen auch nicht anders.

Und ob sich Fichte zu dem Entschluss hätte durchringen mögen, das Wahre-Absolute-Unbedingte als eine ästhetische Idee aufzufassen, ist noch weniger gewiss. Logisch gibt es eigentlich keinen andern Weg, aber das Herz kennt manchmal Gründe, von denen der Verstand nichts ahnt.
JE

*) Giorgia Cecchinato, Fichte und das Problem einer Ästhetik, Würzburg 2009



Am Anfang des Bewusstsein steht ein ästhetisches Wahrnehmen.

É. Manet, 1867

Ein Bestimmbares durch meinen Willen gibts nur, in so fern wirklich im Bewusstsein ein bestimmter Wille da ist, denn das Bestimmbare ist nur durch das Bestimmte möglich, und letzteres ist bloß Resultat eines Übergehens aus der bloßen Bestimmbarkeit, und Bestimmbares ist eben das, wodurch übergegangen wird.

Diese beiden müssen schlechthin bestimmt sein. Hier ist leicht Irrtum möglich, nämlich im Fortgange eines schon angeknüpften Bewusstsein lässt sich ein Bestimmbares denken, ohne daraus zu wählen; aber beim An-fange des Bewusstseins ist eine solche Abstraktion nicht möglich.  – 
Bestimmbares und Bestimmtes müssen also notwendig eins sein. Folglich müsste mit jener Erkenntnis vom Objekte (dem Bestimmbaren für ein mögliches Wollen) ein empirisches Wollen unmittelbar im demselben Moment vereinigt sein. Uns im wirklichen Bewusstsein scheint Wahl und Dekret des Willens so, dass die Wahl dem Wollen vorhergeht. –

Hier geht das Bestimmbare dem Bestimmten voraus, aber indem ich wähle, weiß ich doch, dass ich wähle. Dies heißt nicht anderes, als dass ich meine Deliberation auf ein Wollen beziehe. Aber woher weiß ich denn, was Wollen heißt? Nur in wiefern ich schon gewollt habe. Diese Form des Wollens beziehe ich demnach auf die Wahl; das möglich Wollen kann ich nur durchs wirkliche Wollen kennen. Hier stehen wir am Anfang des Bewusstsein, wo die Form des Wollens nicht übergetragen werden kann; hier müsste Wollen und Deliberieren zusammenfallen.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 175


Nota. – Wollen und Deliberieren fallen zusammen im ästhetischen Wahrnehmen. Im Geschmacksurteil ist die Wahrnehmung selbst unmittelbar von einem Gefühl des Beifalls oder der Ablehnung begleitet. Es ist insofern unbegründet, aber es hat den ungemeinen Vorzug, dass es ist – und selber die Reihe wirklichen Wollens und Bestimmens begründet. (Zur Erinnerung: Die Wissenschaftslehre ist nicht die historische Erzählung davon, wie ein wirkliches Bewusstsein sich bildet, sondern das abstrakte Schema vollendeter Vernünftigkeit.)
JE


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