Die zwei Gänge der Wissenschaftslehre.


Im Grunde ist die Wissenschaftslehre nicht, wie es in Fichtes Darstellungen den Anschein hat, eine aufstei- gende Linie 'von einem Prinzip aus'. Das Prinzip musste ja erst aufgefunden werden, die Suche nach ihm macht den ganzen ersten Gang der Wissenschaftslehre aus - wenn er auch in ihr als solche gar nicht vorkommt: Es ist die Kant'sche Kritik, die Fichte selbstverständlich zu seinem Ausgangspunkt nimmt; die er aber weiterführt, hinter Kants Apriori zurück zur reinen Agilität des zu-denkenden Ich: eines reinen Wollens.

Bis da war die Kritik Reduktion. Von dort erst nimmt er die Arbeit an der Rekonstruktion des realen Bewusstseins auf - der tatsächlich sich Platz verschaffenden Vernunft.



Die zwei Gänge der Wissenschaftslehre.
Aivasovski

§ 17

Unsere Aufgabe ist längst die: die Bedingungen des Bewusstseins nach den schon bekannten Regeln zusammen zu setzen und das Bewusstsein vor unseren Augen gleichsam zu konstruieren, nur nicht wie der Geometer tut, der sich um die Frage, woher die Fähigkeit, Linien zu ziehen und Raum, herkomme, nicht bekümmert, dieser setzt schon Wissenschaftslehre voraus.


 Denn die Wissenschaftslehre muss das, womit sie //179// verfährt, sich selbst erkämpfen, und in dieser Rücksicht hat das System bestimmt zwei Teile. Bis dahin, wo gezeigt wurde, reiner Wille ist das wahre Objekt des Be- wusstseins, wurde ausgemittelt, womit verfahren werden sollte. Von da ging der andere Teil an. Wir konstruie- ren nun wirklich  wir haben nun Feld und Boden gewonnen und nun ein Verfahren zu schildern und anzu- wenden. Wir setzen so zusammen: 


Anfangs hatten wir bloße Erkenntnis als Anfangspunkt des Bewusstseins, dann setzten wir hinzu, dass diese nicht ohne ein Wollen möglich sei, i. e. nicht ohne etwas, das [von] dem Vernunftwesen als Wollen gesetzt wird, das nur Erscheinung sei. So ist demnach an das Erstgeschilderte etwas angeknüpft; wir müssen auch eine immer fortfließende Reihe des Bewusstseins beschreiben. 

Was ist denn nun eigentlich das Objekt, das außer uns angenommen werden soll? Hier ist zuerst die Rede von einen Herausgehen aus uns selbst; hier muss streng deduziert werden; den schon angefallenen Punkt müssen wir da näher bestimmen, was in der beschriebenen Erkenntnis für ein Objekt außer uns enthalten ist?
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 178f.


Nota I. - 'Zuerst' verfährt die Wissenschaftslehre analytisch, sie sucht: Von dem Bewusstsein, das sie (historisch) vorfindet, geht sie zurück auf dessen als notwendig eingesehenen Voraussetzungen. So gelangt sie zur Annah- me eines reinen Wollens als dem An-sich des Bewusstseins. Von da an verfährt sie synthetisch: Sie konstruiert, sie   re konstruiert – nämlich 'wie aus dem Wollen wirkliche Objekte außer uns entstehen'. Aus dem Kreis des Be- wusstseins tritt sie nirgends heraus.

Nota II. - Dies ist die richtige Stelle für eine Zäsur. Der transzendentale Sprung des 'reinen' Ich rückwärts vom vernünftigen Individuum zum Glied einer vernünftigen Reihe ist die entscheidende Klippe, die zu meistern war. Es ist auch die richtige Stelle, um zu erinnern: Es gilt darzustellen, wie das Bewusstsein des Vernunftwe- sens für sich wird, denn nur so wird es. Was in der Rekonstruktion als Voraussetzung erscheint, war in der Analy- se Resultat. Es findet eine ständige Verkehrung der Perspektive statt.
JE



Der Gegenstand der Wissenschaftslehre und ihre zwei Gänge. 
Idrac, Merkur

Der unmittelbare Gegenstand der Wissenschaftslehre ist das gemeine Bewusstsein. Sie hat ihn nicht gewählt, er ist ihr als solcher gegeben. 

Er ist gegeben als ein System von Begriffen. Als ein solches ist es Vernunft. Es ist eine Welt von Vorstellungen, die durch ihre Fassung in Begriffe mitteilbar ist, und allen Teilnehmern des Verunftverkehrs ist anzumuten, sie mit allen andern zu teilen. Die Teilnahme am Vernunftverkehr macht die Vernünftigkeit der Individuen aus; was anders als das Teilen von Vorstellungen könnte sinnvoller Weise Vernunft genannt werden? Dass sie es können, wissen wir, weil sie es tun.

Das ist die Gegebenheit.

Um zu verstehen, was sie ist, muss verstanden werden, woher sie kam – wie sie sich woraus entwickelt hat. Es gilt, die Entwicklung der Vorstellungen nach-zu-vollziehen, die von der Gemeinschaft der vernünftigen Wesen zu einem Begriffssystem gefasst wurden.

Nicht werden – etwa durch eidetische Reduktion – am Grunde der Begriffe die 'Wesen' geschaut, die in ihnen gefasst wurden. Vorstellungen sind nicht an-sich da. Sie können nur das Produkt einer Tätigkeit sein – des Vorstellens: einer stellt vor. Die Rekonstruktion ist eine genetische Konstruktion von einem ersten Akt aus – dem ersten Vorstellen. 

Ich stelle vor.

Darin ist ein Etwas enthalten, das vorgestellt wird, und ein Jemand, der vorstellt. Woher das Etwas, woher der Jemand? Sie können dem ersten Akt nicht vorausgesetzt werden, denn dann  wäre er kein erster Akt. Etwas und Jemand müssen aus und in diesem Akt selbst entstehen. 

'Das Ich setzt sich, indem es sich ein/em Nichtich entgegensetzt.'

Wo findet der Akt statt?

Diesen Ort wollen wir Einbildungskraft nennen; ein ursprünglich produktives Vermögen, das angenommen werden muss, wenn erklärt werden soll, was zu erklären ist – das Bewusstsein.

Woher stammt die?

Trieb. 

Woher dieser?

Wollen.

Bis hierher führt der analytische Vor-Gang der Wissenschaftslehre. Weiter muss sie nicht führen. Es ist das wirkliche Bewusstsein wirklicher Menschen, das erklärt werden soll. Wo das alles sich abspielt, gehört zu den Gegebenheiten. Es ist ein animal. Wie aus den organischen Trieben eines Angehörigen der Familie Homo ein freies Wollen werden konnte, muss nicht mehr die Wissenschaftslehre erklären. Es wäre Sache der – so oder so zu bestimmenden – Anthropologie. Der Wissenschaftslehre reicht es zu zeigen, dass es geschehen sein muss, und wo.

An der Stelle beginnt nun der synthetische Gang der Wissenschaftslehre.

Wollen und Vorstellen bilden eine Art Doppelhelix. Eins kann nicht ohne das andre. Der Kern der neueren Dialektik ist dies. Das Wollen ist in diesem Wechselspiel das gewissermaßen Reale, das Vorstellen ist sein ideales Gegenstück. Was das eine wirklich tut, 'stellt' das andere 'sich vor': Schaut es an. Im Anschauen erblickt es nicht nur das Getane, Produkt, sondern im Anschauen des Tuns erblickt es zugleich den Tuenden, Tätigen; "Ich". 

* 

Diese beiden Gänge reproduziert die Wissenschaftslehre auf Schritt und Tritt in ihrem reell-ideellen Fortgang: Das hat das Ich getan. - Was hat es getan, indem es...? - Das konnte es nur, wenn und sofern... 





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