Der Denkzwang.

 
Die ärgste Kopfnuss der Wissenschaftslehre bleibt, auch nach meiner Emendation, der von Fichte immer wieder angesprochene, aber nie thematisch ausgeführte Denkzwang. Das Prinzip der Wissenschaftslehre ist Freiheit, und in specie die Freiheit der Einbildungskraft. Sobald aber das freie Einbilden sich zum Denken dis- zipliniert, soll ihm ein Zwang widerfahren; ja woher denn der?

Entgegen landläufiger Auffassung ist der Ausgangspunkt der Wissenschaftslehre ein objektiver; nämlich die Gegenständlichkeit des Gegenstandes, die sich als Widerstand gegen die Tätigkeit des Ichs kundtut und als Gefühl wahrgenommen wird. Das Gefühl ist das Gegebene. Es ist objektiv. Es ist das, was einem Ich zu bestimmen bleibt. Es ist aber der Widerstand des Gegenstands, den das Ich als diesen oder jenen zu bestimmen hat. Den kann es sich nicht frei ausdenken, den muss es nehmen, wie er ihm gegeben ist. Es ist gezwungen, ihn so zu nehmen und nicht anders.

Soweit kein Problem.

Problematisch wird es aber, sobald im Denken selber, also schon nicht mehr im bloßen Fühlen des Widerstands, sondern in seiner Bestimmung als dieser oder jener, ein anders-kann-ich-nicht auftreten soll. Das ist nicht, wie der sinnliche Widerstand, eine Grenze meiner Freiheit, sondern ein Zwang, der ihr geschieht: ihre Aufhebung.




Wahrheit im Denkzwang?

Aber bin ich gezwungen, die Dinge so zu denken?

Ich kann von ihnen abstrahieren oder ich kann sie auch anders denken, also findet kein Denkzwang statt. Aber dann stelle ich das Ding nicht der Wahrheit gemäß dar; aber soll meine Vorstellung dem Dinge gemäß sein, so findet Denkzwang statt. Aber was ist denn das für eine Wahrheit, an die meine Vorstellung gehalten werden soll?


Es ist die Frage nach der Realität, die wir der Vorstellung zu Grunde legen. Unser eigenes Sein in praktischer Hinsicht ist die Wahrheit, es ist das unmittelbar Bestimmte, wovon sich weiter kein Grund angeben lässt. Die- ses unser eigenes Sein deuten wir durch ein Ding außer uns; dieses Ding außer uns ist seiner Wahrheit gemäß dargestellt, wenn es auf ein inneres Sein deutet. Aus einem Quantum Beschränktheit in mir folgt diese oder jene Beschränktheit außer mir.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 97

 

Nota. -  Was ist Wahrheit? Unser eigenes Sein - und zwar in praktischer Hinsicht - ist die Wahrheit. In prakti- scher Hinsicht heißt: in Bestimmung zu... Wozu ist mein Sein praktisch bestimmt? Zu unendlichem Übergehen vom Unbestimmten zum Bestimmten; bestimmt zu unendlichem Bestimmen. Nicht meine Bestimmtheit ist mit- hin die Wahrheit meines Seins, sondern das Übergehen. Das dürfte nun wohl als Kernsatz der Wissenschafts- lehre gelten - wenn nämlich einer so unklug wäre, sie lehren zu wollen.
 

In Hinblick auf das Gefühl - im folgenden Absatz kommt er darauf zurück - erhellt schonmal dies: Ein Denk- zwang und das entprechende Gefühl, genötigt zu sein, stellt sich nur ein, wenn ich den Vorsatz gefasst habe, 'wahr' zu denken. Aber den kann ich nur aus Freiheit fassen. Ein 'Leiden', ein Gefühl des Gezwungenseins kommt nur vor unter Bedingung eines vorausgegangenen Akts der Freiheit.  

Das ist nun ganz etwas anderes als das sinnliche Fühlen, von dem zuvor stets die Rede war. Er wird an Stelle der Anschauung des einzelnen Gefühls bei diesem bestimmten Denkakt den gesamten Zustand des ganzen artikulierten Organismus ins Spiel bringen müssen. Die Scheidung von sinnlich und intelligibel ginge verloren; nicht aber die von real und ideal.
JE



Begrenztheit und Wechselwirkung 

 uwe bachen

Die Begrenztheit, von der hier die Rede ist, ist der Denkzwang; etwas gerade so und nicht anders vorzustellen. Ich kann kein Ding außer mir bemerken, ohne mich selbst zu bemerken als bemerkend. Aber dass ich mich bemerke, hängt davon ab, dass ich ein Ding außer mir bemerke, weil ich dadurch beschränkt werde. Kein Ich ohne NichtIch und umgekehrt. -

Die Anschauung beider steht also in Wechselwirkung, eine ist nicht möglich ohne die andere; die eben aufgestellte Wechselwirkung dauert immer fort, wird nur weiter bestimmt. Hier ist die oben unbeantwortet gebliebene Frage beantwortet: Wie kann das Ich in der Anschauung sich selbst fühlen? Antwort: in wiefern es gezwungen, beschränkt ist.
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Wissenschaftslehre nova methodo,   Hamburg 1982,
S. 93




Nota. - Das ist wieder das kitzliche Thema Denkgesetz. Es ist das verbleibende Mysterium der Wissenschafts- lehre, nämlich das Paradox der Freiheit. Freiheit ist das Vermögen, absolut anzufangen. Doch kaum hat das Denken angefangen, erweist es sich als in allerlei Gesetze verfangen. Das wäre nur so zu verstehen, dass jeder Schritt, den es wirklich tut, von nun an in Ewigkeit gültig ist und auch von der absolut freien Reflexion im Nachhinein nicht revidiert werden kann. Und so würde Schritt für Schritt ein Denkgesetz aus dem andern hevorgehen.

Doch immer wieder finden sich bei Fichte Stellen, aus denen herausklingt, dass der letzte Zweck der Vernunft der vernünftigen Tätigkeit vorgegeben sei. Dies Schwanken hat seine Wurzel in einer vorwissenschaftlichen romantischen Grundanschauung, die gar nicht in die Philosophie gehört, sondern in Fichtes Lebensbeschrei- bung. Wer sich heute der Wissenschaftslehre zuwendet, lässt sie füglich außer Acht.

Damit ist das Schwanken behoben, nicht aber das Pardox: die fortschreitend sich fesselnde Freiheit - die aber doch eine unendliche bleiben soll.

Zurück auf Anfang: Die Wissenschaftslehre soll sein die Vollendung der Kant'schen Vernunftkritik; soll erhel- len, wie, nämlich aus welchem Rechtsgrund Vernunft im 18. Jahrhundert ihren Herrschaftsanspruch erhebt. So weit die Transzendentalphilosophie ihre Abstraktionen auch immer treibt: Ihr Gegenstand ist die historische Realität. Was bei Fichte die 'Reihe vernünftiger Wesen' ist, ist in der Wirklichkeit das Modell der bürgerlichen Gesellschaft, in der die Gelehrten den öffentlich Ton angeben. In der Wissenschaftslehre erscheint die Reihe vernünftiger Wesen an einer Stelle dem Ich vorgegeben, von ihnen geht die Aufforderung zur Selbstbestimmung alias Vernunft allererst aus. 

Was Vernunft in specie ist, nämlich nach welchen Regeln sie verfährt, finde ich als gegeben vor. Es ist (reell) eine lange Geschichte zweckmäßiger Wechselwirkungen. Vernünftig werde ich handeln, indem ich dieser pro- zessierenden Wechselwirkung beitrete, denn nur in der Welt der Reihe vernünftiger Wesen, der intelligiblen Welt, kann ich vernunftgemäß wirken. Vernunft ist selber keine Denkweise, sondern eine Weise des Handelns in der Welt.

Das Forstschreiten der Vernunft ist das Fortschreiten in der gemeinsamen Bestimmung des Unbestimmten, das Medium der Bestimmung ist der Zweckbegriff. Vernünftig ist eine Welt, in der die Zweckbegriffe fortschreitend vergemein- schaftet werden. Das geschieht reell nicht durch Deliberation, sondern praktisch durch gemeinsames Handeln. Allgemein geltend sind diejenigen Bestimmungen, die gemeinsames Handeln ermöglichen, und das ist eine Sache der Erfahrung und nicht (erst) der Reflexion. Erfahrung geschieht durch Widerstand; auch durch den Widerstand anderer vernünftiger Wesen.

Das gemeinsame Bestimmen der Zweckbegriffe ist zugleich die fortschreitende Selbstbestimmung der Reihe vernünftiger Wesen. Da die Bestimmung der Zwecke in der Welt ins unendliche geht, tut es die Selbstbestim- mung der Reihe vernünftiger Wesen. Sie ist die treibende Kraft. Ihr Treibstoff ist die Reflexion, die frei und unendlich ist. Zum Wesen der Vernunft gehört Kritik.
JE, 24.10. 18





Transzendentaler Denkzwang.


Ich kann eine Kneifzange nur ihrer Bestimmung gemäß gebrauchen, indem ich sie - ihrer Bestimmung gemäß gebrauche. 

Ich kann sie allerdings anders als ihrer Bestimmung nach gebrauchen; ins Wasser werfen, Briefe damit beschwe- ren, einen Nagel in die Wand klopfen. Doch dann wird sie nicht den Dienst tun, für den sie bestimmt war - einen Draht durchkneifen, einen Nagel aus der Wand ziehen, ein Stück Holz abbrechen.

Die Bestimmung - das Noumenale - ist mit ihrer sinnlichen Gestalt - dem Phänomenalen - bereits synthetisiert, ihr Zweck ist nicht mehr 'gemeint', sondern in sie hineinkonstruiert. Er wird sich in ihrer sinnlichen Gestalt gel- tend machen.

Nicht anders ist es mit unseren Denkgesetzen. Ich kann mir vorstellen, was und wie ich will. Aber die Begriffe und die Schlussregeln so benutzen, dass sie dem Zweck dienen, für den sie erschaffen wurden, kann ich nur, in- dem ich sie so benutze, dass sie ihrem Zweck dienen. Das scheint nur darum mysteriös, weil es tautologisch ist und keinen Grund hat als sich selbst.

JE, 29. 9. 18





Die Wirklichkeit der Welt und ihr Widerstand.

Der transzendentale Philosoph muss annehmen, dass alles, was sei, nur für ein Ich sein soll, und was für ein Ich sein solle, nur durch das Ich sein kann. Der gemeine Menschenverstand gibt im Gegenteil beiden eine unabhän- gige Existenz und behauptet, dass die Welt immer sein würde, wenn auch er nicht wäre. 

Der letztere hat nicht Rücksicht auf die Behauptung des ersteren zu nehmen und kann es nicht, denn er steht auf einem niederen Gesichtspunkte;* der erstere aber muss auf den letzteren allerdings sehen, und seine Behaup- tung ist so lange unbestimmt und eben dadurch zum Teil unrichtig, bis er gezeigt hat, wie gerade aus seiner Be- hauptung das Letztere notwendig folge und nur durch diese Voraussetzung sich erklären lasse. Die Philosophie muss unsere Überzeugung von dem Dasein einer Welt außer uns demonstrieren. 

Dies ist nun hier aus der Möglichkeit des Selbstbewusstseins geschehen, und jene Überzeugng ist als Bedingung des Selbstbewusstseins erwiesen. Weil das Ich sich im Selbstbewusstsein nur praktisch setzen kann, überhaupt aber nichts als ein Endliches etzen kann, mithin zugleich eine Grenze seiner praktischen Tätigkeit setzen muss, darum muss es eine Welt außer sich setzen. So verfährt ursprünglich jedes vernünftige Wesen, und so verfährt ohne Zweifel auch der Philosoph. / 

Wenn nun gleich der Letztere hinterher einsieht, dass das Vernunftwesen zuvörderst seine unterdrückte** praktische Tätigkeit setzen müsse, um das Objekt setzen und bestimmen zu können, dass mithin das Objekt selbst gar nicht unmittelbar gegeben, sondern dass es zufolge eines andern ursprünglich erst hervorgebracht sei, so hindert dies den gemeinen Menschenverstand nicht, der dieser soeben postulierten Verrichtungen sich nicht bewusst sein kann, da sie die Möglichkeit alles Bewusstseins bedingen und somit außerhalb des Umkreises desselben liegen, und der die Spekulationen, die die Überzeugung des Philosophen leiten, nicht macht; es hin- dert selbst den Philosophen nicht, sobald er auf den Gesichtspunkt des gemeinen Menschverstandes zu stehen kommt.
*) = Reflexionsstufe
**) an besagter Grenze abgebrochene
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Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, 
SW Bd. III, S. 24f.
 
 



Nota. - Die Annahme einer wirklichen Welt ergibt sich nicht aus der Erfahrung, sondern ist ihr als Bedingung vorausgesetzt; nämlich in unserer Vorstellung. Darüber, ob 'es' eine Welt wirklich 'gibt', ist damit freilich nichts gesagt.

Auch noch nichts ist darüber gesagt, wie wir es anstellen - aber wir stellen es täglich an! -, die Vorstellungen, denen ein Objekt außerhalb der Vorstellung entspricht, zu unterscheiden von jenen, denen keins entspricht. Darauf kommt es dem gemeinen Menschenverstand aber viel mehr an als auf metaphysische Fragen.

Es geht wieder um den Denkzwang. Das Ich muss ein Nicht-Ich setzen und sich entgegensetzen aufgrund des Widerstands, den es seiner Tätigkeit entgegensetzt, denn der schafft das Gefühl. Es geht darum, dass da eines ist; bestimmen, wie es ist - qualifizieren -, muss wiederum das Ich selbst. So kommt der Prozess des Selbstbestim- mens in Gang. Und wo immer er auf Widerstand stößt, zeugt er von der Objektivität des Gegenstands. 

Der Widerstand übt, so oder so, einen Denkzwang aus. Aber eben: so oder so. Bei realen Objekten muss das Den- ken innehalten, deliberieren und nach einem Aus-, d. h. Umweg suchen. Ideelle Objekte dagegen weisen den Weg unmittelbar: Es bleibt gar keine Wahl. 

(Warum? Weil sie im selben Medium liegen wie die Operationen des Denkens.)
JE




Ist der Denkzwang real oder ideal?

Sein sei bloße Widerständigkeit, habe ich, meinem Kronzeugen folgend, geschrieben. 

Wie ist das nun aber mit den Geltungen? Sind sie oder sind sie nicht? Sie seien zwar nicht ganz real, aber 'ein- fach garnix' seien sie doch eben auch nicht, schreibt Hegel in der Einleitung zur Phänomenologie.

Die Probe aufs Exempel ist einfach die, ob sie meiner Tätigkeit - idealen oder realen, gleichviel - einen Wider- stand entgegensetzen. Die Geltungen sind ja rein ideal, doch sie würden real, indem... sie meiner Tätigkeit einen Widerstand entgegensetzten. Das aber tun sie im Denkzwang: Sie setzen meinem freien Vorstellen einen Wider- stand entgegen, als ob sie real wären.

Einerseits andererseits, zwar aber. 






Einen Denkzwang gibt es für die Reflexion, aber nicht fürs Vorstellen.

Einen Denkzwang gibt es nur für die Reflexion.

Das ist eine Tautologie, denn Denken in specie ist Reflexion. Das lebendige Vorstellen - reale Tätigkeit, wie Fichte sagt - kennt noch gar keinen Gegenstand: Den setzt es ja erst. Mit der Anschauung beginnt das Bestimmen als dieser: nämlich das Beziehen auf den Zweckbegriff. Das Beziehen auf den Zweckbegriff ist - Reflektieren. Es muss nämlich geurteilt werden: Welchen Widerstand setzt der Gegenstand meinem zweckmäßigen Handeln entge- gen? Das ist zugleich das Fortbestimmen meines Zweckbegriffs am Gegenstand. Und jetzt meldet sich mancher- lei Zwang.









Verbürgt uns der Denkzwang die Wahrheit des Denkens?

Der vorgestrige Eintrag, wonach im Denkzwang, in wiefern er dem freien Vorstellen einen Widerstand entge- gensetzt, reale und ideale Tätigkeit nicht unterschieden werden können, erscheint maßlos trivial: Dann verbürg- te uns das geordnete Denken Wirklichkeit und Wahrheit der Welt - schlicht und einfach so, wie es sich der ge- sunde Menschenverstand immer vorgestellt hat. Kants Kopernikanische Wende wäre ganz überflüssig gewesen.

Das ist natürlich Unfug. Denn auch die 'reale' Tätigkeit ist nichts anderes als Vorstellung. Weshalb es uns so scheinen muss, als ob der uns durch ein Gefühl verbürgte Gegenstand auch außerhalb unserer Vorstellung 'da' sei, wollte die Wissenschaftslehre erklären und hat sie erklärt. Dass das Vorstellen nicht gegen die von ihm durch das Vorstellen selbst gegebenen Regeln verstoßen kann, ist dazu nur ein logisches Korrelat ohne eigenen sachlichen Gehalt. Wäre es anders, herrschte in unsern Köpfen alleweil Karneval in Rio, und keine zwei Leute könnten ein vernünftiges Wort miteinander wechseln. 

Von irgendwas muss die Philosophie ausgehen, und seien es auch nur die historischen Tatsachen. Den unver- meidlich dem gesunden Menschenverstand unterlaufenden dogmatischen Fehlschluss kann sie erklären, aber nicht verhindern.






Formularphilosophie und Denknotwendigkeit.
Tinguely - Aeppli

Jene Männer von philosophischem Geiste machten ihre Entdeckungen bekannt. - Es ist nichts leichter als mit Freiheit und da, wo keine Denknotwendigkeit obwaltet, jede mögliche Bestimmung in seinem Geiste hervorzu- bringen, willkürlich ihn auf jede Weise, die ein anderer uns vielleicht angibt, handeln zulassen. Aber es ist nichts schwerer, als denselben im wirklichen, d. h, nach obigem: notwendigen Handeln oder, wenn er in der Lage ist, dass er auf diese bestimmte Weise handeln muss - als handelnd zu bemerken. Das erstere Verfahren gibt Begrif- fe ohne Objekt, ein leeres Denken; nur auf die zweite Weise wird der Philosoph Zuschauer eines reellen Den- kens seines Geistes.*

*) Der Formular-Philosoph denkt sich dieses und jenes, beobachtet sich selbst in diesem Denken, und nun stellt er die ganze Reihe dessen, was er sich denken konnte, als Warhrheit hin, aus dem Grunde, weil er es denken konnte. Das Objekt seiner Beobachtung ist er selbst, wie er entweder ohne alle Richtung, auf gutes Glück, oder nach einem von außen gegebenen Ziele hin frei verfährt. 


Der wahre Philosoph hat die Vernunft in ihrem ursprünglichen und notwendigen Verfahren, wodurch sein Ich und / alles, was für dasselbe ist, da ist, zu beobachten. Da er aber dieses ursprünglich handelnde Ich in seinem empi- rischen Bewusstsein nicht mehr vorfindet, so stellt er es durch den einzigen Akt der Willkür, der ihm erlaubt ist (und welcher der freie Entschluss, philosophieren zu wollen, selbst ist), in seinen Anfangspunkt und lässt es von demselben aus nach seinen eigenen, dem Philosophen wohlbekannten Gesetzen unter seinen Augen forthandeln.

Das Objekt seiner Beobachtung ist sonach die nach ihren inneren Gesetzen, ohne alles äußere Ziel, notwendig verfahrende Vernunft überhaupt. Der erstere beobachtet ein Individuum, sein eigenes, in seinem gesetzlosen Denken, der letztere die Vernunft überhaupt in ihrem nowendigen Handeln. 
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Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, 
SW Bd. III, S. 5f.



Nota. - Wenn ein jedes der in der Abstraktion als Das Ich zusammengefassten empirischen Iche alle seine Be- stimmungen am Nichtich und mithin am Ich selber vornimmt - wie sollte es möglich sein, dass am Schluss auch nur zweie aus der Reihe vernünftiger Wesen sich über irgendetwas verständigen können? George Berkeley, der einen dogmatischen Idealismus vertrat, löst das Problem auf verblüffend einfache Weise: Das ist Gottes Werk. Denn ihre Wahrnehmungen, die die Menschen für wirkliche Dinge halten, sind ihnen von ihrem Schöpfer ein- gegeben - und der hat einen gewissen Einklang zwischen ihnen prä-etabliert. (Er ist also nicht ein dogmatischer, sondern im Grunde gar kein Idealist.)

Auch der transzendentale, kritische Idealismus kann eine schließliche Konkordanz nicht aus nachträglicher Übereinkunft erklären. Sein metaphilosophischer Zweck ist ja, das gesellschaftliche Zusammenleben zu be- gründen: auf Freiheit, und das heißt eben - in der Vernunft. Dann muss sie dem wirklichen Zusammenwirken der Menschen in der Geschichte aber vorausgesetzt sein, sonst bliebe es immer zufällig. Und dann muss das Verfah- ren der Vernunft in sich selber notwendig sein. Diese Notwendigkeit hat der Philosoph zu demonstrieren.

Metaphilosophisch betrachtet, ist die Wissenschaftslehre nicht nur eine Anthropologie, sondern insbesondere eine politische Anthropologie.
JE

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