Freitag, 16. Juni 2017

Zweiter, seinem Gehalte nach bedingter Grundsatz der Wissenschaftslehre.


§ 2. Zweiter, seinem Gehalte nach bedingter Grundsatz.

[101] Aus dem gleichen Grunde, aus welchem der erste Grundsatz nicht bewiesen, noch abgeleitet werden konnte, kann es auch der zweite nicht. Wir gehen daher auch hier, gerade wie oben, von einer Thatsache des empirischen Bewusstseyns aus, und verfahren mit derselben aus der gleichen Befugniss auf die gleiche Art.

1) Der Satz: – A nicht = A, wird ohne Zweifel von Jedem für völlig gewiss und ausgemacht anerkannt, und es ist kaum zu erwarten, dass Jemand den Beweis desselben fordere.

2) Sollte aber dennoch ein solcher Beweis möglich seyn,[101] so könnte er in unserem Systeme (dessen Richtigkeit an sich freilich noch immer bis zur Vollendung der Wissenschaft problematisch ist) nicht anders als aus dem Satze: A = A, geführt werden.

3) Ein solcher Beweis aber ist unmöglich. Denn setzet das äusserste, dass nemlich der aufgestellte Satz dem Satze: – A= – A, mithin – A irgend einem im Ich gesetzten Y völlig gleich sey, und er nun soviel heisse, als: wenn das Gegentheil von A gesetzt ist, so ist es gesetzt: so wäre hier der gleiche Zusammenhang (= X) schlechthin gesetzt, wie oben; und es wäre gar kein vom Satze A = A abgeleiteter, und durch ihn bewiesener Satz, sondern es wäre dieser Satz selbst... Und so steht denn auch wirklich die Form dieses Satzes, insofern er blosser logischer Satz ist, unter der höchsten Form, der Förmlichkeit überhaupt, der Einheit des Bewusstseyns.

4) Es bleibt gänzlich unberührt die Frage: Ist denn, und unter welcher Bedingung der Form der blossen Handlung ist denn das Gegentheil von A gesetzt. Diese Bedingung ist es, die sich vom Satze A – A müsste ableiten lassen, wenn der oben aufgestellte Satz selbst ein abgeleiteter seyn sollte. Aber eine dergleichen Bedingung kann sich aus ihm gar nicht ergeben, da die Form des Gegensetzens in der Form des Setzens so wenig enthalten wird, dass sie ihr vielmehr selbst entgegengesetzt ist. Es wird demnach ohne alle Bedingung und schlechthin entgegengesetzt. – A ist, als solches, gesetzt schlechthin, weil es gesetzt ist.

Demnach kommt unter den Handlungen des Ich, so gewiss der Satz – A nicht = A unter den Thatsachen des empirischen Bewusstseyns vorkommt, ein Entgegensetzen vor; und dieses Entgegensetzen ist seiner blossen Form nach eine schlechthin mögliche, unter gar keiner Bedingung stehende, und durch keinen höheren Grund begründete Handlung.

(Die logische Form des Satzes als Satzes steht, (wenn der Satz aufgestellt wird – A = – A unter der Bedingung der Identität des Subjects, und des Prädicats (d. i. des vorstellenden, und des als vorstellend vorgestellten Ich; S. 96. d. Anmerk.). Aber selbst die Möglichkeit des Gegensetzens an sich setzt die Identität des Bewusstseyns voraus; und der[102] Gang des in dieser Function handelnden Ich ist eigentlich folgender: A (das schlechthin gesetzte) = A (dem, worüber reflectirt wird). Diesem A, als Objecte der Reflexion, wird durch eine absolute Handlung entgegengesetzt – A, und von diesem wird geurtheilt, dass es auch dem schlechthin gesetzten A entgegengesetzt sey, weil das erstere dem letzteren gleich ist; welche Gleichheit sich (§ 1.) auf die Identität des setzenden und des reflectirenden Ich gründet. – Ferner wird vorausgesetzt, dass das in beiden Handlungen handelnde, und über beide urtheilende Ich das gleiche sey. Könnte dieses selbst in beiden Handlungen sich entgegengesetzt seyn, so würde – A seyn = A. Mithin ist auch der Uebergang vom Setzen zum Entgegensetzen nur durch die Identität des Ich möglich).

5) Durch diese absolute Handlung nun, und schlechthin durch sie, wird das entgegengesetzte, insofern es ein entgegengesetztes ist (als blosses Gegentheil überhaupt) gesetzt. Jedes Gegentheil, insofern es das ist, ist schlechthin, kraft einer Handlung des Ich, und aus keinem anderen Grunde. Das Entgegengesetztseyn überhaupt ist schlechthin durch das Ich gesetzt.

6) Soll irgend ein – A gesetzt werden, so muss ein A gesetzt seyn. Demnach ist die Handlung des Entgegensetzens in einer anderen Rücksicht auch bedingt. Ob überhaupt eine Handlung möglich ist, hängt von einer anderen Handlung ab; die Handlung ist demnach der Materie nach, als ein Handeln überhaupt, bedingt; es ist ein Handeln in Beziehung auf ein anderes Handeln. Dass eben so, und nicht anders gehandelt wird, ist unbedingt; die Handlung ist ihrer Form nach, (in Absicht des Wie) unbedingt.

(Das Entgegensetzen ist nur möglich unter Bedingung der Einheit des Bewusstseyns des setzenden, und des entgegensetzenden. Hinge das Bewusstseyn der ersten Handlung nicht mit dem Bewusstseyn der zweiten zusammen; so wäre das zweite Setzen kein Gegensetzen, sondern ein Setzen schlechthin. Erst durch Beziehung auf ein Setzen wird es ein Gegensetzen).

7) Bis jetzt ist von der Handlung, als blosser Handlung, von der Handlungsart geredet worden. Wir gehen über zum Producte derselben = – A.[103] 

Wir können im – A abermals zweierlei unterscheiden; die Form desselben, und die Materie. Durch die Form wird bestimmt, dass es überhaupt ein Gegentheil sey (von irgend einem X). Ist es einem bestimmten A entgegensesetzt, so hat es Materie; es ist irgend etwas Bestimmtes nicht.

8) Die Form von – A wird bestimmt durch die Handlung schlechthin; es ist ein Gegentheil, weil es Product eines Gegensetzens ist: die Materie durch A; es ist nicht, was A ist; und sein ganzes Wesen besteht darin, dass es nicht ist, was A ist. – Ich weiss von – A, dass es von irgend einem A das Gegentheil sey –. Was aber dasjenige sey, von welchem ich jenes weiss, kann ich nur unter der Bedingung wissen, dass ich A kenne.

9) Es ist ursprünglich nichts gesetzt, als das Ich; und dieses nur ist schlechthin gesetzt. (§ 1.) Demnach kann nur dem Ich schlechthin entgegengesetzt werden. Aber das dem Ich entgegengesetzte ist = Nicht-Ich.

10) So gewiss das unbedingte Zugestehen der absoluten Gewissheit des Satzes: – A nicht = A unter den Thatsachen des empirischen Bewusstseyns vorkommt: so gewiss wird dem Ich schlechthin entgegengesetzt ein Nicht-Ich. Von diesem ursprünglichen Entgegensetzen nun ist alles das, was wir so eben vom Entgegensetzen überhaupt gesagt haben, abgeleitet; und es gilt daher von ihm ursprünglich: es ist also der Form nach schlechthin unbedingt, der Materie nach aber bedingt. Und so wäre denn auch der zweite Grundsatz alles menschlichen Wissens befunden.

11) Von allem, was dem Ich zukommt, muss kraft der blossen Gegensetzung dem Nicht-Ich das Gegentheil zukommen.

(Es ist die gewöhnliche Meinung, dass der Begriff des Nicht-Ich ein discursiver, durch Abstraction von allem Vorgestellten entstandener Begriff sey. Aber die Seichtigkeit dieser Erklärung lässt sich leicht darthun. So wie ich irgend etwas vorstellen soll, muss ich es dem Vorstellenden entgegensetzen. Nun kann und muss allerdings in dem Objecte der Vorstellung, irgend ein X liegen, wodurch es sich als ein Vorzustellendes, nicht aber als das Vorstellende entdeckt; aber dass alles, worin[104] dieses X liege, nicht das Vorstellende, sondern ein Vorzustellendes sey, kann ich durch keinen Gegenstand lernen; vielmehr sieht es nur unter Voraussetzung, jenes Gesetzes erst überhaupt einen Gegenstand).

Aus dem materialen Satze: Ich bin, entstand durch Abstraction von seinem Gehalte der bloss formale und logische: A = A. Aus dem im gegenwärtigen § aufgestellten entsteht durch die gleiche Abstraction der logische Satz: – A nicht = A; den ich den Satz des Gegensetzens nennen würde. Er ist hier noch nicht füglich zu bestimmen, noch in einer wörtlichen Formel auszudrücken; wovon der Grund sich im folgenden § ergeben wird. Abstrahirt man endlich von der bestimmten Handlung des Urtheilens ganz, und sieht bloss auf die Form der Folgerung vom Entgegengesetztseyn auf das Nicht-Seyn, so hat man die Kategorie der Negation. Auch in diese ist erst im folgenden § eine deutliche Einsicht möglich.

Quelle: J. G. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre 
in: Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke. Band 1, Berlin 1845/1846, S. 101-105.


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