Mittwoch, 6. August 2014

Der Grund allen Seins.


 
Die Frage, welche sie zu beantworten hat, ist, wie bekannt, folgende: woher kommt das System der vom Gefühl der Notwendigkeit begleiteten Vorstellungen? oder: wie kommen wir dazu, dem, was doch nur subjektiv ist, objektive Gültigkeit beizumessen? Oder, da objektive Gültigkeit durch Sein bezeichnet wird: wie kommen wir dazu, ein Sein anzunehmen? Da diese Frage von der Einkehr in sich selbst, von der Bemerkung, daß das unmittelbare Objekt des Bewußtseins doch lediglich das Bewußtsein selbst ist, ausgeht, so kann sie von keinem anderen Sein, als von einem Sein für uns reden; und es wäre völlig widersinnig, sie mit der Frage nach einem Sein ohne Beziehung auf ein Bewußtsein für einerlei zu halten. ...
 

Die aufgestellte Frage: wie ist ein Sein für uns möglich? abstrahiert selbst von allem Sein: d. h. nicht etwa, sie denkt ein Nichtsein, wodurch dieser Begriff nur negiert, nicht aber von ihm abstrahiert wurde, sondern sie denkt sich den Begriff des Seins überhaupt gar nicht, weder positiv, noch negativ. Sie fragt nach dem Grund des Prädikats vom Sein überhaupt, werde es nun beigelegt oder abgesprochen; aber der Grund liegt allemal außerhalb des Begründeten, d. h. er ist demselben entgegengesetzt. Die Antwort muß, wenn sie eine Antwort auf  diese  Frage sein soll, und auf dieselbe wirklich eingehen will, gleichfalls von allem Sein abstrahieren. ...

Wer ist es nun, der die geforderte Abstraktion von allem Sein vornimmt: in welcher von den beiden Reihen* liegt sie? Offenbar in der Reihe des philosophischen Räsonnements; eine andere Reihe ist bis jetzt noch nicht vorhanden. 

Das, woran er sich allein hält, und woraus er das zu erklärende zu erklären verspricht, ist das Bewußtseiende, das Subjekt, welches er sonach rein von aller Vorstellung des Seins auffassen müßte, um in ihm erst den Grund allen Seins - für dasselbe, wie sich versteht - aufzuweisen. Aber dem Subjekt kommt, wenn von allem Sein desselben und für dasselbe abstrahiert ist, nichts zu, denn ein Handeln, es ist insbesondere in Bezug auf das Sein das handelnde. In seinem Handeln sonach müßte er es auffassen, und von diesem Punkt aus würde jene doppelte Reihe erst anheben.

*) In der Wissenschaftslehre gibt es zwei sehr verschiedene Reihen des geistigen Handelns: die des Ich, welches der Philosoph beobachtet, und die der Beobachtungen des Philosophen. In den entgegengesetzten Philosophien, auf welche ich mich soeben bezog, gibt es nur eine Reihe des Denkens, die der Gedanken des Philosophen; da sein Stoff selbst nicht als denkend eingeführt wird. Es liegt ein Hauptgrund des Missverständnisses und vieler nicht passender Einwürfe / gegen die Wissenschaftslehre darin, daß man diese zwei Reihen entweder gar nicht unterschied, oder was in die eine gehört, mit dem, was in die andere gehört, verwechselte.
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Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, SW Bd. I, S. 456f.; Rechtschreibung modernisiert.






Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE       

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