Montag, 9. Dezember 2013

Selbstvergessen ist der Charakter der Wirklichkeit.


Jean Siméon Chardin, Der Junge mit dem Kreisel.

Jenes halbe, träumende und zerstreute Bewußtsein, jene Unaufmerksamkeit und Gedankenlosigkeit, die ein Grundzug unseres Zeitalters, und das kräftigeste Hindernis einer gründlichen Philosophie ist, ist / eben der Zustand, da man sich selbst nicht ganz in den Gegenstand hineinwirft, sich in ihm vergräbt und vergißt; sondern zwischen ihm und sich selbst herumschwankt und zittert.

...Sonach wäre der gesuchte Grund deiner Urteile über Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit gefunden. Das Selbstvergessen wäre Charakter der Wirklichkeit; und in jedem Zustande des Lebens wäre der Focus, in welchen du dich hineinwirfst und vergissest, und der Focus der Wirklichkeit Eins und dasselbe. Das sich dir selbst Entreißende wäre das wirklich sich begebende und deinen Lebensmoment füllende.
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Sonnenklarer Bericht an das größere Publikum über da eigentliche Wesen der neuesten Philosophie [1801] 
SW. Bd. II, S 337f.


Nota. - Zu diesem Zeitpunkt hatte er sich von Jacobi schon dazu verleiten lassen, aus der Transzendental- in die Lebensphilosophie hinüber zu gleiten. Das Falsche daran ist nicht die Lebensphilosophie selber, sondern das Hinübergleiten; zumal er ja den Schlussgang umkehrt und seine Lebensphilosophie zur Prämisse der Transzendendalphilosophie machen will. Wenn die Transzendentalphilosophie - echter durchgeführter Kritizismus - zu einem Abschluss gekommen ist, mag oder muss man sich Gedanken über den Sinn des Lebens machen: unter den Vorbehalten, die jene gebietet. Aber das ist freie Schöpfung, Kunst, Poesie, und kann und will auf Wissenschaftlichkeit keinen Anspruch erheben. 

Was gar keine Minderung ist, denn das Leben ist keine wissenschaftliche Forschung.
JE

 

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