Samstag, 4. Januar 2014

Fliegen wollen.


Dürer 

Dadurch eben hat die bisherige Zeit gezeigt, dass sie von Bildung zum Menschen weder einen rechten Begriff, noch die Kraft hatte, diesen Begriff darzustellen: dass sie durch ermahnende Predigten die Menschen bessern wollte, und verdrüsslich ward und schalt, wenn diese Predigten nichts fruchteten. Wie konnten sie doch fruchten? Der Wille des Menschen hat schon vor der Ermahnung vorher, und unabhängig von ihr, seine feste Richtung; stimmt diese zusammen mit deiner Ermahnung, so kommt die Ermahnung zu spät, und der Mensch hätte auch ohne dieselbe gethan, wozu du ihn ermahnest; steht sie mit derselben im Widerspruche, so magst du ihn höchstens einige Augenblicke betäuben; wie die Gelegenheit kommt, vergisst er sich selbst und deine Ermahnung, und folgt seinem natürlichen Hange. 

Willst du etwas über ihn vermögen, so musst du mehr thun, als ihn bloss anreden, du musst ihn machen, ihn also machen, dass er gar nicht anders wollen könne, als du willst, dass er wolle. Es ist vergebens zu sagen: fliege, dem der keine Flügel hat, und er wird durch alle deine Ermahnungen nie zwei Schritte über den Boden emporkommen; aber entwickele, wenn du kannst, seine geistigen Schwungfedern, und lasse ihn dieselben üben und kräftig machen, und er wird ohne alle dein Ermahnen gar nicht anders mehr wollen oder können, denn fliegen.

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Reden an die deutsche Nation, 2. Rede, SW VII, S. 282



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