Montag, 14. Mai 2018

Vernunft ist nur möglich, weil meine Vernunft die Vernunft der Andern voraussetzt.

RainerSturm  / pixelio.de

§ 3. Zweiter Lehrsatz

Das endliche Vernunftwesen kann eine freie Wirksamkeit in der Sinnenwelt sich nicht zuschreiben, ohne sie auch anderen zuzuschreiben, mithin auch andere endliche Vernunftwesen ausser sich anzunehmen. 


Beweis

I.                  

a. Das vernünftige Wesen kann, nach dem §1. geführten Beweise, kein Object setzen (wahrnehmen und begrei- fen), ohne zugleich, in derselben ungetheilten Synthesis, sich eine Wirksamkeit zuzuschreiben.

b. Aber es kann sich keine Wirksamkeit zuschreiben, ohne ein Object, auf welches diese Wirksamkeit gehen soll, gesetzt zu haben. Das Setzen dieses Objects, als eines durch sich selbst bestimmten, und insofern die freie Tätig- keit des vernünftigen Wesens hemmenden, muss in einem vorhergehenden Zeitpunct gesetzt werden, durch wel- chen allein derjenige Zeitpunct, in welchem der Begriff der Wirksamkeit gefasst wird, der gegenwärtige wird.

c. Alles Begreifen ist durch Setzen der Wirksamkeit des Vernunftwesens; und alle Wirksamkeit ist durch ein vor- hergegangenes Begreifen desselben gedingt. Also ist jeder mögliche Moment des Bewusstseyns, durch einen vor- hergehenden Moment desselben, bedingt, und das Bewusstseyn wird in der Erklärung der Möglichkeit schon als wirklich vorausgesetzt. Es lässt sich überhaupt nur durch einen Cirkel erklären; es lässt sich sonach überhaupt nicht erklären, und scheint unmöglich. ...
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Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, SW Bd. III, S. 30


Nota. - Das Elementardatum der Wissenschaftslehre ist ein empirisch-historisches Faktum: Es gibt Vernunft. Ihr Zweck ist, die Frage zu klären: Woher und wozu? Das läuft auf die Klärung dessen heraus, was sie ist. Die Wis- senschaftslehre ist, wenn sie zu ihrem Schluss kommt, zu Ende geführte Vernunftkritik: "echter durchgeführter Kritizismus".

Es findet sich, dass die Vernunft, wo immer sie erscheint, sich selber schon voraussetzt. Vorstellbar - wenn auch nicht erklärbar! - wäre sie mithin nur als Urzeugung. Durch jedes Indivduum neu? Das liefe darauf hinaus, dass Vernunft nicht möglich ist; denn würde sich jedes Individuum eine eigne Vernunft erfinden, wäre das, was sie zur Vernunft erst macht; wäre Übereinstimmung nur zufällig, aber nicht notwendig möglich. Das Individuum muss also die Vernunft als Gegebenheit vorfinden. Das liegt empirisch auf der Hand: Es wird in eine Welt, in der Vernunft herrscht - herrschen soll -, ja schon  hineingeboren. Es ist eo ipso zur Vernunft aufgefordert.

Aber damit ist das Problem der Urzeugung von der Ebene der Individuen lediglich auf die Ebene der Gattung verschoben.

An dem Punkt soll Fichte (wortwörtlich) in die Irre gehen.

Es ist ja die Kernfrage der Anthropologie, und diese ist - Anfang und Ende allen Philosophierens. Die Gattungs- geschichte unserer Spezies muss sich so darstellen lassen, als ob sie die Bedingungen der Vernünftigkeit erst ge- setzt und dann erfüllt hat. Das ist eine Sache de Erfahrungswissenschaft. Die war zu Fichtes Tagen noch längst nicht so weit.
JE



 

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