Sonntag, 6. Juli 2014

Intellectus agens.


tirot, pixelio.de

Es ist, zeigt dieses System, der zwar zu keiner Zeit zu erreichende, jedoch unaufhörlich zu befördernde Zweck unseres ganzen Daseyns und alles unseres Handelns, dass das Vernunftwesen absolut und ganz frei, selbstständig und unabhängig werde von allem, das nicht selbst Vernunft ist. Die Vernunft soll ihr selbst genügen. 

Diese unsere Bestimmung kündigt sich uns eben an durch jenes Sehnen, das durch kein endliches Gut zu befriedigen ist. Diesen Zweck sollen wir schlechthin, müssen wir schlechthin, wenn wir uns selbst treu bleiben wollen, uns setzen. Was wir unseres Orts zu thun haben, um denselben zu befördern, und inwieweit seine Erreichung von uns abhängt, lehrt uns gleichfalls die unmittelbar gebietende, unaustilgbare und untrügliche innere Stimme des Gewissens. 

Das Gewissen ist es, das in jeder Lage des Lebens, wenn wir nur dasselbe befragen, uns entscheidend sagt, was in dieser Lage / unsere Pflicht sey, das heisst, was wir in derselben zur Beförderung jenes Zweckes aller Vernunft beizutragen haben. Wir müssen schlechthin jenen Zweck wollen, dies ist die einige unabänderliche Bestimmung unseres Willens; – die besondere, durch Zeit und Lage bestimmte Pflicht, ohnerachtet sie im gemeinen Bewusstseyn als etwas unmittelbares erscheint, wollen wir doch nur, wie sich bei einer gründlichen philosophischen Untersuchung des gesammten Bewusstseyns ergiebt, als Theil und als Mittel jenes Endzwecks.

...ohnerachtet ich freilich nicht begreife, auch nicht zu begreifen bedarf, wie und auf welche Weise jene pflichtmässige Gesinnung mich zu meinem nothwendigen / Zwecke führen möge...
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Appellation an das Publicum über die durch ein Churf. Sächs. Confiscationsrescript ihm beigemessenen atheistischen Aeusserungen, SW V, S.
204ff.



Nota. - In der Formel "wollen wir doch nur, wie sich bei einer gründlichen philosophischen Untersuchung des gesammten Bewusstseyns ergiebt, als Theil und als Mittel jenes Endzwecks", wird deutlich die Auffassung der Vernunft als einer überindividuellen Substanz, die lediglich durch die Individuen hindurch wie ein willensbegabtes Subjekt ihr eigenes Ziel verfolgt. - Das erinnert lebhaft an den intellectus agens der spezifisch an Averroes orientierten Spätscholastiker, der selber ewig ist und von außen in die Individuen hineinwirkt, wo er auf den bloß passiven intellectus possibilis trifft und sich so zum intellectus materialis bildet. (Ob A. es selber so gemeint hat, ist anscheinend umstritten.) - 

Allerdings war die auf Aristoteles zurückgehende Unterscheidung von wirkender und möglicher Vernunft im späten Mittelalter landläufig und findet sich ebensogut bei dem als Dominikaner eher Plato zugeneigten Meister Eckhart und bei seinen Schülern; wobei das wirkende Element stets von außen, womöglich von Gott selbst, hineingetragen wird.

Doch auch F.'s Auffassung von der Bestimmung des Gelehrten zum Volkslehrer und -führer erinnert an Averroes und an seine Lehre von den "zwei Wahrheiten", ebenso sein Geschichtsdeterminismus.

Gibt es Hinweise auf eine besondere Auseinandersetzung Fichtes mit den Scholastikern? Es mag sich überall nur um Reminiszenzen aus seinem Theologiestudium handeln, aber dann wäre es mit seinem Kritizismus nicht weit her.
JE

 

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