Samstag, 5. Juli 2014

Selbstdenken ist die Quelle aller bürgerlichen Unruhen.


Vertheidigen wir nicht jetzt, nicht auf der Stelle unsere / Geistesfreiheit, so möchte es gar bald zu spät seyn. Man unterdrückt den freien Forschungstrieb nicht etwa mehr, wie es ehemals geschah, hier und da, so wie es die augenblickliche Laune gebietet; man thut es aus Grundsätzen, und verfährt systematisch. 

Welcher ist unter meinen Lesern, der nicht den durch das Unglück der Zeiten herbeigeführten Grundsatz behaupten, predigen, einschärfen gehört habe: Freiheit der eigenen Untersuchung gefährdet die Sicherheit der Staaten; Selbstdenken ist die Quelle aller bürgerlichen Unruhen; hier, hier ist die Stelle, wo man das Uebel mit der Wurzel ausrotten kann? Die einzige untrügliche Wahrheit, über die kein menschlicher Geist hinauskann, die keiner weitern Prüfung, Erläuterung oder Auseinandersetzung bedarf, ist schon längst fertig; sie liegt aufbewahrt in gewissen Glaubensbekenntnissen; das Geschäft des Selbstdenkens ist schon längst für das Menschengeschlecht geschlossen: – so muss man sprechen. Diese Wahrheit auswendig zu lernen, sie unverändert zu wiederholen, und immer zu wiederholen, darauf muss man alle Geistesbeschäftigung einschränken; dann stehen die Throne fest, die Altäre wanken nicht, und kein Heller geht an den Stolgebühren verloren. – 

Diesen Grundsatz auszuführen, schicken sie sich jetzt ernstlicher als je an. Für den Anfang musste, um die Laulichkeit des Zeitalters aufzuschrecken, ein grosses, die Ohren gehörig füllendes Wort, das des Atheismus gewählt, und dem Publicum das selten zu erlebende Schauspiel einiger Gottesläugner gegeben werden. Wie gerufen fiel gerade ich mit meinem Aufsatze ihnen unter die Hände. Man lasse sie nur erst mit mir fertig seyn, sie werden dann allmählig schon weiter schreiten; und vor dem Ende eines Jahrzehends wird über die geringste Abweichung von der geringsten Phrase in der Concordienformel kein kleineres Aufheben gemacht werden, als jetzt über meinen vermeinten Atheismus.

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Appellation an das Publicum über die durch ein Churf. Sächs. Confiscationsrescript ihm beigemessenen atheistischen Aeusserungen, SW V,
S. 197






Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE       

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