Freitag, 13. November 2015
Radikale Künstlerphilosophie.
Sein philosophisches System hatte [Fichte] bereits im Jahre 1794 in der Grundlage der gesamten Wissenshaftslehre zu entwickeln begonnen, die das Thema behandelt: wie kommt Wissen zustande? Seine Deduktion nimmt ihren Ausgang von einer kritischen Untersuchung der kantschen Erkenntnistheorie. Diese hatte die Ursache unserer Empfindungen im Ding an sich erblickt, das, wie wir bereits darzulegen versuchten, ein ziemlich prekärer und widerspruchsvoller Begriff war; demgegenüber erklärt Fichte: das absolut Erste, Primäre und Ursprüngliche ist nicht das Ding an sich, sondern das Ich; dieses ist die Grundvoraussetzung und Grundbedingung jeder Art von Erfahrung, weil es alle Erfahrung überhaupt erst möglich macht. Da alles Denken, alle Empirie, die Gesamtheit aller Objekte im Ich gesetzt ist und nur in ihm, kann das Ich durch nichts anderes gesetzt sein als durch sich selbst. Das Sein des Ich ist seine eigene Tat und somit keine Tatsache, sondern eine Tathandlung.
Wie aber kommt das Ich dazu, diese ursprüngliche Tathandlung zu begehen? Dies wird von Fichte dadurch erklärt, dass das Ich von Natur den Drang zur Produktion in sich trägt, dass das theoretische Ich sich auf das praktische Ich gründet, dessen Wesen Trieb, Wille, Streben ist. Die Existenz des Ich ist keine Behauptung, sondern eine Forderung, kein Axiom, sondern ein Postulat, kein Schluss, sondern ein Entschluss; daher heißt der oberste Satz der fichtischen Philosophie: setze dein Ich! Ohne Ich gibt es keine objektive Welt, keine Natur, kein Nicht-Ich. Daher lautet der zweite Hauptsatz: das Ich setzt das Nicht-Ich, das Ich setzt sich und sein Gegenteil. Das theoretische Ich setzt einen Gegenstand, damit das praktische einen Widerstand habe.
... Diese ganze Deduktion handelt jedoch von Tatsachen des Unterbewusstseins. Nun gibt es aber eine menschliche Geistestätigkeit, in der der dunkle Vorgang jedermann klart vor Augen liegt. Diese Tätigkeit ist die Kunst. Das Vermögen, wodurch die Kunst ihre Tätigkeit vollbringt, ist gleichfalls die Einbildungskraft, und das Resultat, zu dem sie gelangt, ist dasselbe wie das der fichtischen "Produktion": Wenn nämlich die Kunst ihre Tätigkeit vollendet hat, so stehen auch ihre Produkte als scheinbare selbständige Objekte da, als Realitäten, die vom Ich des Künstlers losgelöst erscheinen.
Dennoch besteht ein bedeutsamer Unterschied. Was dort der Mensch bewusstlos vollbringt: die Schöpfung einer in sich zusammenhängenden Welt, das tut hier der Künstler mit völligem Bewusstsein. Hier wird die Theorie zur Wirklichkeit, und was jeder Mensch tut, ohne es zu wissen, in der Dunkelkammer des Unterbewusstseins, das vollzieht der Künstler als seiner selbst mächtiges Wesen im Tageslicht seines Selbstbewusstseins. Darum hat Fichte gesagt: "Die Kunst macht den transzendentalen Gesichtspunkt zum gemeinen." Seine Philosophie ist, wenn man sie recht versteht, eine radikale Künstlerphilosophie. Und die Romantiker verstanden sie und machten Ficht zu ihrem Propheten.
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Egon Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, 3. Buch, S. 256f.
Projekt Gutenberg-DE
Nota. - Darf man von Egon Friedell, gepriesen und abgetan als "genialer Dilettant", erwarten, dass er zu denen gehörte, die die Wissenschaftslehre 'recht verstanden' haben? – Gerade auf diesem Gebiet war Friedell eben kein Dilettant, seinen philosophischen Doktorgrad hat er mit einer Dissertation über Novalis als Philosoph erworben; und sein obiger kurzer Abriss der Grundlage ist für einen, der Nova methodo noch nicht kennen konnte, gar nicht schlecht.
JE
Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.
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