Donnerstag, 21. Juli 2016

Weisen der Darstellung.


Leonardo, Flugmaschine

Vergleich mit dem Compendio §§ 2 et 3.

Hatten wir hier [Grundlage…] etwas postuliert, so wäre es das Erkenntnis überhaupt des Übergehens vom Ich zum Vorgestellten. Dass diese Erkenntnis, dies Objektive bestimmt sein müsse, ist in der Anschauung nach-gewiesen. Aus dieser notwendigen Bestimmtheit ist Bestimmbarkeit und aus dieser das NichIch deduziert. In diesem Stücke nun [WL nova methodo] ist der beobachtete Gang völlig umgekehrt. Es wird das ausgegangen vom Entgegensetzen des NichtIch, und es wird postuliert als absolut (§2). Aus diesem Entgegensetzen wird das Bestimmen abgeleitet (§3). Beide Wege sind richtig; denn die notwendige Bestimmtheit des Ich und das notwendige Sein des NichtIch stehen im Wechsel. Man kann von einem zum andern übergehen. Beide Wege sind möglich.

Aber gegenwärtiger hat die Vorzüge: Die Bestimmtheit des Ich ist zugleich Verbindungsmittel zwischen Ich und NichtIch. Was nach der gegenwärtigen Darstellung Verhältnis zwischen Bestimmtheit und Bestimmbarkeit genannt wurde, heißt im Buch Quantität, zuweilen auch Quantibilität. Dies hat zu Missverständnissen Veran-lassung gegeben. Quantität hat eigentlich nur das Setzende. Aber davon ist hier noch gar nicht die Rede. Der 3. Paragraph würde jetzt der 2. sein, und umgekehrt. Mit dem NichtIch ist abermal[s] ein anderer Weg eingeschla-gen worden, das NichIch ist nicht unmittelbar, sondern mittelbar postuliert worden.

P. 18, N.1. Durch diesen Satz wird das absolute Entgegensetzen überhaupt nachgewiesen.

P. 20, N.6. Das Entgegensetzen. Man kann Handeln nicht setzen / ohne Ruhe, Bestimmtes nicht ohne Bestimm-bares, Ich nicht ohne NichtIch, und daher kommt Einheit des Handelns und Einheit des Bewusstseins heraus.

P. 21, N.9. Hier wird erwiesen das absolute Entgegensetzen. Wenn dies unmöglich wäre, wem könnte etwas entgegengesetzt werden? Das Ich ist absolut gesetzt, also das absolut Entgegengesetzte ist das NichtIch.

P. 23, § 3. „mit jedem Schritte“ pp, es ist eigentlich nur von einem Deutlichmachen dessen, was in uns vorgeht, die Rede, es wird in der alten Weise fortgegangen und nur analysiert.

P. 24, N.1. „insofern“. In dem insofern liegt schon das, was abzuleiten ist, mit drin. Insofern bedeutet Quantität, Sphäre. Man könnte sagen: Wenn das NichtIch gesetzt ist, so ist das Ich nicht gesetzt. Nun soll in dem Bewusstsein das NichtIch vorkommen, und in demselben Bewusstsein auch das Ich; denn das NichtIch setzt nichts ohne ein Ich. Ein Gegenteil versteht man nicht, ohne sein Gegenteil mitzusetzen.

P. 26, N.1. Da nun Entgegengesetztes beisammen bestehen soll, so muss das Ich das Vermögen haben, Entgegengesetztes zusammen zu setzen in demselben Akt des Bewusstseins, weil eins ohne das andere nicht möglich ist. Im Ich ist das Vermögen, synthetisch zu verfahren.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 44f.



Nota. - Die im Hochschulbetrieb noch heute gepflogenen Vorlesungen heißen so, weil sie noch zu Kants Zeiten tatsächlich vorgelesen (und nach Bedarf kommentiert) wurden: aus den Kompendien, deren Benutzung die Fakultät den Lehrern vorgeschrieben hatte. Die waren viel zu teuer, als dass die Studenten sie sich hätten selber beschaffen können, und die Bibliotheken waren spärlich bestückt. Die Vorlesung ersetzt das Lehrbuch.

Fichte hat nun die Wissenschaftslehre zum erstenmal 1793/94 'gelesen', nicht nach eine Vorlage, die es dafür ja nicht geben konnte, sondern nach den bogenweise an die Hörer ausgelieferten Grundlagen der gesamten Wissen-schaftslehre, die so nach und nach entstand. Dass ein Text, der auf diese Weise zustandekommt, zu wünschen lässt, ist normal, Fichte hat es sogleich bemerkt. Doch zu einer neuen schriftlichen Ausarbeitung der Wissen-schaftslehre ist es nie gekommen - Fichte meinte bald, für eine Öffentlichkeit, die absichtlich falsch liest, dürfe man gar nicht schreiben. So hat er bis zum Schluss die Wissenschaftslehre nur mündlich und anhand der Grundlagen von 1793/94 vorgetragen. Krause hat F's Erläuterungen an dieser Stelle mitgeschrieben.

Hier sei auf seine Erläuterung zur 'Quantität' hingewiesen, die ansonsten verwirrend wäre. Gemeint ist, dass eine Sache X in sich als ein Mehr- und Vielfaches unterschieden werden kann: Quantabilität ist in der Tat der bessere Ausdruck.

Insgesamt bezeugt dieser Absatz, wie F. in seiner kritischen Zeit die methodologische und wissenslogische Problematik nie aus dem Blick verlor.
JE

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