Donnerstag, 16. Mai 2019

"Menschengestalt ist dem Menschen notwendig heilig."

Potsdam, Sanssouci

Der Mund, den die Natur zum niedrigsten und selbstigsten Geschäfte, zur Ernährung bestimmte, wird durch Selbstbildung der Ausdruck aller gesellschaftlichen Empfindungen, sowie er das Organ der Mitteilung ist. Wie das Individuum oder, da hier von festen Teilen die Rede ist, die Rasse noch tierischer und selbstsüchtiger ist, drängt er sich hervor; wie sie edler wird, tritt er zurück unter den Bogen der denkenden Stirn. 

Alles dies, das ganze ausdrückende Gesicht ist, wie wir aus den Händen der Natur kommen, nichts; es ist eine weiche, ineinander fließende Masse, in der man höchstens finden kann, was aus ihr werden soll, und nur da- durch, dass man seine eigene Bildung in der Vorstellung darauf überträgt, findet; - und eben durch diesen Man- gel an Vollendung ist der Mensch der Bildsamkeit fähig.

Dieses alles, nicht einzeln, wie es durch den Philosophen zersplittert wird, sondern in einer überraschenden und in einem Momente aufgefassten Verbindung, in der es sich dem Sinne gibt, ist es, was jeden, der mensch- liches Angesicht trägt, nötigt, die menschliche Gestalt überall, sie sei nun bloß angedeutet und werde erst durch ihn - abermals mit Notwendigkeit - darauf übertragen, oder sie stehe schon auf einer gewissen Stufe der Vollen- dung, anzuerkenn und zu / respektieren. Menschengestalt ist dem Menschen notwendig heilig.
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Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre,
SW Bd. III, S. 84f.



Nota. - Die historischen Fakten lieferten schon damals keine erfahrungsmäßige Evidenz für die Aussage, Men- schengestalt sei dem Menschen notwendig heilig. Zu oft hatte er sich dieser Notwendigkeit entwunden. Wie kommt so ein Satz an diese Stelle?

Die Transzendentalphilosophie hatte enthüllt, was auf dem Entwicklungsgang der Vernunft 'mit Notwendigkeit geschehen sein musste' - weil anders sie nie so, wie sie ist, hätte entstehen können. Wohl ist dieser Entwicklungs- gang aus Freiheit zurückgelegt worden; um aber zu diesem Ergebnis zurückgelegt werden zu können, hatte er so zu- rückgelegt werden müssen.

Die spekulative Rekonstruktion aus kritisch-analytisch bloßgelegten Prämissen ist überhaupt nur nötig gewesen, weil die Vernunft selber, die in möglich gewordener Erfahrung besteht, nicht darüber berichten kann, was gesche- hen sein mag, bevor sie gegeben war und - Erfahrungen machen konnte.

An dem Punkt, wo er die zunächst nur spekulative postulierte Reihe vernünftiger Wesen als im obigen Sinn be- dingt notwendig und im Rechtsverhältnis realisiert erwiesen hatte, war die Aufgabe der Transzendentalphiloso- phie ihrem Umfange nach - in die Tiefe wird sie unerschöpflich sein - erfüllt. Der Philosoph muss von nun an wie jeder andere von nachweislichen Tatsachen ausgehen.

Das hat Fichte ja offenkundig erkannt, denn ab besagtem Punkt argumentiert er mit Historisch-Faktischem. Nur dummerweise nicht mit Nachweislichem. Er argumentiert in Wahrheit gar nicht mehr, sondern versucht, seinen Leser mit blumiger Rhetorik in Stimmung zu setzen. Es ist ihm wohl klar, dass sein Räsonnement über Naturrecht schließlich auf Politik hinauslaufen wird, und das ist sein unverhohlener Zweck. Er will so tun, als sei die Heilig- keit der menschlichen Gestalt ein unmittelbarer, nicht weiterer Ableitung fähiger Satz der Vernunft selber.

Nicht, dass er eine löbliche Absicht verfolgt hat, steht in Frage. Aber philosophisch war es falsch und hat der Absicht selbst geschadet. Eine rationale Anthropologie hat den mühsamen Weg über die ersten Sozial- und Kulturbildungen der Menschen, die Weisen ihres Lebensmittelerwerbs und die Formen ihrer Arbeitsteilung zu gehen. Das fing zu Fichtes Zeit eben erst an, zu einem für die Vernunft brauchbaren Ergebnis ist es zuerst in Gestalt der Kritik der Politischen Ökonomie gelangt. Dazwischen lag die industrielle Revolution, davon konnte Fichte noch nichts ahnen. Aber inzwischen sind wir klüger.
JE

 

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