Mittwoch, 8. Mai 2019

Naturfabel.

A. Rackham

2) Wir verweilen noch einige Augenblicke bei der uns geöffneten Aussicht.

a. Jedes Tier bewegt sich wenige Stunden nach seiner Geburt und sucht seine Nahrung in den Brüsten der Mutter. Es wird durch den tierischen Instinkt, das Gesetz gewisser freier Bewegungen, worauf sich auch das gründet, was man Kunsttrieb der Tiere genannt hat, geleitet.Der Mensch hat zwar Pflanzen-Instinkt, aber tieri- schen in der gegebenen Bedeutung hat er gar nicht. Er bedarf der freien Hülfe der Menschen und würde ohne dieselbe bald nach seiner Geburt umkommen. Wie er den Leib der Mutter verlassen hat, zieht die Natur die Hand ab von ihm und wirft ihn gleichsam hin. 


Plinius und Andere haben sehr gegen sie und ihren Urheber geeifert. Rednerisch mag dies sein, aber philoso- phisch ist es nicht. Gerade dadurch wird bewiesen, dass der Mensch als solcher nicht Zögling der Natur ist / noch es sein soll. Ist er ein Tier, so ist er ein äußerst unvollkommenes, und gerade darum ist er kein Tier. Man hat die Sache oft so angesehen, als ob der freie Geist dazu da wäre, das Tier zu pflegen. So ist es nicht. Das Tier ist da, um den freien Geist in der Sinnenwelt zu tragen und mit ihr zu verbinden.

Durch diese äußerste Hülflosigkeit ist die Menschheit an sich selbst und hier zuvörderst die Gattung an die Gat- tung gewiesen. Wie der Baum durch das Abwerfen seiner Frucht seine Gattung erhält, so erhält der Mensch durch Pflege und Erziehung des Hülflosgeborenen sich selbst als Gattung. So produziert die Vernunft sich selbst und so nur ist der Fortschritt derselben zur Vervollkommnung möglich. So werden die Glieder an einan- der gehängt, und jedes künftige erhält den Geisteserwerb aller vorhergegangenen.
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Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre,
SW Bd. III, S. 81f.
 



Nota. - Wenn sich die Transzendentalphilosphie auf Faktisches beriefe, machte sie sich vom zufälligen Kenntnis- stand ihres Zeit abhängig - und wäre überholt, sobald jener überholt ist. Einen tierische Instinkt gibt es nicht und wurde auch von der zeitgenössischen Wissenschaft nicht als empirisch erwiesen behauptet. Er wurde angenom- men, weil ja doch irgendetwas dem Tier die... Vernunft ersetzen musste, ohne die man als Mensch nicht auskommt. 

Dass er den Boden der Transzendentalphilosophie längst verlassen hat, verheimlicht er dem Leser auch nicht länger, denn sonst würde er 'die Natur' kaum als Zeugen dafür aufrufen, was der Mensch 'ist'; aber schon gar nicht für das, was er sein soll. Hier lässt er die Natur als Protagonistin auftreten und lässt sie - nicht etwa die Freiheit - die Vernunft in die Welt setzen; freilich ex negativo, indem sie den Menschn zum "ersten Freigelas- senen der Schöpfung" macht. 

Der Gedanke stammt von F.'s Spinnefeind Herder, geht aber zurück auf die Bibel, wo der Schöpfer Adam und Eva die Frucht zwar verbietet, aber mit der Freiheit zum Ungehorsam begabt - was gedacht war als Gelegenheit zur Bewährung, aber als Erbsünde ins Auge ging. Doch eine Verquickung der Vernunft mit der heiligen oder pro- fanen Realgeschichte mag er sich nicht verkneifen, denn auf den sündigen? Urspung lässt er den Menschen sie historisch-evolutiv aufbauen und vermehren.

Wir finden uns in einem Reich der Fabel, von der Transzendentalphilosophie höchstens noch die Wörter Geist und Vernunft.
JE

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