Dienstag, 14. Mai 2019

Wozu der Mensch aufrecht geht.


c. Jedes Tier hat, wie wir oben schon bemerkten, angeborene Bewegungsmöglichkeiten. Man denke an die Biber, die Biene u. s. f. Der Mensch hat nichts dergleichen, und sogar / seine Lage auf dem Rücken wird dem Kinde gegeben, um den künstigen Gang vorzubereiten. - Man hat gefragt. ob der Mensch bestimmt sei, auf vier Füßen zu gehen oder aufrecht? Ich glaube, er ist zu keinem von beiden bestimmt; es ist ihm als Gattung überlassen worden, seine Bewegungsweise sich selbst zu wählen. 

Ein menschlicher Leib kann auf vier Füßen laufen, und man hat unter Tierem aufgewachsenen Menschen ge- funden, die dies mit unglaublicher Schnelligkeit konnten. Die Gattung hat meines Erachtens frei sich vom Bo- den emporgehoben und sich dadurch das Vermögen erworben, ihr Auge rund um sich herumzuwerfen, um das halbe Universum am Himmel zu überblicken, indes das Auge des Tieres durch seine Stellung an den Boden ge- fesselt ist, welcher seine Nahrung trägt.

Durch diese Erhebung hat er der Natur zwei Werkzeuge abgewonnen, die beiden Arme, welche. aller animali- sche Verrichtungen entledigt, am Körper hängen, bloß um das Gebot des Willens zu erwarten, und lediglich zur Tauglichkeit für die Zwecke desselben ausgebildet werden. Durch diesen gewagten Gang, der ein immer fortdauernder Ausdruck ihrer Kühnheit und Geschicklichkeit ist in Beobachtung des Gleichgewichts, erhält sie ihre Freiheit und Vernunft stets in der Übung, bleibt immerfort im Werden, und drückt es aus. Durch diese Stellung versetzt sie ihr Leben in das Reich des Lichts und flieht immerfort die Erde, die sie mit dem kleinst- möglichen Teile ihrer selbst berührt. Dem Tier ist der Boden Bette und Tisch; der Mensch erhebt alles das über die Erde.
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Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre,
SW Bd. III, S. 82f.
 



Nota. - Er breitet reichlich Material aus für den Eingang in eine biologische Anthropologie, aber die liegt an dieser Stelle gar nicht in seiner Absicht. Er mutmaßt vielmehr in metaphysischer Weise über einen Plan der Natur, in dem die Freiheit der Menschen vorausberechnet liegt und für den sie in seiner Leibesgestalt die phy- sischen Bedingungen geschaffen hat. Und zwar nicht als ein heuristisches Prinzip der empirischen Forschung, sondern als konstitutive Basis einer positiven Lehre, aus der er in der Folge rechtliche und politische Folgerun- gen herleiten will. Nicht nur hat er Kritik und Transzendentalphilosophie hinter sich gelassen; er geht vielmehr direkt zu einer dogmatischen Predigt über.
JE

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