Mittwoch, 19. März 2014

Anschauung.


 
Das Ich betrachtet ein Nicht-Ich, und es kommt ihm hier weiter nichts zu, als das Betrachten. Es setzt sich in der Betrachtung, als solcher, völlig unabhängig vom Nicht-Ich; es betrachtet aus eigenem Antriebe ohne die geringste Nöthigung von aussen; es setzt durch eigene Thätigkeit, und mit dem Bewusstseyn eigener Thätigkeit, ein Merkmal nach dem anderen in seinem Bewusstseyn. Aber es / setzt dieselben als Nachbildungen eines ausser ihm Vorhandenen. – 

In diesem ausser ihm Vorhandenen sollen nun die nachgebildeten Merkmale wirklich anzutreffen seyn, und zwar nicht etwa zufolge des Gesetztseyns im Bewusstseyn, sondern völlig unabhängig vom Ich, nach eigenen in dem Dinge selbst begründeten Gesetzen. Das Nicht-Ich bringt nicht die Anschauung im Ich, das Ich bringt nicht die Beschaffenheit des Nicht-Ich hervor, sondern beide sollen völlig unabhängig von einander seyn, und dennoch soll zwischen beiden die innigste Harmonie seyn. ...

– Wir werden bald sehen, dass der menschliche Geist diesen Versuch wirklich, aber freilich nur vermittelst der Anschauung, und nach den Gesetzen derselben, doch ohne dessen sich bewusst zu seyn, vornimmt; und dass ebendaher die geforderte Harmonie entspringt. ... / ...

Die da selbst aufgezeigte Handlung bestand darin, dass das Ich seine im Widerstreit befindliche Thätigkeit, nach hinweggedachter Bedingung als thätig, mit hinzugedachter aber als unterdrückt und ruhend, doch aber in das Ich setzte. Eine solche Handlung ist offenbar die abgeleitete Anschauung. Sie ist an sich, als Handlung ihrem Daseyn nach, lediglich im Ich begründet, in dem Postulate, dass das Ich in sich setze, was in demselben angetroffen werden soll, laut des vorigen §. Sie setzt etwas in dem Ich, was schlechthin nicht durch das Ich selbst, sondern durch das Nicht-Ich begründet seyn soll, den geschehenen Eindruck. Sie ist, als Handlung, völlig unabhängig von demselben, und derselbe von ihr, und geht mit ihm parallel. – 

Oder dass ich meinen Gedanken, wiewohl durch ein Bild, völlig klar mache: – die ursprüngliche reine Thätigkeit des Ich ist durch den Anstoss* modificirt und gleichsam gebildet worden, und ist insofern dem Ich gar nicht zuzuschreiben. Jene andere freie Thätigkeit reisst dieselbe, so wie sie ist, von dem eindringenden Nicht-Ich los, betrachtet und durchläuft sie und sieht, was in ihr enthalten ist; kann aber dasselbe gar nicht für die reine Gestalt des Ich, sondern nur für ein Bild vom Nicht-Ich halten. 

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Grundriss des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre, in Rücksicht auf das theoretische Vermögen, SW Bd. I, S. 342f.

*) durch das Nicht-Ich 

Nota.

Die Anschauung als der Zustand, in dem die reale Tätigkeit des Ich und die zugedachte Tätigkeit des Nicht-Ich einander 'an der Grenze' aufheben, ist offenbar, sofern jener als solcher festgehalten und als dauernd gesetzt wird, die spezifische Form des ästhetischen Erlebens.
JE 


 

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