Gustav Klimt, Philosophie
Auch bei der flüchtigsten Selbstbeobachtung wird
jeder einen merkwürdigen Unterschied zwischen den verschiedenen
unmittelbaren Bestimmungen seines Bewusstseyns, die wir auch
Vorstellungen nennen können, wahrnehmen. Einige nemlich erscheinen uns
als völlig abhängig von unserer Freiheit, aber es ist uns unmöglich zu
glauben, dass ihnen etwas ausser uns, ohne unser Zuthun, entspreche.
Unsere Phantasie, unser
/ Wille erscheint uns als frei.
Andere beziehen wir auf eine Wahrheit,
die, unabhängig, von uns, festgesetzt seyn soll, als auf ihr Muster; und
unter der Bedingung, dass sie mit dieser Wahrheit übereinstimmen
sollen, finden wir uns in Bestimmung, dieser Vorstellung gebunden. In
der Erkenntniss halten wir uns, was ihren Inhalt betrifft, nicht für
frei. Wir können kurz sagen: einige unserer Vorstellungen sind von dem
Gefühle der Freiheit, andere von dem Gefühle der Nothwendigkeit
begleitet.
Es kann vernünftigerweise nicht die Frage
entstehen: warum sind die von der Freiheit abhängigen Vorstellungen
gerade so bestimmt, und nicht anders? – denn indem gesetzt wird, sie
seyen von der Freiheit abhängig, wird alle Anwendung des Begriffs vom
Grunde abgewiesen; sie sind so, weil ich sie so bestimmt habe, und hätte
ich sie anders bestimmt, so würden sie anders seyn.
Aber es ist allerdings eine des Nachdenkens
würdige Frage: welches ist der Grund des Systems der vom Gefühle der
Nothwendigkeit begleiteten Vorstellungen, und dieses Gefühls der
Nothwendigkeit selbst? Diese Frage zu beantworten ist die Aufgabe der
Philosophie; und es ist, meines Bedünkens, nichts Philosophie, als die
Wissenschaft, welche diese Aufgabe löset.
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Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre, SW I, S. 422
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