Sonntag, 16. Juni 2019

Das Anschauen ist, im Gegensatz zum Gefühl, Tätigkeit.

Peder Mørk Mønsted 

Ich fühle in dem Anschauen mich bloß tätig; das dem Anschauen Entgegengesetzte muss außer mir gesetzt wer- den und wird sonach zum NichtIch, zu einem nur Begrenzenden. Dass es ein NichtIch sei, sehen wir hier nur von dem philosophischen Gesichtspunkte, es ist bloß ein Begrenzendes. Das Ich ist nicht aus sich herausgegan- gen. Meine eigene Beschränktheit ist es, welche angeschaut wird, aber sie wird nicht angeschaut als die meinige, sie wird nicht auf mich bezogen. Ich bin das gefühlte Subjekt der Anschauung, und qualis talis (als solches) tätig; die Beschränktheit ist es, wodurch die ideale Tätigkeit[,] ideale Tätigkeit wird.

In der Anschauung bin ich nicht das Angeschaute, nicht das Objekt derselben. Das Anschauen [ist,] im Gegen- satz mit dem Gefühle[,] Tätigkeit. Mit dem Anschauen ist Selbstgefühl verknüpft. Im Anschauen fühle ich mich als tätig; was ist nun das Objekt? Es ist nichts anderes als das Gefühl selbst, das Gefühl meiner Beschränkheit, aber diese Begrenztheit wird nicht gesetzt als die meinige. Das Objekt wird gesetzt als außer mir, NichtIch, es ist entg-/gengesetzt dem Ich, aber auf dieses Entgegengesetzte wird nicht gemerkt, es wird nicht auf mich bezogen.

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Wissenschaftslehre nova methodoHamburg 1982, S. 81f.



Nota. - Im Fühlen sind Tätigkeit und Leiden vereinigt. Es ist die Synthesis vor aller Teilung, es ist die Stelle, wo Ich und NichtIch einander 'setzen', die Stelle wo mir mit mir-selbst zugleich eine Realität 'gesetzt' ist; indem ich das Andre fühle, fühle ich mich.

Aber mehr auch nicht. Von Bewusstsein kann noch in keinem Sinn die Rede sein: Dazu müsste ich mich aus der unmittelbaren sinnlichen Einheit lösen und, indem ich vom Andern zurücktrete, zu mir selbst Abstand nehmen.

Das geschieht in der Anschauung. Indem ich mich anschauend im Gegenstand versenke, gehe ich mir, nachdem ich mich eben zum erstenmal gefühlt habe, wieder verloren. Im ästhetischen Zustand, sagt Schiller, sei der Mensch "gleich Null". Aus dieser unverhofften Wiedervereinigung kann er sich nur lösen, indem er vom An- schauen zum Bestimmen übergeht: des Gegenstands sowohl als seiner selbst. Er geht zur Reflexion in specie über: Im Anschauen geschah sie erst 'an sich', im Bestimmen wird sie - und er - für ihn.

Wie kommt aber das Ich oder jenes A-Morphem, das ihm vorausging, dazu, sich all dem zu unterziehen? 

Wir nehmen vorab an: durch Freiheit - was nichts anders heißt, als dass es gewollt haben muss. Was aber zugleich heißt, dass es das ebensowohl unterlassen konnte.

*

'Der Mensch' hat sich eine Welt eingerichtet, die von mannigfaltigen Bestimmten angefüllt ist und in der, nicht zuletzt durch seine nimmermüde Tätigkeit, allezeit neues unbestimmt-Bestimmbares hinzukommt. Um in dieser Welt zu bestehen, wird er mit dem Bestimmen ewig und unendlich fortfahren müssen.

Er wird es aber, wenn er will, unterbrechen können - solange er will und solange die geschäftige Welt es ihm er- laubt. Der ästhetische Zustand, das Anschauen um seiner selbst willen, wurde möglich, seit mit dem Bestimmen einmal begonnen wurde.
JE

Freitag, 14. Juni 2019

Zwei Wissenswelten.

 
Man muss die Vernunft als Ganzes auffassen, dann findet kein Widerstreit statt, dann ist die Natur ganz absolut durch sich selbst gesetzt als absolutes Sein, entgegengesetzt nur dem absoluten Ich. Diese Ansicht muss eine Na- turwissenschaft nehmen.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 240 



Nota. -  Mit der Natur - nämlich allem, was in ihr wirklich vorkommt - beschäftigen sich die Wissenschaften. Sie ist, wie sie ist, und ohne Apriori, das ihr zugrunde läge. Die Vernunft nimmt sie so, wie sie ist, und das heißt: nicht anders, als sie erscheint. Die Vernunft ist realistisch. Auch gegenüber der selbstgemachten Geschichte der Menschen, die in ihr vorkommen.

Ansonsten gibt es überhaupt nur die Späre des absoluten Ich, und das ist nichts anderes der Gang, den die Vor- stellung genommen hat und nehmen musste, um Vernunft allererst hervorzubringen. Der Natur ist sie natürlich, als ihrem Gegenstand, entgegengesetzt und kommt in ihr nicht vor. Sie ist die Sphäre absoluter Tätigkeit.
JE

 

Mittwoch, 12. Juni 2019

Wann ist die Aufgabe der Transzendentalphilosophie erfüllt?

  E. Hicks

Der sachliche Gehalt der Aufforderung durch die Reihe vernünftiger Wesen ist der, dass ich mir, um meiner problematisch vorausgesetzten Zugehörigkeit zu ihr Anerkennung zu verschaffen, in der sinnlichen Welt Zwecke setze.

Denn nichts anderes als dies ist es, das sie erstens zu einer Reihe, und zweitens zu einer Reihe vernünftiger Wesen bestimmt. 


Nicht schon dass sie, jeder für sich, ohn' Ende bestimmen, was immer ihnen vorkommt, und dass sie sich in ihrer intelligiblen Welt und in ihrer jeweiligen Freiheitssphäre Zwecke setzen, und womöglich - der Himmel mag wis- sen, wie - alle dieselben. In der intelligblen Welt, die lediglich ein Noumenon ist, bliebe jedes in seiner Sphäre, ohne einem andern zu begegnen. Denn dort stehen sie nicht inWechselwirkung.

Begegnen können sie sich nur in der sinnlichen Welt von Raum und Zeit, denn da muss der eine die Sphäre seiner Freiheit so wählen, dass sie die der andern nicht verletzt: Sie müssen sich - in Raum und Zeit - beschrän- ken. Prosaisch ausgedrückt: In Raum und Zeit stoßen die Zwecke, sobald sie im sinnlichen Produkt realisiert sind, an einander und müssen doch zugleich bestehen können. Nichts anderes ist reale Wechselwirkung.

Die Sphäre ihrer Freiheit so zu beschränkten, dass sie die Freiheitssphäre der andern nicht verletzt, macht Ver- nunft aus - und bestimmt das Rechtsverhältnis.* In der Wirklichkeit wird das wechselseitige Beschränken nicht ohne Streit abgehen, denn nicht immer werden die richtigen Argumente gleich als solche erkannt, weil das In- teresse ihnen entgegensteht.

Dies zu demonstrieren war die Aufgabe der Transzendentalphilosophie. Die Wissenschaftslehre hat sie erfüllt.

*) Dass es Vernunft gäbe, bestreitet heute mancher. Aber ihr Recht reklamieren sie alle. Doch das ist dasselbe.




Dienstag, 11. Juni 2019

Allgemeine Sittenlehre?

G. di Bienvenuto, Hercules am Scheideweg

So nicht in der allgemeinen Sittenlehre; Wissenschaftslehre des Praktischen, die insbesondere Ethik wird. D. h. das Praktische ist Handeln überhaupt, das Handeln kommt aber durch die Grundlage immerfort vor, indem auf [unleserliches Wort] der ganze Mechanismus gründet. Daher kann die besondere Wissenschaftslehre des Prakti- schen nur sein eine Ethik. Diese lehrt, wie die Welt durch vernünftige Wesen gemacht werden soll, ihr //242// Resultat ist Ideal, inwiefern dies Resultat sein kann, da es nicht begriffen werden kann.

Bemerkung: Beides, die theoretische und praktische Philosophie ist Wissenschaftslehre, beide liegen auf dem transzendentalen Gesichtspunkt; erstere, weil ja hier auf das Erkennen gerechnet wird, also auf etwas in uns, und nicht geredet wird von einem Sein; letztere, weil überhaupt gar nicht das Ich, das Individuum betrachtet wird, sondern die Vernunft überhaupt in ihrer Individualität. Die erstere Lehre ist konkret, die letzte ist die höchste Abstraktion: der des Sinnlichen zu dem reinen Begriffe als einem Motiv.

3) Es wird in der Ethik nicht das eine oder andere Individuum betrachtet, sondern die Vernunft überhaupt. Nun ist die Vernunft dargestellt in mehreren Individuen, die sich in der Welt durchkreuzen. Soll der Zweck der Vernunft erreicht werden, so muss ihre [=deren] physische Kraft gebrochen und die Freiheit jedes eingeschränkt werden, damit nicht einer des andern Zwecke störe und hintertreibe.

Daraus entsteht die Rechtslehre oder Naturrecht. Die Natur dieser Wissenschaft ist sehr lange verkannt wor- den; sie hält die Mitte zwischen theoretischer und praktischer Philosophie, die ist theoretische und praktische Philosophie zugleich. Juridische Welt muss vor der moralischen vorhergehen.
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Wissenschaftslehre nova methodo, S. 242


 

Nota I. - Die Vernunft 'ist dargestellt in mehreren Individuen, die sich in der Welt durchkreuzen'... Sie ist nicht bloß "dargestellt in...", sondern ist buchstäblich nichts anderes als das vernünftige Handeln dieser mehreren Individuen, 'die sich in der Welt durchkreuzen'. Vorher jedenfalls 'ist' sie nicht.

Der große Zweck der Vernunft sei Übereinstimmung, sagt F. an anderer Stelle (aber zur selben Zeit); und hier genauer: dass "nicht einer des andern Zwecke störe und hintertreibe". Von welchen Zwecken hier die Rede ist, unterscheidet er nicht. Wenn Zweie um dieselbe Schöne buhlen, gebietet ihnen die Vernunft da etwa 'Überein- stimmung'? Oder überhaupt irgendwas? Nein, das ist etwas - und das dürfte F. kaum anders gesehen haben -, wozu die Vernunft gar keine Meinung hat, ja wovon sie nicht einmal Notiz nimmt.

Ein jedes wirkliche Individuum hat tausend Zwecke, die 'eine Reihe vernünftiger Wesen' gar nichts angehen, sondern nur ihn und die, denen er persönlich verbunden ist; und sicher sehr viel mehr, als solche Zwecke, die das öffentliche Interesse berühren. Da hat er es nur mit seinem Geschmacksurteil zu tun (und moralische Urteile sind Geschmackurteile, die auf Willensakte bezogen sind); das muss er mit sich ausmachen und mit denen von seinen Nächsten, denen er Zugang zu seinem Privatleben gewährt. Und nur jene andern Zwecke, deren Realisierung öffentliche Folgen haben würde, sind dem Richtspruch der Vernunft unterworfen und berühren das Reich des Rechtlichen und daher auch das Politische.

Fichte lehrte zu einer Zeit, als die Scheidung der bürgerlichen Welt in einen öffentlichen und einen privaten Raum noch kaum begonnen hatte - weil die vielen Privaten vom Rechtlichen und Politischen noch ausge- schlossen waren; seine Lehre hatte ja nicht zuletzt den Zweck, ihnen solchen Zutritt erst zu verschaffen. Wie die Freiheiten der leidenschaftlich sinnlichen Individuen gegen die Ansprüche der 'Reihe vernünftiger Wesen' zu wahren sind, lag noch nicht in seinem Gesichtsfeld. Das ist, wie gesagt, historisch verständlich, aber ein theoretischer Fehler war es doch.
20. 5. 17 


Nota II. - Nach F.s Darstelluung am Schluss der Nova methodo ist 'das Ästhetische' die Brücke vom 'gemeinen', dogmatischen und realistischen Bewusstsein zum transzendentalen Gesichtspunkt. Wie aber das? Indem die an die Dinge verfallene Vernunft an einer Stelle - welcher?  - sich nicht mehr genügt - wieso? - und über sich hin- ausgeht - wie?!

Das erklärt er gar nicht. Er sagt lediglich: Es ist so. Der Beweis, dass es so ist, sind die Schönen Künste, genauer, die Künstler, denn sie tun es ja, und wenn es nicht möglich wäre, könnten sie es nicht.

Es ist wahr, die Transzendentalphilosphie sagt nicht, dass es so kam, weil es so kommen musste, und sie wisse, warum. Das Warum stand ohnehin fest: Was immer in der Vorstellung geschieht, geschieht durch Freiheit. Die Transzendentalphilosophie zeigt immer nur die Bedingungen der Möglichkeit auf; um die Möglichkeit zu reali- sieren, braucht es dann nur noch einen Willen.

Was aber ist die Bedingung der Möglichkeit des ästhetischen Erlebens? Dass die Reflexion sich überbietet? Nein, im Gegenteil: dass sie ihrer enträt. Die Reflexion - das, was regulär als vernünftig gilt - kommt immer nicht weiter als bis zum Verhältnis von Ursache und Wirkung. Sie hat nichts anderes, wovon sie ausgehen könnte, als das, was sie vorfindet - als seiend. Und das sind immer Begriffe; genauer: Begreifliche und Begriffene; Erfahrungsbegriffe - phainomena - so gut wie reine Verstandesbegriffe - noumena; als da wären Ich, Welt, Grund und - nun ja: Sein. 

Das Ästhetische ist möglich, weil es der Vernunft aus Freiheit möglich ist, sich des Begreifens zu enthalten. Dann ist die Welt nicht gegeben, sondern wird angeschaut - als ein Geschehen, so, als ob sie eben gemacht würde, und ich bin mittenmang dabei. Das Paradox ist: Es wird lediglich angeschaut - aber geurteilt wird doch. Nicht nach Grün- den, die kennt erst die Reflexion; sondern danach, was ohne Interesse gefällt und was nicht. 

So kommt das Ich außer, neben und über sich zu stehen. So wird der transzendentale Gesichtspunkt möglich. Und was für das Geschehende überhaupt gilt, gilt besonders für das, was willentlich geschieht. Moralität besteht in ästhetischen Urteilen über Willensakte.
JE

 

Montag, 10. Juni 2019

Was folgt auf die vollendete Vernunftkritik?


Fichte sagt am Schluss der Wissenschaftsehre nova methodo zusammenfassend:

Um uns selbst zu finden, müssen wir die Aufgabe denken, uns auf eine gewisse Weise zu beschränken. Diese Aufgabe ist für jedes Individuum eine andere, und dadurch eben wird bestimmt, wer dieses Individuum eigent- lich sei. 

Diese Aufgabe erscheint nicht auf einmal, sondern im Fortgange der Erfahrung analytisch - jedesmal, inwiefern ein Sittengebot an uns ergeht. Aber in dieser Aufforderung liegt zugleiuch, da wir praktische Wesen sind, zu einem praktischen Handeln Aufforderung. Dies ist für jedes Individuum auf besondere Art gültig. Jeder trägt sein Gewissen in sich und ist ein ganz besonderes.

Aber die Weise, wie das Vernunftgesetz allen gebiete, lässt sich nicht in abstracto aufstellen. So eine Untersu- chung wird von einem hohen Gesichtspunkte aus angestellt, auf welchem die Individualität verschwindet und bloß auf das Allgemeine gesehn wird. Ich muss handeln, mein Gewissen ist mein Gewissen; insofern ist die Sittenlehre individuell.

So nicht in der allgemeinen Sittenlehre; Wissenschaftslehre des Praktischen, die insbesondere Ethik wird. D. h. das Praktische ist Handeln überhaupt, das Handeln kommt aber durch die Grundlage immerfort vor, indem auf [un- leserliches Wort] der ganze Mechanismus gründet. Daher kann die besondere Wissenschaftslehre des Praktischen nur sein eine Ethik. Diese lehrt, wie die Welt durch vernünftige Wesen gemacht werden soll, ihr / Resultat ist Ideal, inwiefern dies Resultat sein kann, da es nicht begriffen werden kann.

Bemerkung: Beides, die theoretische und praktische Philosophie ist Wissenschaftslehre, beide liegen auf dem transzendentalen Gesichtspunkt; erstere, weil ja hier auf das Erkennen gerechnet wird, also auf etwas in uns, und nicht geredet wird von einem Sein; letztere, weil überhaupt gar nicht das Ich, das Individuum betrachtet wird, sondern die Vernunft überhaupt in ihrer Individualität. Die erstere Lehre ist konkret, die letzte ist die höchste Abstraktion: der des Sinnlichen zu dem reinen Begriffe als einem Motiv. 

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J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 241f.



Nota. - Kein anderer Autor hat wie Fichte so regelmäßig während der Darstellung seines Systems auf die Darstel- lung reflektiert. Auf das Verfahren nicht nur, sondern auch auf das, was dargestellt wird, denn um dessen Bestim- mung geht es ja; so dass nie vom Verfahren des Bestimmens allein, sondern immer auch von dem je Bestimmten die Rede ist.

Dies kam mit § 19 zu einem Schluss: Was heißt Wissen und was ist das, was wir wissen können?


Idealerweise müssten von da aus alle reellen Wissenschaften neu aufgebaut werden: "Weltlehre", nämlich Physik und Biologie (wobei Chemie noch keine eigenes Fach ist). Das nennt Fichte 'Theoretische Philosophie', er rech- net sie offenbar zur Besonderen Wissenschaftslehre hinzu. Warum? Weil sie 'aufstellt, was notwendig Erfahrung ist und sein kann'.

Die wirklichen Wissenschaften können aber nicht von vorn anfangen. Neues empirisches Material fällt täglich an, es muss dem Wissensschatz an dem Punkt einverleibt werden, an dem er sich eben befindet - mit den Methoden, die neuestens verfügbat sind, und das geschieht unter aller Augen im Streit. Die Wissenschaftslehre wird sie bes- tenfalls auf Schritt und Tritt kritisch begleiten: dass sie ihre Begriffe nicht aus der Luft greifen und nicht für Er- fahrung ausgeben, was doch als Prämisse unterstellt wurde. Und wird sie stets anhalten, auszuscheiden, was an dogmatischem Bodensatz mitgeschleppt wurde.

Dann freilich hieße es die kritische Philosophie überdehnen, wollte man sie in die Realwissenschaften hinein- treiben und selber positiv werden lassen. Sie kann nicht selber Realwissenschaft werden und muss deren Propä- deutik und kritische Instanz bleiben.

Das sieht Fichte offenbar ganz anders; wie offenbar auch Kant, bei dessen Opus postumum es sich doch wohl um den Versuch handelte, die zeitgenössische (Newton'sche) Physik in den Ergebnissen der Transzendentalphiloso- phie zu gründen. Recht und Sittenlehre hatte F. selbst ja bereits aus der Wissenschaftslehre abgeleitet, bevor er diese nova methodo vorzutragen begonnen hat. Beim Naturrecht haben wir bereits gesehen, wie der Versuch, die Vernunftkritik in positives Wissen hinüberzumodeln, in die Irre führt. Sobald die Kritik den Rechtsbegriff etabliert hat, mag der kritische Philosoph sich im Lichte dieses seines Begiffs am politischen Tageskampf um das gelten-sollende Recht seiner Zeit beteiligen. 

An obiger Stelle erklärt er stattdessen die Absicht, eine ideale Welt zu entwerfen, die indessen gar nicht begreif- lich wäre. Sie ist nicht begreiflich, daher lässt sie sich auch nicht in einzelne Schritte zerlegen, die auf einander aufbauen und den großen Vorteil böten, praktisch unternommen werden zu können. Das Ideal lässt sich dagegen nur in sonntäglichen Weihestunden beschwören.

Und doch hat Fichte seinen Plan einer idealen Welt alsbald zu einem praktikablen ersten Schritt konkretisiert. Sein Geschlossener Handelsstaat sollte ein Durchgangsstadium zu einem vernunftmäßig eingerichteten Gemeinwesen sein. Aber wer ihn einrichten und mit welchen Übergangsmaßnahmen er eingeleitet werden könne, hat er nicht hinzugeschrieben. Er hat kein politisches Programm formuliert, sondern ein gelehrte Abhandlung geschrieben, die auch unter den Gelehrten kaum Beachtung fand.

Noch weniger als die Wissenschaft lässt Geschichte sich nochmal von vorne anfangen. 

*

Nachdem ich so weit gekommen bin, kann ich endlich den Punkt berühren, um den des mir hier eigentlich geht: Wenn es denn möglich wäre, Staat und Gesellschaft nach einem idealen Vernunftplan einzurichten, so wäre die Rechtslehre und keine 'allgemeine' Sittenlehre seine Grundlage. Denn in der Tat gründet die Rechtslehre und erst recht das Recht auf der Vernunft. Sittlichkeit liegt der Vernunft voraus als Teilbereich des Ästhetischen, und daher lässt sie sich weder verbegrifflichen noch diskursivieren.

Vernünftig ist, was der Bestimmung nach in die Wechselwirkung der Reihe vernünftiger Wesen eingeht, und da- her ist es intelligibel. Die je einzelnen Richtsprüche meines Gewissens gehören nicht dazu; intelligibel sind sie weder mir noch sonstwem. Intelligibel sind Bestimmungen; meine Gewissensentscheidungen werden mir zuteil, ich weiß nicht wie noch von wem noch wozu. Das weist sie aus als Teilhaber des Ästhetischen.

So wenig wie eine Allgemeine Ästhetik kann es eine allgemeine Sittenlehre geben. Hier wird die Anschauung selbst gewertet, prädiziert, das individuelle Ich ist hinter sich zurückgetreten und sieht von sich ab, nämlich sofern es Zwecke setzen könnte, die mit Zwecken Anderer zu vermitteln wären. Das sittliche Urteil ist, wie das ästhetische, singulär und steht allein für sich und wird um seiner selbst willen gefällt. Es ist ohne Gründe und ohne alle Vernunft. Ein Glück nur, dass ich es vor niemandem verantworten muss; ich wüsste ja nicht, wie. Denn ich war nicht tätig und bei mir, sondern fühlte mich empfangend und außer mir. Ich hätte mich schon sträuben müssen, aber das konnte ich vor mir nicht verantworten.

*

Wie kann es sein, dass Fichte bei alle seiner methodischen Pedanterie sich so verirrt hat? Über Motive - Tem- perament, Geltungswille, Wirkenwollen - ließe sich nur mutmaßen. Aber die Gründe, die es möglich gemacht haben, müssen sich in seinem Denken auffinden lassen. Und lassen sich auffinden - es ist sein beständiges Schwanken zwischen einer kritischen und einer dogmatischen Auffassung von Vernunft.


Die kritische Vernunftauffassung zieht der Transzendentalphilosophie eine klare Grenze. Sie geht nicht weiter, als ihre Gründe tragen. Ausgegangen war sie von der historischen Gegebenheit eines Vernunftsystems und wollte klären dessen Woher und dessen Wozu. War das geschehen, hatte sie rückblickend die gegebenen Wissenschaften von dogmatischen Resten zu säubern und ihre aktuellen Fortschritte von dogmatischen Fehlgriffen freizuhalten. Ihre positive Aufgabe war und ist Kritik.


Der dogmatische Vernunftglaube, der an mancher Stelle durch Fichtes Texte geistert, macht solche Bescheidung nicht nötig. Weil er Glaube ist, muss und kann er nicht begründet werden und kann er die Frage nach seiner Reichweite gar nicht stellen. Für ihn ist Vernunft das mystische Urschöne, das in des Schöpfers ureigenem Rat- schluss beschlossen liegt und dessen Glanz soweit reicht wie er.

JE

Freitag, 7. Juni 2019

Bestimmen und das Bestimmen bestimmen.


Alles Denken ist Übergehen von Bestimmbarkeit zur Bestimmtheit. Alles Denken ist bestimmte Tätigkeit, die etwas / aus der Masse herausreißt und bestimmt. Sowie etwas in die Form des Denkens aufgenommen wird, wird es selbst bestimmt. (Dieses ist die erste Hauptbemerkung, die man sich klarmachen muss, um einzusehen, wie aus dem Übersinnlichen ein Sinnliches wird.)

Wenn wir nun das Wollen denken, so wird es gerade so gedacht, wie wir es oben gedacht und beschrieben haben.

(Die zweite Hauptbemerkung ist, dass allem Bestimmen ein Bestimmbares vorausgesetzt werden muss, dies liegt in der Form unseres sinnlichen Denkens.)

 Das Intelligible wird sinnlich, indem es mit einem Bestimmbaren zusammen gedacht wird.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 145
f. 



Nota I. - Die Tätigkeit der Einbildungskraft ist zuerst real, daraus erfolgt ein Widerstand, er äußerst sich im Ge- fühl. Das Vorstellen beginnt mit der Anschauung des Gefühls als dieses, sie ist die erste Stufe der Reflexion = ideale Tätigkeit; ist setzen. Die Aufnahme des Gesetzten in den Begriff ist bestimmen: Hier beginnt denken in spe- cie. Bestimmen ist aber verendlichen. Indem ein Intelligibles gedacht werden soll, wird es bestimmt und eo ipso verendlicht. - Sobald wir wirklich zu denken anfangen, verlassen wir das Reich des bloß Intelligblen und treten in die Sinnlichkeit ein. 

Das ist scholastisch formuliert, Fichte selbst hat auf dergleichen verzichtet. Es ist auch kein Lehrsatz, sondern eine Verständnishilfe.
24. 12. 16

Nota II. -  Alles Tätigsein ist Übergehen vom bestimmbar-Unbestimmten zum Bestimmen. Sofern 'Tätigkeit-überhaupt' gedacht wird, wird sie nur als dieses gedacht. Das erste, was es zu bestimmen gilt, ist das Wollen. Die erste Willensbestimmung ist das Auswählen eines Gegenstands aus der Mannigfaltigkeit des Erscheinenden. Noch ist der Gegenstand allein so bestimmt: dass ich ihn ausgewählt habe.

Die Unterscheidung von realer und idealer Tätigkeit ist hier noch ohne Belang. Dass ich einen Gegenstand ge- wählt habe, ist real. Wenn ich daran denke, dass ich ihn gewählt habe, ist es ein idealer Akt. Welcher Art der Ge- genstand selber ist, ein gedachter oder sinnlich erfahrener, ist gleichgültig - und muss es sein, denn als ich ihn wählte, nämlich zum Gegenstand meiner realen Vorstellung machte, konnte ich darüber noch nichts wissen. Dafür bedurfte es einer Reihe weiterer Akte, realer wie idealer.

Sinnliche Gegenstände begegnen einem Vernunftwesen doppelt - als Ding in Raum und Zeit und als Begriff. Das eine ist das, was mir erscheint, das andere ist die Bedeutung, die ich ihm beimesse. Das eine ist sinnlich, das andere intelligibel. Ich mag mir einen intelligiblen Gegenstand - einen Begriff - real vorstellen und ideal auf mein Vorstellen-seiner reflektieren. In beiden Fällen 'ist' er intelligibel und nicht sinnlich-real.

Die Wissenschaftslehre verfährt allezeit sowohl auf der ersten semantischen Ebene als auch auf der zweiten:  Das Ich tut, und eine andere Intelligenz schaut zu. Beides kann nur parallel dargestellt werden, und doch muss es un- terschieden beiben. Die Schwierigkeit liegt in der transzendentalen Betrachtungsweise selbst. Sie beschreibt die Tätigkeit dessen, der selber in seinem Tun befangen ist, aus der Sicht eines unbefangenen Zuschauers. Der Zu- schauer handelt nie selbst, sondern immer nur, als ob er selber handeln würde. Doch nur er hat den Abstand, um auf das wirklich geschehene Handeln reflektieren zu können. Während der eine seine Tätigkeit bestimmt, be- stimmt der andere... nicht, dass er sie bestimmt, sondern als was er sie bestimmt.

Denn der Zuschauer - die Wissenschaftslehre - befindet sich idealiter schon auf dem Standpunkt des ganzen Systems; anders hätte er - sie - mit dem Beschreiben des wirklichen Handelns gar nicht erst beginnen können.

Um dies abzurunden: Sache der Transzendentalphilosophie ist es darum nicht zu zeigen, wie aus einem Über- sinnlichen ein Sinnliches wird, sondern wie aus dem Sinnlichen das Intelligible hervorgegangen ist: Es ist die Ur-Teilung des Handelns in Gegenstand und Absicht.

Und nicht zu vergessen: Bestimmen ist reale Tätigkeit, Bestimmen des Bestimmens ist ideale Tätigkeit.
JE


  
Nota - Das obige Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und ihre Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Ihre Nachricht auf diesem Blog. JE.

Donnerstag, 6. Juni 2019

Genetisches Verfahren und dogmatische Begriffsdialektik.


1. Insofern das Nicht-Ich gesetzt ist, ist das Ich nicht gesetzt; denn durch das Nicht-Ich wird das Ich völlig aufgehoben.

Nun ist das Nicht-Ich im Ich gesetzt: denn es ist entgegengesetzt; aber alles Entgegengesetzte setzt die Identität des Ich, in welchem gesetzt und den Gesetzten entgegengesetzt wird, voraus.

Mithin ist das Ich im Ich nicht gesetzt, isofern das Nicht-Ich darin gesetzt ist.

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Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, Hamburg 1979, S. 26


[ad Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, S. 26, N.1] Da nun Entgegengesetztes beisammen bestehen soll, so muss das Ich das Vermögen haben, Entgegengesetztes zusammen zu setzen in demselben Akt des Bewusst- seins, weil eins ohne das andere nicht möglich ist. Im Ich ist das Vermögen, synthetisch zu verfahren.

Synthesis soll heißen zusammensetzen; nun kann aber nur zusammengesetzt werden, was entgegengesetzt ist. Soll nun in einem Akt zusammengesetzt werden, so muss [das Ich] in einem Akte Entgegengesetztes, also ein Mannigfaltiges zu Stande bringen können; mithin muss ein solcher Akt einen Umfang haben. Dieser Umfang des Akts nun, in welchem Mannigfaltiges zusammengesetzt wird und wodurch es möglich wird, wird im Buch [Grundlage] genannt Quantitätsfähigkeit.

Im Bewusstsein dieses Handelns liegt das, wovon übergegangen wird; das, wozu übergegangen wird, und das Handeln selbst. Das Bewusstsein ist kein Akt, es ist ruhend, in ihm ist Mannigfaltigkeit, über welche das Be- wusstsein gleichsam hinüber geführt wird. Im Bewusstsein ist alles zugleich vereinigt und getrennt. Dies be- deutet die Schranken, Teilbarkeit, Quantitätsfähigkeit. [vgl. Grundlage, S. 29, N. 8]

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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 48 



8. Etwas einschränken heißt: die Realität desselben durch Negation nicht gänzlich, sondern nur zum Teil aufheben. Mithin liegt im Begriff der Schranken, außer dem der Realität und der Negation, noch der der Teilbarkeit (der Quantitätsfähigkeit überhaupt, nicht eben eine bestimmtem Quantität). Diese Begriff ist das gesuchte X, und durch die Handlung Y wird demnach schlechthin das Ich sowohl als das Nicht-Ich [als] teilbar gesetzt.
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Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, Hamburg 1979, S. 29


Nota. - Nichts ist "überhaupt" oder an sich gesetzt. Es ist gesetzt von einem für einen an einer Stelle: anders ist gesetzt sein ohne Bedeutung. Wenn also ich mich in mich hinein 'setze', kann ich in mich nicht zugleich ein Nich-Ich setzen, weil es mein Ich aufhöbe. Doch so soll - und muss, wenn ein Bewusstsein zustande kommen soll - es geschehen. Dem setzenden Ich muss also das Vermögen zugeschrieben werden, Entgegengesetzte in sich neben einander zu setzen, ohne dass sie sich aufheben: 'synthetisch'.

Hier wird der substanzielle Unterschied von Fichtes genetischem analytisch-synthetischen Verfahren zur Dog- matik der Hegel'schen Begriffslogik deutlich. Knüpfen wir die Begriffe mit logischer Folgerichtigkeit aneinan- der, dann entsteht ein Widerspruch. Das eine kann nicht bestehen, wenn das andere besteht. Logisch würden sie einander aufheben und es bliebe... nichts übrig. So soll es bei Hegel aber nicht sein. Sie heben einander 'auf' heißt: auf eine höhere Stufe. Es wird etwas Neues daraus von einer Höheren Qualität. Verstehe, wer kann, das ist mystisch, das ist Hokuspokus, das kann man allenfalls glauben; muss man aber nicht.

Die genetische Methode bedient sich nicht vorgegebener Begriffe, sondern bringt tätig Vorstellungen aus einan- der hervor. Ich stelle mir zwei Entgegengetzte vor; ich soll sie mir zugleich und an derselben Stelle vorstellen ('setzen'). Dann muss ich sie mir als bestimmte Mengen vorstellen, die nebeneinander im selben Raum Platz haben. 

Das wäre eine triviale Lösung, blieben sie auf diese Weise in meiner Vorstellung nicht einander immer noch auf engstem Raum entgegen gesetzt! Zur Ruhe können sie so nicht kommen, da muss ich mir eine Energie vorstellen - und dass sie mich zu weiterem Vorstellen antreibt.

Der Unterschied ist: Beim genetischen Verfahren Fichtes bleibt stets das vorstellende Ich tätig; während in der dogmatischen Dialektik das tätige Subjekt in den Begriffen begraben ist.
JE