Montag, 2. Juni 2014

Die intellektuelle Anschauung.


schubalu, pixelio.de 

Dieses dem Philosophen zugemutete Anschauen seiner selbst im Vollziehen des Actes, wodurch ihm das Ich entsteht, nenne ich intellectuelle Anschauung Sie ist das unmittelbare Bewusstseyn, dass ich handle, und was ich handle: sie ist das, wodurch ich etwas weiss, weil ich es tue. Dass ein solches Vermögen der intellectuellen Anschauung gibt, lässt sich nicht durch Begriffe demonstrieren, noch, was es ist, aus Begriffen entwickeln. Jeder muss es unmittelbar in sich selbst finden, oder er wird es nie kennenlernen. Die Forderung, man solle es ihm durch Raisonnement nachweisen, ist noch um vieles wunderbarer, als die Forderung eines Blindgeborenen seyn würde, dass man ihm, ohne dass er zu sehen braucht, erklären muss, was die Farben sind.

Wohl aber lässt sich jedem in seiner von ihm selbst zugestandenen Erfahrung nachweisen, dass diese intellectuelle Anschauung in jedem Moment seines Bewusstseyns vorkommt. Ich kann keinen Schritt tun, weder Hand noch Fuss bewegen, ohne die intellectuelle Anschauung meines Selbstbewusstseyns in diesen Handlungen; nur durch diese Anschauung weiss ich, dass ich es tue, nur durch diese unterscheide ich mein Handeln und in demselben mich, vom vorgefundenen Object des Handelns. Jeder, der sich eine Thätigkeit zuschreibt, beruft sich auf diese Anschauung. In ihr ist die Quelle des Lebens, und ohne sie ist der Tod.

Nun aber kommt diese Anschauung nie allein, als ein vollständiger Act des Bewusstseyn, vor; wie auch die sinnliche Anschauung nicht allein vorkommt, noch das Bewusstseyn vollendet, sondern beide müssen  begriffen werden. / Nicht allein dies aber, sondern die intellectuelle Anschauung ist auch stets mit einer sinnlichen verknüpft. Ich kann mich nicht handelnd finden, ohne ein Object zu finden, auf welches ich handle, in einer sinnlichen Anschauung, welche begriffen wird; ohne ein Bild von dem, was ich hervorbringen will, zu entwerfen, welches gleichfalls begriffen wird. Wie weiss ich denn nun, was ich hervorbringen will, und wie könnte ich das wissen, ausser dass ich mir im Entwerfen des Zweckbegriffs, als einem Handeln, unmittelbar zusehe? - Nur dieser ganze Zustand in Vereinigung des angegebenen Mannigfaltigen vollendet das Bewusstseyn. Nur der Begriffe, des vom Object und des vom Zweck, werde ich mir bewusst; nicht aber der beiden ihnen zugrunde liegenden Anschauungen.
 
Vielleicht ist es nur das, was die Eiferer gegen die intellectuelle Anschauung einschärfen wollen, dass nämlich dieselbe nur in Verbindung mit einer sinnlichen möglich ist; eine Bemerkung, die allerdings von Wichtigkeit ist, und welche durch die Wissenschaftslehre wahrhaftig nicht bestritten wird. Wenn man sich aber dadurch für berechtigt hält, die intellectuelle Anschauung abzuläugnen, so könnte man mit demselben Recht auch die sinnliche abläugnen, denn auch sie ist nur in Verbindung mit der intellectuellen möglich, da alles, was meine Vorstellung werden soll, auf mich bezogen werden muss; das Bewusstseyn (Ich) aber lediglich aus intellectueller Anschauung kommt. (Es ist eine Merkwürdigkeit in der neueren Geschichte der Philosophie, dass man nicht inne geworden ist, dass alles, was gegen die Behauptung einer intellectuellen Anschauung zu sagen ist, auch gegen die Behauptung der sinnlichen Anschauung gilt, und dass dementsprechend die Streiche, die nach dem Gegner getan werden, auf uns selbst mit fallen.)

Aber, wenn zugegeben werden muss, dass es kein unmittelbares, isolirtes Bewusstsein der intellectuellen Anschauung gibt, wie kommt dann der Philosoph zur Kenntniss und zur isolirten Vorstellung derselben? Ich antworte: ohne Zweifel so, wie er zur Kenntniss und zur isolirten Vorstellung der sinnlichen Anschauung kommt, durch einen Schluss aus den offenbaren Ttatsachen des Bewusstseyns. 


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Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, SW I, S. 463f. 


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