Dienstag, 17. Juni 2014

Was an Tiefe verloren sein mag, wurde an Breite mehr als ausgeglichen.


 
Es ist die Bestimmung unseres Geschlechtes, sich zu einem einigen, in allen seinen Theilen durchgängig mit sich selbst bekannten, und allenthalben auf die gleiche Weise ausgebildeten Körper zu vereinigen. Die Natur, und selbst die Leidenschaften und Laster der Menschen haben von Anfang an gegen / dieses Ziel hingetrieben; es ist schon ein grosser Theil des Weges zu ihm zurückgelegt, und es lässt sich sicher darauf rechnen, dass dasselbe, die Bedingung der weiteren gemeinschaftlichen Fortschritte, zu seiner Zeit erreicht seyn werde. 

Befrage man doch die Geschichte nicht, ob die Menschen im Ganzen rein sittlicher geworden! Zu ausgedehnter, umfassender, gewaltiger Willkür sind sie herangewachsen; aber beinahe wurde es nothwendig durch ihre Lage, dass sie diese Willkür fast nur zum Bösen anwendeten. Befrage man sie ebensowenig, ob die auf einige wenige Puncte zusammengedrängte ästhetische Bildung und Verstandes-Cultur der Vorwelt nicht die der neueren Welt dem Grade nach übertroffen haben möchte! Es könnte kommen, dass man eine beschämende Antwort erhielte, und dass in dieser Rücksicht das Menschengeschlecht durch sein Alter nicht vorgerückt, sondern zurückgekommen zu seyn schiene. 

Aber befrage man sie, diese Geschichte, in welchem Zeitpuncte die vorhandene Bildung am weitesten ausgebreitet, und unter die mehrsten Einzelnen vertheilt gewesen; und man wird ohne Zweifel finden, dass vom Anfange der Geschichte an bis auf unsere Tage die wenigen lichten Puncte der Cultur sich von ihrem Mittelpuncte aus erweitert, und einen Einzelnen nach dem anderen, und ein Volk nach dem anderen ergriffen haben, und dass diese weitere Verbreitung der Bildung unter unseren Augen fortdauere.

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Die Bestimmung des Menschen, SW II, S. 270f.


Nota.

Es sei aber nicht verschwiegen, dass in der Sache Fichtes "a priori" entworfene Geschichtsmetaphysik manchen sehr viel moderneren Anschauungen beherzt vorgreift. Manchmal hat man den Eindruck, Karl Marx müsse Fichte aufmerksam studiert haben - was er mit Sicherheit nicht getan hat. Doch manche Themen, die Fichte angerissen hatte, sind anscheinend in der Luft - vielleicht auch nur der Luft der Berliner Universität - hängen-geblieben.
JE




Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE  

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