Dienstag, 10. Juni 2014

Die unvollkommene Darstellung.


Dürer, Kopfmodell

Die Darstellung erkläre ich selbst für höchst unvollkommen und mangelhaft, theils weil sie für meine Zuhörer, wo ich durch den mündlichen Vortrag nachhelfen konnte, in einzelnen Bogen, so wie ich für meine Vorlesungen eines bedurfte, erscheinen musste; theils weil ich eine feste Terminologie – das bequemste Mittel für Buchstäbler, jedes System seines Geistes zu berauben, und es in ein trockenes Geripp zu verwandeln – so viel möglich zu vermeiden suchte. Ich werde dieser Maxime auch bei künftigen Bearbeitungen des Systems, bis zur endlichen vollendeten Darstellung desselben, treu bleiben. Ich will jetzt noch gar nicht zubauen, sondern möchte nur das Publicum veranlassen, mit mir den künftigen Bau zu überschlagen. Man wird aus dem Zusammenhange erklären, und sich erst eine Uebersicht des Ganzen verschaffen müssen, ehe man sich einen einzelnen Satz scharf bestimmt; eine Methode, die freilich den guten Willen voraussetzt, dem Systeme / Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, nicht die Absicht, nur Fehler an ihm zu finden. ...

Besonders halte ich für nöthig zu erinnern, dass ich nicht alles sagen, sondern meinem Leser auch etwas zum Denken überlassen wollte. Es sind mehrere Misverständnisse, die ich sicher voraussehe, und denen ich mit ein paar Worten hätte abhelfen können. Ich habe auch diese paar Worte nicht gesagt, weil ich das Selbstdenken unterstützen möchte. Die Wissenschaftslehre soll sich überhaupt nicht aufdringen, sondern sie soll Bedürfniss seyn, wie sie es ihrem Verfasser war. 

Die künftigen Beurtheiler dieser Schrift ersuche ich auf das Ganze einzugehen, und jeden einzelnen Gedanken aus dem Gesichtspuncte des Ganzen anzusehen. ...
 

Ich kann zu Folge der Erfahrung, dass ich beim dreimaligen Durcharbeiten dieses Systems meine Gedanken über einzelne Sätze desselben jedesmal anders modificirt gefunden, erwarten, dass sie bei fortgesetztem Nachdenken sich immer weiter verändern und bilden werden. Ich werde selbst am sorgfältigsten daran arbeiten, und jede brauchbare Erinnerung; von anderen wird mir willkommen seyn. – 

Ferner, so innig ich überzeugt bin, dass die Grundsätze, auf welchen dieses ganze System ruht, unumstösslich sind, und so stark ich auch hier und da diese Ueberzeugung mit meinem vollen Rechte geäussert habe, so wäre es doch eine mir bis jetzt freilich undenkbare Möglichkeit, dass sie dennoch umgestossen würden. Auch das würde mir willkommen seyn, weil die Wahrheit dadurch gewinnen würde. Man lasse sich nur ein auf dieselben, und versuche es, sie umzustossen. 

Was mein System eigentlich sey, und unter welche Klasse man es bringen könne, ob ächter durchgeführter Kriticismus, wie ich glaube, oder wie man es sonst nennen wolle, thut / nichts zur Sache. Ich zweifle nicht, dass man ihm mancherlei Namen finden, und es mehrerer einander gerade zuwiderlaufenden Ketzereien beschuldigen werde. Dies mag man; nur verweise man mich nicht an alte Widerlegungen, sondern widerlege selbst.   

Jena zur Ostermesse 1796.
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Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, SW Bd. I, S. 87f., S. 89f.

 
Nota. - Zur "endlichen vollendeten Darstellung" seines Systems ist Fichte nicht gekommen. Weil er nicht genügend Zeit hatte? Je mehr Zeit er gefunden hätte, umso klarer hätte ihm werden müssen: Je systematischer sein Denken insgesamt würde, umso unmöglicher würde ihm eine systematische Darstellung.
JE 

 
 

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