Freitag, 20. Februar 2015
Sein wunder Punkt.
So ist die Vernunft selbst bestimmend ihre Tätigkeit; aber eine Tätigkeit bestimmen, oder praktisch sein, ist ganz das- selbe. - In einem gewissen Sinne ist es von jeher der Vernunft zugestanden worden, dass sie praktisch sei; in dem Sinne, dass sie die Mittel für irgend einen außer ihr, etwa durch unser Naturbedürfnis oder unsere freie Willkür, gegebenen Zweck finden müsse. In dieser Bedeutung heißt sie technisch-praktisch. Von uns wird behaup- tet, dass die Vernunft schlechthin aus sich selbst und durch sich selbst einen Zweck aufstelle; und insofern ist sie schlechthin praktisch. Die praktische Dignität der Vernunft ist ihre Absolutheit selbst; / ihre Unbestimmtheit durch irgend etwas außer ihr und vollkommene Bestimmung durch sich selbst.
Wer diese Absolutheit nicht anerkennt - man kann sie nur in sich selbst durch Anschauung finden -, sondern die Vernunft für ein bloßes Räsonnier-Verfahren hält, welchem erst Objekte von außen gegeben werden müss- ten, ehe es sich in Tätigkeit versetzen könne, dem wird es immer unbegreiflich bleiben, wie sie schlechthin praktisch sein könnte, und er wird nie ablassen zu glauben, dass die Bedingungen der Ausführbarkeit des Ge- setzes vorher erkannt sein müssten, ehe das Gesetz angenommen werden könne.
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System der Sittenlehre..., SW Bd. IV, S. 57f.
Nota. - Fichtes dogmatische Wendung beruhte nicht auf einem (theoretischen) Grund, sondern auf einem (praktischen) Motiv. Daran hatte Jacobi appelliert, nachdem er ihm seine philosophischen Gründe konzediert hatte. Den fruchtbaren Boden fand er in Fichtes ambivalenter Vorstellung von der Vernunft - in der ihrerseits zwei widerstreitende praktische Motive wirksam waren: hier das ewig nur sich selbst verantwortliche Ich, da die Unbedingtheit der sittlichen Pflicht.
Und es war anzunehmen, dass sich die Schwierigkeit, diese beiden miteinander zu vereinen, in der Sittenlehre spezifizieren müsste. Das Sittengesetz selber gebietet immer nur konkret: hic et nunc und unmittelbar. Allge- meinplätze alias Gesetze sind ihm völlig fremd, woher hätten sie ihm kommen sollen? - Aber ein Maß soll es ja wohl haben. Hinter ihm kann es keines geben. Also muss es vor ihm liegen. Ein Begriff kann es nicht sein, denn das wäre ein Abstraktum. Es soll aber anschaulich sein, anders wäre es nicht unmittelbar.
Die Lösung liegt "anschaulich"auf der Hand: Das Maß ist nicht logisch, sondern ästhetisch. Wenn das, was ich hier und jetzt tun soll, schlechterdings geschehen soll, dann unterliegt es keinem Anderen, Höheren. Es hat keinen Zweck, es ist sich selber Zweck genug; und so ist nur das Ästhetische.
Das aber war Fichte (noch) nicht genug, als er eine Sittenlehre schrieb (denn dann hätte er sie abgebrochen). Ich meine, früher oder später wäre ihm nichts anderes übriggeblieben - wäre nicht der Atheismusstreit dazwischen- gekommen. Da er einen Schöpfergott verworfen hatte, konnte er sich der Versuchung des Atheismus nur er- wehren, wenn er wenigstens eine göttliche Weltregierung oder doch immerhein den vernünftigen Glauben daran postulierte.
Und da zeitigte nun die Sittenlehre einen bizarrer Einfall. Das Gewissen allein hat ihm als Garant eines sittlichen Lebens dann doch nicht gereicht, er muss ein schwereres Kaliber auffahren. Erst werden die gedachten - nicht die realisierten - Folgen der unendlichen Reihe aller je einzeln gebotenen pflichtgemäßen Taten hochgerechnet zu einem idealen Zustand vollendeter Sittlichkeit. Dann wird die kontingente Summe gesetzt als einiger realer Zweck aller wirklichen sittlichen Handlungen, und schließlich wieder heruntergerechnet auf die einzelnen Handlungen als deren keinem Ich je bekannte Einzelzwecke. Aus einer idealen Reihe wird ein reale, und die Vernunft, die real nur bestand als die vereinigte Vernünftigkeit einer Reihe vernünftiger Wesen, wird plötzlich, indem sie einen identischen Zweck erhält, zu einem eigenen Subjekt, die ihren Zweck so verfolgt, als habe sie ihn immer verfolgt - bevor es die Reihe vernünftiger Wesen überhaupt gab. 'Aus unbewusst wird bewusst', könnte ein Spötter sagen; Hokuspokus, sagt der gesunde Menschenverstand.
Es ist nicht anzunehmen, dass ein scharfer Denker wie F. sich einen solchen Taschenspielertrick hätte durch- gehen lassen, wenn die Motive nicht so unvergleichlich stärker gewesen wären als die Gründe. Die Sittenlehre war schon im Handel, als Friedrich Carl Forberg ihm seinen berüchtigten Aufsatz für das Philosophische Journal zukommen ließ, in dem er, von Hans Vaihinger später hochgelobt, die Religion als eine nützliche Veranstaltung zwecks Moralisierung der ungebildeten Masse darstellte. Als eine Art Disclaimer stellte ihm Fichte seinen Auf- satz Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung zur Seite, wo er die Notwendigkeit nicht eines Glaubens an einen persönlichen Gott, sondern eben: des Glaubens an eine göttliche Weltregierung darlegt; aber wohlbemerkt nicht: deren Realität.
War das atheistisch? Ein frommer Mann würde sagen, ja. Ein Atheist würde sagen, nicht wirklich. Auf jeden Fall zwang der Atheismusstreit Fichte, sich endlich für eine seiner beiden Lesarten der Vernunft zu entscheiden. Er wählte, um nicht als Atheist dazustehen, die dogmatische.
JE
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