Sonntag, 14. April 2019

Transzendentale Deduktion des Nervensystems.



Die Modifikation des Organs für die Einwirkung durch Freiheit soll auf das für die Einwirkung durch Zwang gar keinen Einfluss haben, soll dasselbe ganz und völlig frei lassen. Demnach muss die feinere Materie nur auf das erstere Organ, auf das letztere [aber] gar nicht einfließen, dasselbe nicht hemmen und binden können: Es muss daher sein eine solche Materie, deren Bestandteile gar keinen dem niederen , d. h. gezwungenen Sinne bemerkbaren Zusammenhang haben. 

Ich eigne in dem beschriebenem Zustande mir das Vermögen zu, auf diese subtilere Materie zurückzuwirken durch den bloßen Willen, vermittelst einer Affektien des höhere Organs durch das niedere; denn es ist aus- drücklich gesagt worden, dass ich eine solche Bewegung des niederen Organs zurückhalten müsse, um die im höheren hervorgebrachte Bestimmung nicht zu zerstören: mithin auch der unmittelbar damit in Verbindung sehenden subtileren Materie eine ander Bestimmung zu geben. Die subtilere Materie ist also für mich modifikabel durch den bloßen Willen.
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Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre,
SW Bd. III, S. 70
 



Nota. - Verwirrend bleibt, dass er das jeweilige - höhere und niedere - Organ nochmal unterscheidet von seiner je gröberen oder feineren Materie. Es ist die Unterscheidung zwischen der jeweiligen organischen Zusammen- setzung und der Funktion des Organs im Lebensprozess.

Ja, er hat die Existenz eines 'höheren' Nervensystems in einem 'niederen' fleischlichen Leib transzendental de- duziert. Da eine Funktion in der Erfahrung gegeben ist, darf auf die Gegebenheit eines dafür erforderlichen Organs rückgeschlossen werden. Und gibt es zwei Funktionen, dann gibt es zwei Organe.

Wie die Umsetzung geistiger Willensakte in muskuläre Bewegung im Einzelnen vor sich geht, ist nicht Thema der Philosophie, sondern der empirischen Forschung, und bildet die unüberwindliche Scheidelinie zwischen beiden. F. hatte sich an der Stelle - und würde sich noch heute - zurückhalten müssen, denn die Wissenschaft seiner Zeit war noch ganz in Spekulationen verstrickt, vorangetrieben und zugleich kompromittiert durch den "Geisterseher" Emanuel Swedenborg.

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Auch ohne dies bleibt die Frage, welchem Erkenntniszweck diese Erörterungen dienen. Der Rechtsbegriff ist aufgestellt und seine Implikation im Begriff der Vernunft nachgewiesen. Seine ferneren Bestimmungen wären Sache der Politik, deren Begriff ihrerseits erst unter den Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft umfassend bestimmt werden konnte. Von dieser Voraussetzung konnte F. aber nicht wohl ausgehen. Will er dem fakti- schen Mangel theoretisch abhelfen durch Strecken des philosophischen Radius?


Berichtigung

Ich hab ihn falsch verstanden. Ich war so früh von der Idee eingenommen, er wolle zu der zeitgenössichen Spekulation über tierischen Galvanismus beitragen - Johann Wilhelm Ritter war eben in Jena eingetroffen -, dass mich seine weiteren Ausführungen nicht wieder davon abbringen konnten. Ersteres ist allein mein Fehler, aber zu letzterem hat er sein' Teil beigetragen. Seine Rede ist so vertrackt und abstrakt, dass man wirklich nicht weiß, was man sich unter den verwendeten Begriffen vorstellen soll. Dass er mit der 'subtileren und feineren Ma- terie' nur das Nervesystem meinen konnte, schien mir so nahliegend, dass ich die Andeutungen auf "Luft und Licht" übersehen habe - in der Annahme, er räsonniere noch im Leib, statt zwischen zwei Leibern.

Dass er 'Luft und Licht apriori deduziert' hätte, hat damals manche Feder zum Kratzen gebracht; Luft und Licht lägen doch im Reich des Erfahrung und seien folglich aposteriori! (Selbst Kant hat auf den letzten Seiten des Opus postumum - kurz bevor er für ihn den Titel Philosophie als Wissenschaftslehre in einem vollständigen System auf- gestellt in Erwägung zog - sich über das Sujet den Kopf zerbrochen.) Fichte ist spottend darauf eingegangen* und fragt: Kann denn etwas apriori sein, ohne zuvor aposteriori gewesen zu sein? Im System der Wissenschafts- lehre natürlich nicht. Aber was dort spottend vorgetragen wurde, war hier im Naturrecht ganz bierernst gemeint; nicht als ein philosophischer Witz, wie er ja nach Fichtes Geschmack gewesen wäre. 

Ernst ist das wirklich, denn der Aufschrei der Kritiker war weniger falsch, als F. meinte. Zwar sind Apriori und Aposteriori nicht zwei verschiedene Weltgegenden und was in der einen läge, könnte nicht in der andern liegen. Aber Fichte befindet sich an dieser Stelle bereits in einem Bereich, wo Erfahrung möglich ist, zu transzendentalen Reflexionen ist gar kein Anlass. Warum also tut er so, als ob er selber 'Licht und Luft' - auf jeden Fall ein Medium  - ins Spiel bringen musste? Nicht die 'subtilere und feinere Materie' war da, bevor er sie als Licht und Luft iden- tifizieren konnte, sondern Licht und Luft waren da, bevor er daraus einen Begriff von subtilerer und feinerer Materie abstrahieren konnte; aber mitnichten musste. Wenn er nicht absichtlich die Grenze zwischen Transzen- dentalphilosophie und realer Wissenschaft verwischen wollte, so hat er sie zum Mindesten hier aus dem Auge verloren. 
 *) Annalen des philosophischen Tons, SW II, S. 472ff.) 
JE




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