Dienstag, 14. August 2018

Beginnt die Wissenschaftslehre analytisch?

birgitH, pixelio.de

Ehe wir unseren Weg antreten, eine kurze Reflexion über denselben! – Wir haben nun drei logische Grundsätze; den der Identität, welcher alle übrigen begründet; und dann die beiden, welche sich selbst gegenseitig in jenem be- gründen, den des Gegensetzens, und den des Grundes aufgestellt. Die beiden letzteren machen das synthetische Ver- fahren überhaupt erst möglich; stellen auf und begründen die Form desselben. Wir bedürfen demnach, um der formalen Gültigkeit unseres Verfahrens in der Reflexion sicher zu seyn, nichts weiter. – Ebenso ist in der ersten synthetischen Handlung, der Grundsynthesis (der des Ich und Nicht-Ich), ein Gehalt für alle mögliche künftige Synthesen aufgestellt, und wir bedürfen auch von dieser Seite nichts weiter. Aus jener Grundsynthesis muss alles sich entwickeln lassen, was in das Gebiet der Wissenschaftslehre gehören soll.

Soll sich aber etwas aus ihr entwickeln lassen, so müssen in den durch sie vereinigten Begriffen noch andere ent-halten liegen, die bis jetzt nicht aufgestellt sind; und unsere Aufgabe ist die, sie zu finden. Dabei verfahrt [sic] man nun auf folgende Art. – Nach § 3. entstehen alle synthetische Begriffe durch Vereinigung entgegengesetzter. Man müsste demnach zuvörderst solche entgegengesetzte Merkmale der aufgestellten Begriffe (hier des Ich und des Nicht-Ich, insofern sie als sich gegenseitig bestimmend gesetzt sind) aufsuchen; und dies geschieht durch Refle- xion, die eine willkürliche Handlung unseres Geistes ist. –

Aufsuchen, sagte ich; es wird demnach vorausgesetzt, dass sie schon vorhanden sind, und nicht etwa  / durch un- sere Reflexion erst gemacht und erkünstelt werden (welches überhaupt die Reflexion gar nicht vermag), d.h. es wird eine ursprünglich nothwendige antithetische Handlung des Ich vorausgesetzt. 

Die Reflexion hat diese antithetische Handlung aufzustellen: und sie ist insofern zuvörderst analytisch. Nemlich entgegengesetzte Merkmale, die in einem bestimmten Begriffe = A enthalten sind, als entgegengesetzt durch Re- flexion zum deutlichen Bewusstseyn erheben, heisst: den Begriff A analysiren.
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Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, SW Bd. I, S. 123f. 



Nota. - Hier in der Grundlage operiert Fichte noch unbefangen mit Begriffen. Dass er sie zuvor aus der tätigen Vor- stellung hätte herleiten müssen, ist ihm erst nachträglich klargeworden, und er hat sich an den Vortrag der Nova methodo gemacht. - Hier also geht er noch umgekehrt vor. Er beginnt bei Begriffen und zerlegt sie in ihre Bedin- gungen. Es ist das dialektische Verfahren a tergo. Es nimmt die Synthesis als gegeben und analysiert die Gegensät- ze, aus denen sie entstanden ist. Dass aber einer sie einander entgegen gesetzt haben muss, kommt so nur mühsam in den Blick. 

Der Grund ist der: Er trägt schon das System vor, von dem er sich ein vorläufiges Bild gemacht hat; nämlich als ein Gegebenes. In Nova methodo dagegen entwirft er dieses Bild Schritt für Schritt vor unseren Augen, und es wird deutlich, dass es nicht nur ein vorläufiges, vorschwebendes, sondern vor allen ein noch zu machendes ist. Er be- ginnt nicht bei Bestimmtem, sondern beginnt zu bestimmen. Das heißt, synthetisch.

Der dialektische Witz dabei ist, dass die Transzendentalphilosophie alias Vernunftkritik historisch ja wirklich beim gegebenen System der Begriffe begonnen hat und anderswo gar nicht beginnen konnte. Aber die analy- tische Reduktion des wirklichen Wissens auf seine erste, letzte Bedingung, von der allein nicht mehr abgesehen kann - das transzendentale Ich - ist nur eine plausible Hypothese. Die Probe auf Exempel wäre erst, wenn sich aus dieser einen, einzigen Bedingung das System unseres Wissens wirklich rekonstruieren lässt. Und das unter- nimmt Nova Methodo.
JE

 


 

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