Montag, 27. August 2018

Die ästhetische Ansicht ist der Angelpunkt.


Ich mache mich deutlicher. Auf dem transzendentalen / Gesichtspunkt wird die Welt gemacht, auf dem gemei- nen ist sie gegeben: auf dem ästhetischen ist sie gegeben, aber nur nach der Ansicht, wie sie gemacht ist. Die Welt, die wirkliche Welt, die Natur, denn nur von ihr rede ich, - hat zwei Seiten: sie ist [1.] Produkt unserer Be- schränkung; sie ist [2.] Produkt unseres freien, es versteht sich, idealen Handelns (nicht etwa unserer reellen Wirksamkeit). In der ersten Ansicht ist sie selbst allenthalben beschränkt, in der letzten selbst allenthalben frei. Die erste Ansicht ist gemein, die zweite ästhetisch. ... 

Wer der ersten Ansicht nachgeht, der sieht nur verzerrte, gepreßte, ängstliche Formen; er sieht die Häßlichkeit; wer der letzten nachgeht, der sieht kräftige Fülle der Natur, er sieht Leben und Aufstreben; er sieht die Schön- heit. So bei dem Höchsten. Das Sittengesetz gebietet absolut, und drückt alle Naturneigung nieder. Wer es so sieht, verhält sich zu ihm als Sklav. Aber es ist zugleich das Ich selbst; es kommt aus der inneren Tiefe unseres eigenen Wesens, und wenn wir ihm gehorchen, gehorchen wir nur uns selbst. Wer es so ansieht, sieht es ästhe- tisch an. 

Der schöne Geist sieht alles von der schönen Seite; er sieht alles frei und lebendig. ...  Wo ist die Welt des schö- nen Geistes? Innerlich in der Menschheit, und sonst nirgends. Also: die schöne Kunst führt den Menschen in sich selbst hinein, und macht ihn da einheimisch. Sie reißt ihn los von der gegebenen Natur, und stellt ihn selbständig und für sich allein hin. ... 

Ästhetischer Sinn ist nicht Tugend: denn das Sittengesetz fordert Selbständigkeit nach Begriffen, der erstere aber kommt ohne alle Begriffe von selbst. Aber er ist Vorbereitung zur Tugend, er bereitet ihr den Boden, und wenn die Moralität / eintritt, so findet sie die halbe Arbeit, die Befreiung aus den Banden der Sinnlichkeit, schon voll- endet. Ästhetische Bildung hat sonach eine höchst wirksame Beziehung auf die Beförderung des Vernunftzwecks.
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Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre, SW Bd. IV, S. 353ff.


Nota. - Wir haben eine Welt nur als Vorstellung; aber die haben wir gemacht: Das ist der Standpunkt der philoso- phischen Reflexion. Fürs bürgerliche Leben dagegen sind Welt und Vorstellung gleichermaßen gegeben. Das ist eine geschäftige, prosaische und enge Welt. Sie ist hässlich. 

Das Sittengesetz gebietet absolut. Aber es lautet in seiner schlichtesten Form: Handle nach eigenem Urteil. For- mal drückt es nieder, material lehrt es uns, auf eigenen Füßen zu stehen. "Wenn wir ihm gehorchen, gehorchen wir nur uns selbst." 

Wer vom Standpunkt der philosophischen Reflexion ins wirkliche Leben zurückkehrt, mag die transzendentale Ansicht beigehalten: Sie wird ihm zur ästhetischen. Auf der andern Seite bildet die ästhetische Ansicht den Über- gang vom gewöhnlichen Standpunkt zum transzendentalen, und ohne ihn wäre die kritische und Transzendental- philosophie gar nicht möglich geworden.

Ästhetischer Sinn sei nicht Tugend, sagt er des öftern: Das Sittengesetz fordere Selbstständigkeit nach Begriffen. Nach Zweck begriffen, setze man erläuternd hinzu: Nach einem Urteil um/zu, und da das Sittengesetz immer mo- mentan und unmittelbar gebietet, nach einem Urteil ad hoc. Urteile ad hoc sind die ästhetischen Urteile auch. Nach Begriffen werden sie nicht gefällt, sondern aus bloßer Anschauung. Doch auch so, als wären sie mir absolut gebo- ten, einen Raum zum Deliberieren habe ich nicht.

Er hätte gut daran getan, das Sittengesetz und den ästhetischen Sinn phänomenal in einem Komplex zusammen- zufassen. Sein abtrünniger Schüler Herbart hat diesen Schritt konsquenter Weise getan und das Ethische als Schön- heit im Reich der Willensakte dem Ästhetischen als dessen Teilbereich untergeordnet. Ethische Urteile haben streng genommen ebenso wie ästhetische Urteile keinen Gegenstand; ihr Zweck ist nämlich nicht, dieses oder jenes so oder anders zu bestimmen. Sondern eine eingetretene Bestimmung meines Zustands zu bestätigen oder zu verwerfen.

Und dies nun macht die gemeinsame Besonderheit des ethischen und ästhetichen Urteils aus: Es geschieht nicht stückweise, 'quantifizierend', synthetisch a posteriori, sondern ganz und auf einmal: synthetisch a priori.  

"Erfassen" ließe sich mein ganzer Zustand nur, soweit er von einem Teilstück zum andern übergehe und sie nach einander verknüpft. "Wenn unser Zustand auf einmal aufgefasst würde, so würde nicht übergegangen, und so würde nichts Ganzes aufgefasst. Was ist nun das Ganze dieses Zustandes? Nach dem soeben Gesagten ist es Synthesis des Wollens und des Seins, Beziehung beider auf einander, welches beide nicht zu trennen ist." Nova methodo, S. 155

Der springende Punkt: Ästhetische wie ethische Urteile werden nicht gefasst, aufgefasst die das Vernunfturteil nach Deliberation, nicht bestimmt durch 'mein Ich', sondern angeschaut als ein Zustand, in dem ich bin. Es tritt zwischen Wollen und Sein eine Scheidung gar nicht erst ein. Und wenn ich zu einem Verstandesurteil komme, dann immer erst hinterher.
JE



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